Frau Makatsch, in „Where’s Wanda“ verwanzt Ihre Carlotta die halbe Stadt und dringt tief ins Privatleben Unbeteiligter ein. Heiligt der Zweck, die vermisste Tochter finden zu wollen, aus Ihrer Sicht die Mittel?

Das muss natürlich jeder für sich entscheiden. Ich kann jedoch verstehen, dass Familie Klatt sich an jeden Strohhalm klammert – angesichts der Notsituation, dass die eigene Tochter verschwunden ist und die Polizei die Suche nach ihr aufgegeben hat. Auch, wenn es am Ende reiner Aktionismus ist, um irgendwie nicht die Hoffnung zu verlieren. Deshalb kann ich es menschlich gut nachvollziehen. Ist für Sie da die rote Linie schon überschritten?

Absolut. Zumal es die aktuell sehr hitzig geführte Diskussion berührt, wie viel unserer Privatsphäre wir für vermeintliche oder tatsächliche Sicherheit zu opfern bereit sind.

Ich denke, dass kann man schwer vergleichen. Im Fall der Familie Klatt kommt ja dazu, dass die Beobachteten ihre Privatsphäre nicht freiwillig opfern und zu keiner Zeit das Gegenteil suggeriert wird. Die Überwachung wird stets als illegal und noch nicht einmal als zielführend dargestellt. Von daher hinkt der Überwachungsstaatenvergleich. Mir persönlich ist jedenfalls gesellschaftspolitisch sicher nicht jedes Mittel recht, um vermeintliche Sicherheit zu erlangen. Denn daraus entwickelt die Gesellschaft eine Atmosphäre des Misstrauens, der Unfreiheit, also dem genauen Gegenteil von Sicherheit.

Entsteht dieses Verständnis für Carlottas Situation auch aus der Perspektive einer Mutter mit drei eigenen Töchtern?

Ich schaue auf jede meiner Rollen nicht nur als Schauspielerin, sondern als Mensch mit einer gewissen Erfahrung, der zum Verständnis all seiner Figuren in die eigenen Ängste, Trigger, Abgründe schaut, um sie daraus zu speisen. Insofern blicke ich nicht nur theoretisch auf Carlottas Situation bei „Where’s Wanda“, sondern auch ganz praktisch und emotional, als Heike.

Glauben Sie, dass die Verantwortlichen mit der Serie ein Statement für oder gegen diese Überwachung abliefern, oder bleibt sie am Ende reines Entertainment?

Ich kann für die Verantwortlichen der Serie nicht sprechen, aber uns allen gemeinsam war wichtig, verzweifelte Menschen in der bizarren Extremsituation zu beobachten, die ebenso planlos wie akribisch der Idee nachgehen, ihre Tochter wiederzufinden. Und ohne jetzt spoilern zu wollen: richtig viel trägt die Überwachung am Ende zur Auflösung gar nicht bei. Die Moral von der Geschicht‘ ist also definitiv nicht, dass uns weniger passiert und wir endlich in Sicherheit leben, wenn wir alle verwanzt werden.

Aber Sie suchen offenbar schon die Moral von der Geschicht‘?

Klar mache ich mir Gedanken darüber, was erzählt wird. Natürlich ist auch in einer Serie letztlich alles politisch und transportiert dabei vielleicht keine Message, trägt aber irgendwie bei zum gesellschaftlichen Klima und deren Sichtweisen.

Oder kommentiert beides unterschwellig.

Zum Beispiel. Von daher achte ich schon darauf, was meine Geschichten erzählen – in diesem Fall übrigens weniger von Überwachung, als von dem System Familie und wie es durch Einflüsse von außen und innere Verlustängste aus den Fugen geraten kann, wie eigentlich sehr konventionelle Persönlichkeiten plötzlich Lügner oder Kontrollfreaks werden und ihr zweites Kind vernachlässigen, um das erste zurückzugewinnen.

Und die Moral von der Geschicht‘ ist nun?

Dass Familienzusammenhalt am Schluss stärker ist und niemand ein schlechter Mensch, nur weil er oder sie dunkle Geheimnisse hat. Was ich an dieser Serie so sehr mag, ist dass sie darüber nicht urteilt und anerkennt, dass wir alle so gut es uns gelingt mit dem Leben ringen. Manchmal geht dann eben auch etwas schief.

War das der Grund, warum Sie die Serie gemacht haben?

Darum und wegen ihrer Vielschichtigkeit, der Spannung, dem Genremix, meiner Figur darin. Und ganz wichtig: dass bei allem Slapstick das Drama nie aus dem Fokus gerät. Für mich ist das Unterhaltung auf höchstem Level mit Liebe zu Figuren, die nicht perfekt sein müssen.

Und das in Ihrer ersten Arbeit für einen Streamingdienst.

Es ist zumindest die bislang größte für einen Streamer.

Wenn Sie es mit Serien für andere Plattformen vergleichen – bei RTL+ zuletzt „Herzogpark“ oder für die ARD „Zero“: Arbeiten reine Streamer wie Apple TV+ anders als private oder öffentlich-rechtliche Sender?

Der Unterschied zwischen Serie und 90-Minüter besteht erst einmal darin, dass der erzählerische Bogen ein sehr viel größerer ist. Aber spielst du mit deinem Kollegen erst einmal deine Szene, ist es am Ende des Tages überall gleich – egal, ob Streamer, Sender, Serie, Film. Natürlich kommt es auch auf die Zahl der Drehtage im Rahmen des Budgets an oder wie preisgekrönt Kollegen, Regie, Autoren sind. Aber man will überall gleichermaßen die Wahrhaftigkeit der Essenz, die du aus deiner Figur gewonnen hast, einfließen lassen.

Mit dieser hier waren jetzt Ihre letzten fünf, sechs Produktionen keine linearen mehr, sondern allesamt digitale, und den Freiburger „Tatort“ haben Sie auch beendet…

Na ja, den hat der Freiburger „Tatort“ beendet…

Aber täuscht der Eindruck, Sie verlassen grad das sinkende Schiff öffentlich-rechtlicher Rundfunk?

Ich würd’s gerne so sehen (lacht). Aber das klänge, als könnte ich ständig die Drehbücher toller Projekte in die Ecke pfeffern, weil mir der Kanal nicht passt. Wo etwas läuft, ist für mich daher zunächst mal kein Entscheidungskriterium. Obwohl ich die Königsdisziplin Kino zugegeben immer noch am meisten liebe, ist für mich am wichtigsten, ob die Geschichte gut ist und zu mir passt. Als ich dort letztens für Bibi Blocksberg die böse Hexe gespielt habe, kam daher alles zusammen.

Was abermals zeigt, dass Ihr Repertoire für eine Quereinsteigerin erstaunlich breit ist…

Quereinsteigerin? Nach 30 Jahren? Quereinsteigerin von wo?!

Keine Sorge, ich komme nicht auf Viva zu sprechen. Aber gelernt haben Sie den Schauspielberuf nicht!

Der aber ja ein kreativer ist. Meine Ausbildung habe ich durch viel Erfahrung erlangt.

Gibt es da eine, die Ihnen noch fehlt, wo Sie mittlerweile bereits böse Hexen spielen?

Eine Erfahrung? Bestimmt. Und ich bin gespannt, was da noch alles kommt.

Sonst haben Sie keine Agenda?

Nur die, mit dem übereinzustimmen, was ich drehe. Ich habe einen starken inneren Kompass.