Herr Käßbohrer, Herr Murmann, es gibt nur drei deutsche Produktionsfirmen, die bisher Serien für sämtliche der drei größten Streaming-Plattformen – Netflix, Prime Video, Disney+ – gedreht haben: UFA, Constantin Film und jetzt die btf. Haben Sie mit dem Triple ein strategisches Ziel abgehakt?
Philipp Käßbohrer: Es macht uns natürlich stolz, dass in der Aufzählung nun auch eine unabhängige Firma dabei ist. Als inhabergeführtes Unternehmen, das über die letzten Jahre stark gewachsen ist, gibt es uns größere Sicherheit, nicht nur von einer Partnerschaft abhängig zu sein. Wir haben mit all diesen Firmen inzwischen enge Beziehungen aufgebaut und es macht großen Spaß, mit deren tollen Teams zusammenzuarbeiten. Das ist uns viel wichtiger als das Abhaken der Bucketlist.
Matthias Murmann: Das mag bei den großen Produktionskonzernen anders laufen. Unser Fokus liegt auf der starken Identifikation mit den Geschichten, die wir erzählen. Wir achten darauf, dass alles, was aus unserem Hause kommt, einen bestimmten Stil hat. Und wir freuen uns, dass das auch gefragt zu sein scheint.
Ihnen ist es gelungen, innerhalb von neun Monaten aus einem Netflix Original ein Disney+ Original zu machen. Ihre Serie "Pauline" wurde von Netflix im Mai 2022 wenige Wochen vor dem geplanten Drehstart abgebrochen. Stattdessen haben Sie ab Februar 2023 im Auftrag von Disney gedreht. Was ist dazwischen passiert?
Käßbohrer: Wir haben die Zeit genutzt, um das eine oder andere nochmal in Ruhe zu überlegen. Durch den neuen Zeitrahmen haben sich außerdem ein paar Positionen im Team und in der Besetzung geändert. Arabella Bartsch ist als Regisseurin hinzugekommen und Andrea Sawatzki hat die Serie enorm bereichert. Wahrscheinlich hat das Projekt von diesen zusätzlichen neun Monaten sogar profitiert.
Murmann: Worüber wir mit Disney in dieser Zeit intensiv gesprochen haben, ist die Erzählwelt von "Pauline". Wenn es um Worldbuilding geht, gibt es bei Disney natürlich eine unheimliche Expertise: Storyworlds zu schaffen, die in sich kohärent sind und aus denen heraus man Franchises bauen kann. Dazu zählt auch der Prozess der visuellen Gestaltung, bei dem Disney uns stark herausgefordert hat.
Käßbohrer: Dennoch betrachten wir das Projekt "Pauline" nicht in zwei getrennten Abschnitten. Wir haben vor längerer Zeit angefangen, diesen Stoff zu entwickeln – jetzt ist die Serie fertig. Und alles, was dazwischen passiert ist, war Teil dieser Entwicklung.
Organisatorisch, finanziell und rechtlich ist ein solcher Übergang von einem Auftraggeber zum nächsten allerdings keine Kleinigkeit.
Käßbohrer: Niemand wünscht sich einen kurzfristigen Produktionsabbruch. Aber was wir erlebt haben, war eine total konstruktive Offenheit und Transparenz von allen Seiten. Die Prozesse bei Netflix sind absolut fair und partnerschaftlich verlaufen. Mit Disney waren wir schon länger im Austausch über die Möglichkeit in Zukunft zusammenzuarbeiten. Insofern war es dann eine naheliegende Idee, "Pauline" zu Disney zu bringen.
Eine Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, die stark ins Übernatürliche hineinragt, wäre im US-Markt viel erwartbarer.
Matthias Murmann, btf-Geschäftsführer
Vom Streamer-Wechsel mal abgesehen: Was ist für Sie das Besondere an "Pauline"?
Murmann: Aus einer deutschen Perspektive war es von Anfang an ein ungewöhnlicher Stoff – das hat unsere Ambition geweckt. Eine Coming-of-Age-Geschichte zu erzählen, die stark ins Übernatürliche, ins Fantasy- und Mystery-Genre hineinragt, wäre im US-Markt viel erwartbarer. Solche Elemente sind eine wunderbare Metapher, um die Herausforderungen des Erwachsenwerdens zu verhandeln.
Käßbohrer: Und selbst in den USA haben diese Geschichten nur selten eine weibliche Hauptfigur. Bei "Pauline" kommt ja noch die ungewollte Schwangerschaft hinzu – und damit die Frage, wer sich als moralische Unterstützung, als Ansprechpartnerin in der Not erweist und wer als Gegner, der einem das Leben noch schwerer macht. Da finden sich viele teuflische Metaphern auf unsere Gesellschaft. Außerdem lieben wir das Spiel mit Popkultur und Verschwörunsmythen. Auch dafür bietet der Stoff jede Menge Raum.
Auch noch im Sommer startet "Perfekt verpasst", Ihre Serie mit Anke Engelke und Bastian Pastewka, bei Prime Video. Gehen wir recht in der Annahme, dass Sie hier die Star-Konstellation noch vor der Stoffidee gereizt hat?
Weitgehend abgedreht ist die vierte Staffel von "How to Sell Drugs Online (Fast)" – die bislang einzige deutsche Netflix-Serie mit einer vierten Staffel. Hatten Sie nicht eigentlich schon 2021 mit dem Format abgeschlossen?
Murmann: Wir hatten zumindest ein tolles Ende... (lacht)
Käßbohrer: Ich gestehe, ich wollte immer schon eine vierte Staffel machen. Und ich finde, es war genau richtig, so lange zu warten. Dieses Gefühl des Nachhausekommens, das alle Beteiligten bei den Dreharbeiten hatten, schlägt sich im Material nieder, das wir gerade schneiden. Und es wird sich hoffentlich auch aufs Publikum übertragen.
Das ist Geschäftsberichts-Deutsch für: Wir hatten plötzlich Zeit und große Lust zusammen etwas zu machen.
Philipp Käßbohrer, btf-Geschäftsführer
Die Beauftragung durch Netflix stand unmittelbar im Zusammenhang mit dem Abbruch von "Pauline". Im btf-Geschäftsbericht für 2022 heißt es, die Abwicklung habe den "Weg vorzeitig für die Entwicklung einer weiteren Staffel [...] geebnet".
Käßbohrer: Das ist Geschäftsberichts-Deutsch für: Wir hatten plötzlich Zeit und große Lust zusammen etwas zu machen.
Murmann: Uns war wichtig, Netflix zu zeigen: Wir wollen trotzdem weiter partnerschaftlich mit euch zusammenarbeiten. Und umgekehrt verhielt es sich genauso. Ist ja auch irgendwie naheliegend, so eine starke IP fortzusetzen.
Seit 2018 produzieren Sie Streaming-Serien, haben Höhen und Tiefen der Plattformen hautnah miterlebt. Trauen Sie sich inzwischen zu, deren Strategien und Programmbedarfe zu durchschauen?
Murmann: Von außen betrachtet, stehen die Streamer an unterschiedlichen Wegmarken ihrer Präsenz im deutschen Markt und ziehen daraus auch entsprechend unterschiedliche Schlüsse. Netflix hat sicher die weiteste Kurve durchgemacht und ist heute bei einem klaren "local for local"-Bekenntnis angekommen. Das ist schon ein anderer Fokus als zu Beginn der Zusammenarbeit vor sieben Jahren.
Käßbohrer: Aber das gilt nicht nur für Netflix. Alle Sender befinden sich gerade in einem umfassenden Veränderungsprozess, weil sich das Rezeptionsverhalten des Publikums so rasant ändert. Wir blicken inzwischen weniger auf die jeweilige Gesamtstrategie, sondern versuchen von Projekt zu Projekt eigene Verabredungen zu finden. Das Publikum von "Pauline" unterscheidet sich ja auch sehr von dem von "Perfekt verpasst".
Murmann: Und das Schöne ist doch: Keiner hat ein Erfolgsrezept, keiner hat "Squid Game" oder "Baby Reindeer" kommen sehen. Allen Daten zum Trotz gibt es in unserer Branche immer noch das Chaos. Das kommt uns sehr entgegen.
Leider gehen oft bis zur Hälfte der NRW-Fördermittel nach Berlin oder an Firmen, deren Anteile von Fernsehsendern oder amerikanischen Investmentfonds gehalten werden.
Matthias Murmann, btf-Geschäftsführer
Wie balancieren Sie Ihr Portfolio künftig aus? Mit den großen Serien erwirtschaften Sie deutlich höhere Umsätze als mit den TV-Shows, dafür sind die Streaming-Aufträge volatiler.
Murmann: Wir sind unserer Liebe zur Show-Welt immer treu geblieben und dieser Bereich ist heute vom Umsatz her größer denn je. Das Mindset unserer wöchentlichen Shows ist wahnsinnig wichtig für uns. Zum einen sind wir Teil aktueller Debatten und Themen und zum anderen lieben wir es den Muskel dieser Produktionsform immer weiter zu trainieren: Wie produziert man schnell etwas Cooles, ohne dass gleich die ganze Straße abgesperrt, riesige Stäbe engagiert und Millionen-Budgets bewegt werden müssen?
Käßbohrer: Das Wichtigste an einem Projekt ist für uns nicht der Umsatz, sondern die Risikobereitschaft aller Beteiligten. Nur dann kann etwas entstehen, das interessant oder außergewöhnlich ist. Wir haben in den letzten Jahren davon profitiert, dass auch im High-Budget-Segment extrem viel Mut und Risikobereitschaft vorhanden waren. Sollten wir merken, dass die Risikobereitschaft in den High-Budget-Produktionen nachlässt, würden wir eher versuchen, mit weniger Geld weiterhin außergewöhnliche Sachen zu machen.
Während Ihre Serien für die Streamer allesamt Auftragsproduktionen sind, realisieren Sie mit der High-End-Dokuserie "FC Hollywood" über die wechselhafte Geschichte des FC Bayern München in den 90er Jahren gerade Ihre erste große Koproduktion – in Deutschland fürs ZDF, gefördert mit 350.000 Euro aus dem German Motion Picture Fund und 300.000 Euro von der Film- und Medienstiftung NRW. Wollen Sie künftig mehr koproduzieren?
Murmann: Für die btf als Unternehmen weisen die Erfahrungen der letzten Jahre – auch das Skill- und Qualitätslevel, das wir entwickelt haben – ganz klar in diese Richtung. Wir haben eine Größe erreicht, wo es wichtig ist, dass wir diversifizieren – nicht nur nach Genres, sondern auch nach Produktionsmodellen – und langfristig einen eigenen Rechtekatalog aufbauen. Das Auftragsproduktionsgeschäft wird immer wichtig bleiben, um spezielle Ziele von Sendern und Streamern zu erfüllen. Gleichzeitig pushen wir mit "FC Hollywood" und weiteren Projekten massiv das Thema Koproduktion. Wir merken deutlich, dass die Verwerter immer offener für solche Modelle werden. Das sehen wir als große Chance. In diesem Zusammenhang ist ein zuverlässiges, wirtschaftsstandortorientiertes Fördersystem natürlich sehr wichtig, um einen gesunden Mittelstand in der Film- und Medienproduktionslandschaft zu gewährleisten. Leider gehen oft bis zur Hälfte der NRW-Fördermittel nach Berlin oder an Firmen, deren Anteile von Fernsehsendern oder amerikanischen Investmentfonds gehalten werden. Wir hoffen natürlich sehr, dass sich im Rahmen des neuen Filmfördergesetzes hier etwas tut, sodass Köln auch langfristig der richtige Standort für uns bleibt.
Herr Käßbohrer, Herr Murmann, herzlichen Dank für das Gespräch.
"Pauline", ab sofort bei Disney+