Zum letzten Mal findet in diesen Tagen im südfranzösischen Cannes die MIPTV statt: Nach 61 Jahren endet die Frühjahrs-Ausgabe der Fernsehmesse. Auch wenn das parallel abgehaltene Festival Canneseries einen anderen Eindruck vermittelt: Im Mittelpunkt der Frühjahrmesse steht auch zum Abschied das Dokumentarische sowie internationale Formatgeschäft. Letzteres wird dabei einmal mehr dominiert von Reality-TV, das jedoch - spürbar beeinflusst vom internationalen Erfolg von "The Traitors" ("Die Verräter") - immer häufiger um Elemente anderer Genres ergänzt wird. Reality und Strategie bzw. Reality und Gameshow sind mehrfach zu beobachtende Kombinationen.
Über Veränderungen im Genre und die Weiterentwicklung von "Kampf der Realitystars", jener von Banijay Productions realisierten Produktion, deren fünfte Staffel gerade bei RTL+ gestartet ist und ab Mittwochabend auch bei RTLzwei läuft, haben wir mit Arno Schneppenheim, Geschäftsführer Banijay Productions, und Malte Kruber, Programmdirektor Entertainment bei RTLzwei, vor der Messe in Cannes gesprochen...
Herr Kruber, Herr Schneppenheim: Die Mechanik einer Realityshow wie „Kampf der Realitystars“ ist mit seiner fünften Staffel durchaus gelernt: Wie viele im Cast glauben, das Format austricksen zu können?
Malte Kruber: Manche Realitystars versuchen natürlich ihrer selbst gewählten Rolle zu entsprechen, wollen ein gewisses Image vermitteln, aber am Ende sind sie dann doch immer sie selbst und glücklicherweise eben keine Schauspieler. Sich rund um die Uhr zu verstellen, das bekommt keiner hin.
Arno Schneppenheim: Es versuchen im Grunde alle irgendwie. Jeder kommt mit einer eigenen Agenda und nimmt sich etwas vor. Aber ich kann aus persönlicher Erfahrung vor Ort am Set sagen: Man vergisst in der Sala sehr schnell, dass alles gefilmt wird, dann wird es sehr schnell wieder real.
Malte Kruber: Das besonders Reizvolle an „Kampf der Realitystars“ ist die Arbeit mit einem Cast, bei dem ja alle schon ein bisschen was auf dem Kerbholz haben. Da merkt man gleich beim Kennenlernen, wie die sich gegenseitig in Schubladen stecken wie bei einem Klassentreffen. So à la „Ach, das ist doch die oder der“. Damit ist schon die Grundlage geschaffen.
Arno Schneppenheim: Und wir beschäftigen unsere Stars bewusst immer wieder mit sich selbst und ihrem Bild von sich. Das macht sonst kein anderes Reality-Format. Zum Beispiel mit der „Wand der Wahrheit“: Wer von euch hat jetzt hier am meisten und am wenigsten Fame? Wer verdient am meisten? Was sagt das zuvor befragte Publikum? Da ziehen manche lange Gesichter. Einige sind ja auch beim gleichen Management, da dürfte es danach Gesprächsbedarf geben (lacht).
Malte Kruber: Da kommt es ja fast schon zum Branchentalk. Das DWDL der Realityshows (lacht).
"Den Bachelor macht man woanders, bei uns holt man sich den Master"
Malte Kruber, RTLzwei
Ein bisschen Gemeinheit gehört also dazu?
Malte Kruber: Die meisten haben ihr „Reality-Diplom“ ja schon woanders gemacht, kennen den Umgang mit Kamera und Selbstinszenierung. Gerade deswegen können und müssen wir sie positiv überraschen und aus der Reserve locken. Nicht garstig, immer mit einem Augenzwinkern. Es gilt: Den Bachelor macht man woanders, bei uns holt man sich den Master.
Arno Schneppenheim: Wobei wir eine tolle Mischung haben. In der vorletzten Staffel gab es zu Beginn der ersten Folge eine Szene, die symptomatisch dafür war: Schäfer Heinrich und Elena Miras waren die ersten beiden im Haus. Schäfer Heinrich hatte noch keine Erfahrung mit Reality-TV in dieser Form und Elena Miras hat ihm im on air die Funktionsweise von Realityshows erklärt, z.B. wie er Interviews zu geben hat und so. Das war ein Geschenk vom Reality-Gott!
Mit Instagram und TikTok sammeln viele Menschen schon Erfahrung mit Kamera und Selbstinszenierung. Zum Vor- oder Nachteil fürs Reality-TV?
Arno Schneppenheim: Das Verhältnis zu Kameras hat sich geändert. Wer heute ins Reality-Fernsehen strebt, der hat schon an anderen Stellen Erfahrungen gesammelt. Mit Instagram, TikTok oder Twitch. Viele haben sich privat schon mal medial inszeniert.
Malte Kruber: Der Unterschied zu Social Media liegt aber in dem Setup einer Reality-Show, wo es zum persönlichen Aufeinandertreffen von Menschen kommt, die alle gleichermaßen extrovertiert sind. Das macht es dann spannend, weil sie da erstmal um ihre Position kämpfen, während sie auf ihren Instagram- und Twitch-Kanälen allein bestimmen, was läuft. Deswegen sind es auch nicht unbedingt die mit den Millionen von Followern, die uns dann in einem Format am meisten Spaß machen, aber sie können uns natürlich auch überraschen wie in diesem Jahr TikToker Noah Bibble.
Arno Schneppenheim: Unser Job wäre ja auch viel zu leicht, wenn man einfach sagen könnte: viele Follower gleich gute Quote. Man wundert sich manchmal sowieso über die angeblichen Follower-Zahlen von manchen Personen so wie auch über manche Einschaltquote.
"Wir erleben derzeit einen Reality-Boom"
Arno Schneppenheim, Banijay Productions
Eine Frage, die sich seit Jahren stellt: Haben wir den Höhepunkt des Reality-Genres inzwischen erreicht?
Malte Kruber: Gute Reality mit dem Drama und Humor rund um einen Cast interessanter Charaktere wird mittlerweile konsumiert wie eine fiktionale Serie. Das Genre bedient also in weiten Teilen das, was die Fiktion macht – und ist damit eine Alternative zu den kostspieligen fiktionalen Produktionen. Reality ist effizienter zu produzieren und wird trotzdem "gebingt" wie teurere Serien. Das macht es attraktiv. Und das Publikum differenziert gar nicht mehr so hart zwischen fiktionaler Serie und dem Drama von Reality-Formaten. Denn auch in der Reality ist gutes Storytelling enorm wichtig und herausfordernder, denn die Geschichten und Ereignisse tragen sich halt in echt so zu.
Das mag sein: Aber es gibt so viele Formate in sehr ähnlichem Setting. Anders gefragt: Wie viel mehr leichtbekleidetes Dating in Urlaubsatmosphäre kann es noch geben?
Malte Kruber: Wir sehen deshalb gerade auch viele neue Formen von Reality, oft angereichert mit strategischen Elementen, fast schon Brettspiel-Charakter. „Die Verräter“ ist ein prominentes Beispiel. Da gibt es inzwischen einige Formatideen dieser Art. Aber auch „Kampf der Realitystars“ hat sehr eigene prägende Elemente und eine teilweise fast schon satirische Meta-Ebene, die uns einzigartig macht. Im Bereich Dating-Reality werden jetzt aber nur noch die größten Marken eine Chance haben.
Arno Schneppenheim: Der Dschungel hat gerade eine der besten Quoten seit Jahren abgeliefert, „Promi Big Brother“ ist so gut gelaufen wie lange nicht mehr. „Kampf der Realitystars“ hatte im vergangenen Jahr inklusive Streaming-Daten mehr Reichweite als jemals zuvor. Wir erleben derzeit einen Reality-Boom so wie wir früher schon einmal einen Comedy-Boom hatten. Da haben sich letztlich die Guten über längere Zeit gehalten. Ähnliches erwarte ich in der Reality, aber noch wird viel experimentiert. Wie Malte schon sagt, derzeit gibt es auch eine Öffnung in Richtung strategischer Formate. Da haben wir „Fortune Hotel“ oder „The Summit“ im Katalog und Ende April startet unser "Fight for Paradise: Wem kannst du trauen?" bei Netflix. Andere Ansätze und Experimente tun dem Genre gut, weil einfach mehr von dem, was es schon gibt, nicht automatisch zu mehr Erfolg führt.
"Vielleicht kommt jetzt die Chance für Formate, die ein bisschen um die Ecke denken"
Malte Kruber, RTLzwei
Malte Kruber: Ich finde das gerade sehr spannend. Schaffen wir endlich die Öffnung des Reality-Genres, die es in vielen anderen Märkten schon lange gibt? „Survivor“ und „The Mole“ waren noch keine Erfolge hier. Vielleicht kommt jetzt die Chance für Formate, die ein bisschen um die Ecke denken. Bisher wurde das vom deutschen Publikum eher verweigert.
Passt die Begrifflichkeit Reality TV noch? Wer sein Leben bei Instagram abbildet, ist im Grunde schon Reality. Datingshows, Auswanderer-Soaps und manche Spielshow ebenso.
Malte Kruber: Da bin ich ganz bei Ihnen. Wir sind bei RTLzwei ja das "Home of Reality", aber darunter fällt so viel. Wir verstehen darunter die Abbildung von Realität, aber eben in sehr vielen Genres – aus der Begrifflichkeit heraus. Und jetzt entstehen lauter Sub-Genres, weil es nicht mehr passend ist unter dem Oberbegriff wirklich völlig unterschiedliche Formate in einen Topf zu werfen. Übrigens: Selbst das irre erfolgreiche "Hartz & Herzlich" ist in unseren Augen eine Form von Reality, nämlich die Echtheit und Realität im ganz normalen Leben. Aber als lebendige Doku mit Fokus auf Factual und weniger auf Entertainment.
Arno Schneppenheim: "Die Geissens" wurden einst als Dokusoap eingeführt, sind aber nichts anderes als "Die Fussbroichs", die als Mutter aller Realitys gelten – was damals aber noch niemand so genannt hat. Da war es noch ein TV-Experiment. Sind die "Geissens" oder die "Reimanns" jetzt Realitystars? Mit "Kampf der Realitystars" haben sie ja nun gar nix zu tun… es ist… schwierig.
Malte Kruber: "Kampf der Realitystars" ist eine Reality mit Leichtigkeit und viel Selbstironie – in diesem Jahr haben wir als ein neues Element die "Chefetage" eingeführt, die man nur über die symbolische Karriereleiter erreicht. Das ist was anderes als zum Beispiel Castingshows, die eine Karriere versprechen, die Kandidatinnen und Kandidaten immer weiter pushen, am Ende die meisten Träume aber unerfüllt bleiben.
Arno Schneppenheim: Das ist der große, prägnante Unterschied. Wer bei "Topmodel" mitmacht, hat einen Traum – und der wird am Ende bei fast allen platzen. "Kampf der Realitystars" ist ein Spiel. Wenn man da am Ende nicht gewinnt, ist das auch kein Drama.
Und im Nachhinein gibts auch keine Beschwerden darüber, wie man dargestellt wurde? Gibt ja immer mal Schlagzeilen von Teilnehmerinnen und Teilnehmer diverser Formate…
Arno Schneppenheim: Wir hören überwiegend Lob von den Teilnehmenden. Es macht ihnen Spaß in Thailand mit dabei sein zu können. Hin und wieder gibt es aber natürlich auch Protagonisten, die sich später anders dargestellt fühlen, als sie es selbst in Erinnerung haben. Bei uns braucht jedoch niemand Angst davor zu haben, auf dem falschen Dampfer zu sein, weil wir nichts verändern und niemanden anders darstellen, als er oder sie sich gibt.
Wie geduldig ist der Cast wenn zwischen Aufzeichnung und Ausstrahlung ja einige Monate liegen?
Malte Kruber: Natürlich juckt es die auszupacken. Aber im Grunde sind alle aus dem Cast von "Kampf der Realitystars" inzwischen Realitystar von Beruf und kennen das Spiel und die Regeln. Die meisten sind Profi genug und spoilern nicht, weil es ja zu ihrem eigenen Schaden wäre. Das ist wie bei einem Krimi, da will man ja auch nicht den Mörder vorher verraten bekommen.
Aber ein bisschen was würden Fans des Formats gerne wissen: Was können Sie verraten?
Malte Kruber: Wir haben neben vielen liebevoll ausgearbeiteten Spielen, in die die engagierten Teams rund um Creative Direktorin Katrin Stefanović bei Banijay Productions und Tanja Wilhelm bei RTLzwei immer enorm viel Herzblut stecken, zum Ende hin ein bisschen was geändert. Es wird überraschende Twists bis ins Finale geben, so viel kann man sagen. Und die neue Chefetage inklusive Karriereleiter haben wir ja schon erwähnt.
"Wir haben sehr oft keine genaue Kenntnis mehr darüber, wie erfolgreich ein Programm am Ende eigentlich war"
Arno Schneppenheim, Banijay Productions
Nun gibt es auch genügend Realityformate bei Streamingdiensten: Ist die lineare Ausstrahlung ein Vorteil?
Malte Kruber: Wir sind in der Tradition ein klassischer unabhängiger Fernsehsender, aber fahren seit Jahren bei der Distribution eine Multi-Channel-Strategie: Die Sendungen gibt es bei unserem Streamingpartner RTL+, aber zusätzliche Inhalte auch bei YouTube, Snapchat, TikTok, Facebook und Instagram – wohl dosiert und immer spezifisch für den jeweiligen Channel produziert oder individuell angepasst. Aber das Lineare ist für die Diskussion, den Talk-of-the-town über ein Format, natürlich unglaublich wichtig. Das ist bei Reality-Programmen nicht anders als beim Fußball. Das kommentieren Fans über ihre Kanäle gerne live als Gemeinschaftserlebnis. Das freut uns natürlich, weil das Lineare mit der Refinanzierung über TV-Werbung noch der wichtigste Verbreitungsweg ist, auch wenn wir digital überdurchschnittlich performen.
Arno Schneppenheim: Es wird aber auch immer schwerer den gesamtheitlichen Erfolg von Formaten zu bewerten, weil es keinen zeitnahen Zugang zu den Nutzungsdaten gerade solcher jungen Programme z.B. bei RTL+ oder Joyn gibt. Ebenso gibt es keine Zahlen von Netflix oder Amazon. Wir haben sehr oft keine genaue Kenntnis mehr darüber, wie erfolgreich ein Programm am Ende eigentlich war. Bei Formaten, die bei RTL+ gut laufen, kann das durchaus einen entscheidenden Aufschlag zur TV-Quote bedeuten. Das sind für alle Produktionsfirmen in Deutschland existenziell wichtige Informationen, denn nicht zuletzt daran werden ja Folgeaufträge geknüpft. Zudem ist es ja immer auch gut zu wissen, wo man mit der geleisteten Arbeit seiner Teams in der öffentlichen Wahrnehmung so steht.
Malte Kruber: Was wir zum vergangenen Jahr sagen können: Die lineare Quote 14-49 haben wir mit Staffel 4 gegen harte Konkurrenz stabil gehalten. Die Sendungsstarts bei RTL+ gingen im Vergleich zu Staffel 3 nochmal um mehr als 20 Prozent rauf. Das ist die Traumvorstellung: Lineare Stärke verteidigen und digital ausbauen.
Herr Schneppenheim, Herr Kruber, herzlichen Dank für das Gespräch.