Herr Siering, Spiegel TV scheint schon vor allen anderen Produktionsfirmen in die Krise geraten zu sein. Sie haben Ihre Fiction-Tochter Aspekt Telefilm Ende 2021 aufs Abstellgleis geschoben, als der Streaming-Boom noch auf dem Höhepunkt war. Die hochvolumigen Kerner- und Lanz-Shows von Spiegel TV Infotainment sind lange her. Innerhalb der letzten Dekade haben Sie über 40 Prozent Ihrer Erlöse verloren. Was ist da schiefgelaufen?

Schiefgelaufen ist aus meiner Sicht gar nichts. Im Gegenteil, wir haben frühzeitig erkannt, dass unsere Stärke im dokumentarischen Erzählen von Stoffen liegt. Unternehmerisch ist es also nur sinnvoll, dass wir uns voll darauf konzentrieren. Dabei spielen unsere starke Marke und ein prall gefülltes Archiv uns zusätzlich in die Hände. Spiegel TV ist zukunftsfest aufgestellt. Natürlich ist das Geschäft für alle Produzenten kleinteiliger geworden. Die Aufträge aus dem klassischen linearen Sendergeschäft sind nicht mehr so, wie sie vor zehn Jahren waren. Da hilft es, dass wir innerhalb unseres Kerngeschäfts sehr breit aufgestellt sind. Und was die Fiction angeht: Wir brennen weiterhin für jede Art von Auswertung großer "Spiegel"-Geschichten. Daran arbeiten wir nach wie vor, allerdings nicht mehr im eigenen Gruppenverbund, sondern in Kooperation mit verschiedenen fiktionalen Produktionsfirmen.

Wie definieren Sie denn Ihr Kerngeschäft heute?

Das besteht aus drei Säulen: Nummer eins ist die Drittsendelizenz bei RTL, wo wir unabhängigen Journalismus betreiben – gerade erst im August um weitere fünf Jahre bis 2028 verlängert. Das ist unsere journalistische Keimzelle, von der wir aber inzwischen nicht mehr wirtschaftlich abhängig sind. Denn wir haben, Nummer zwei, das Ko- und Auftragsproduktionsgeschäft massiv ausgebaut und sind mittlerweile ein verlässlicher Partner von privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern im In- und Ausland. In diesem Segment sind wir voriges Jahr um 35 Prozent auf 18,4 Millionen Euro Umsatz gewachsen, im Zehnjahresvergleich sogar um rund 360 Prozent. Diese Entwicklung wollen wir weiter fortsetzen. Hinzu kommt, Nummer drei, der Ausbau des Digitalgeschäfts. Das ist für uns eine wichtige Zukunftssäule, nicht zuletzt deshalb, weil wir ein dokumentarisches Archiv mit 100.000 Stunden Material haben, an dem wir die Rechte halten. Wir bauen also unseren YouTube-Kanal mit derzeit 1,7 Millionen Abonnenten weiter aus, wir starten eigene FAST-Channels – all das sind Ausspielwege, bei denen wir, wie schon seit Jahren erfolgreich mit unseren Pay-TV-Kanälen, direktes Konsumentengeschäft betreiben.

Spiegel TV auf einen Blick

  • Umsatz 2022: 29,8 Millionen Euro (-17% vs. 2021)

  • Gesellschafter: Spiegel-Verlag

  • Geschäftsführer: Kay Siering (seit 2019), Michael Rathje (seit 2020)

  • Produktionen: Abenteuer Freiheit (ZDF); Deutschlands größte Geheimnisse (Kabel Eins); Die Kinder von Lügde (ZDFinfo); Die Nazijäger (ARD); Die Rettungsflieger (Nitro); Die Spur (ZDF); Hartes Deutschland (RTLzwei); Naked (Arte); plan b (ZDF); Re: (Arte); Sat.1 Check (Sat.1)

Halten Sie die Drittsendelizenz und die Konstruktion mit Lizenzinhaber dctp noch für ein zeitgemäßes Modell?

Und ob. Sie ist aus zwei Gründen wichtig für uns: Zum einen gibt sie uns als Produktionshaus eine Planungssicherheit, die man in der Auftragsproduktion so niemals hat. Noch wesentlicher ist aber, dass sie uns in die Lage versetzt, komplett unabhängigen Journalismus im linearen deutschen Fernsehen zu veranstalten. Wir sind unabhängig von jeglicher politischen Einflussnahme und ebenso unabhängig von der Werbeindustrie. Ich empfinde es jeden Montag als Geschenk, in einer so komplexen weltpolitischen Lage unabhängigen Journalismus betreiben zu können.

Unabhängiger als etwa "Stern TV", das früher auch via dctp-Lizenz lief, aber heute zu RTL gehört?

Ja, allein schon qua Medienstaatsvertrag. "Stern TV" macht einen hervorragenden Job. Aber es liegt in der Natur der Sache, dass jedes Magazin, das in direkter Beauftragung einer werbefinanzierten Mediengruppe entsteht, abhängiger von der Werbeindustrie ist als ein Fenster für unabhängige Dritte, das vertraglich auf fünf Jahre in Stein gemeißelt ist.

 

Wir bereiten aktuell vier große international koproduzierte Doku-Reihen vor.
Kay Siering, Spiegel-TV-Geschäftsführer

 

2018 mussten Sie vom späten Sonntagabend auf den noch späteren Montagabend weichen. Eher eine Randexistenz?

Wir dachten früher auch, dass der Sonntag besser sei, und haben dem Sendeplatz ein paar Wochen nachgetrauert. Dann haben wir gemerkt, dass der Montagabend mit dem Line-up, das RTL dort baut, für unsere Inhalte sehr gut passt. Wir fühlen uns dort mittlerweile extrem wohl. Und wir schielen auch nicht nur auf die lineare Einschaltquote um 23:25 Uhr bei RTL. Die Ausspielwege für die Inhalte, die wir in der Drittsendelizenz produzieren, sind vielfältig – von RTL+ bis Spiegel.de.

In der Auftragsproduktion sind Sie zuletzt auch deshalb gewachsen, weil Sie zwischen "Re:" bei Arte und "Hartes Deutschland" bei RTLzwei eine ziemliche Bandbreite bedienen.

Hartes Deutschland - Leben im Brennpunkt © RTLzwei "Spreizung pflegen": Spiegel TV produziert "Hartes Deutschland"
Ich liebe diese inhaltliche Spreizung. Mir macht es große Freude, am Montag bei Arte zu sitzen, am Dienstag bei RTLzwei und auf Augenhöhe mit tollen Partnern über verschiedenste dokumentarische Ansätze zu sprechen. Ich finde es auch unternehmerisch richtig, diese Spreizung zu pflegen. Dass wir so breit aufgestellt sind, hat uns ziemlich krisenfest gemacht. Das haben wir positiv in den Jahren der Pandemie gespürt. Durch unsere gesamte Auftragsproduktion zieht sich die rote Qualitätslinie der Spiegel-TV-DNA. Bei jedem neuen Projekt schauen wir uns ganz genau an, was von uns erwartet wird. Wenn wir das Gefühl haben, es würde nicht zu unseren Ansprüchen passen, dann sagen wir den Auftrag ab.

Während der Pandemie haben vor allem internationale Koproduktionen gelitten. Wollen Sie da wieder mehr Gas geben?

Auf jeden Fall. Wir bereiten aktuell vier große international koproduzierte Doku-Reihen vor, über die wir mit Partnern aus den USA, Kanada, UK, Frankreich und Japan sprechen. Die Projekte sind noch in einem frühen Stadium, aber es sollen zwei große History-Reihen, eine aus dem Bereich Natural History und eine aus dem gesellschaftspolitischen Bereich werden.

 

Wir kommen auf vier bis fünf Millionen Stunden gestreamte Inhalte pro Monat.
Kay Siering, Spiegel-TV-Geschäftsführer

 

Die Zusammenarbeit zwischen Spiegel TV und "Spiegel"-Redaktion war in der Vergangenheit nicht immer einfach. Der Verlag war berüchtigt für sein Lagerdenken. Hat sich das inzwischen verbessert?

Ich kann vor allem über die Gegenwart sprechen. Aktuell ist es so, dass wir uns in einem strukturierten Prozess regelmäßig sehr zugewandt über Inhalte austauschen. Das heißt nicht automatisch, dass das, was wir uns intern vorstellen, immer realisiert werden kann. Davor stehen natürlich noch die Pitching-Prozesse bei potenziellen Partnern und Auftraggebern. Aber die Lust und Leidenschaft, audiovisuelle Inhalte aus der Spiegel-Gruppe heraus gemeinschaftlich zu denken, war aus meiner Sicht noch nie so ausgeprägt wie heute. Das schlägt sich übrigens auch im Erfolg unseres YouTube-Kanals "Der Spiegel" nieder, den wir gemeinsam bestücken. Einerseits verwerten wir dort Rechte, die wir ohnehin im Haus haben. Andererseits entwickeln wir zunehmend auch Originals wie etwa das äußerst beliebte True-Crime-Format "Im Verhör".

Ist die YouTube-Vermarktung für Sie denn ein lohnendes Geschäftsmodell?

Im Verhör © Spiegel TV
Durchaus. Wir kommen auf vier bis fünf Millionen Stunden gestreamte Inhalte pro Monat und sind in den vergangenen zwölf Monaten um rund 15 Prozent gewachsen. 51 Prozent unserer Nutzer sind zwischen 18 und 35. Das ist für uns als Spiegel-Gruppe enorm wichtig, weil wir mit "Spiegel" und Spiegel TV diese Zielgruppe auf klassischen Wegen eher schwer erreichen. Als renommierte Medienmarke sind wir wiederum in der Lage, Inhalte zu monetarisieren, die sich auf anderen Kanälen vielleicht schwerer tun würden. Wir vermarkten einen Teil unserer YouTube-Werbezeiten selbst und stehen auch im Austausch mit Google.

Sie haben eingangs schon das Thema FAST-Channels erwähnt. Was genau planen Sie da?

Da wir, wie schon gesagt, in der glücklichen Lage sind, 100.000 Stunden Archivmaterial in den Kellergeschossen des Spiegel-Hauses zu verwalten, ist es für uns sehr attraktiv, immer neue Verwertungsformen aufzutun und zu nutzen. Wir arbeiten aktuell an einem eigenen Spiegel TV FAST Channel und denken über weitere Subkanäle nach (Anm. d. Red.: Der bisherige FAST-Channel unter der Marke Spiegel TV wird noch von Funke Digital betrieben). Dieses neue Geschäftsfeld wollen wir zum Jahresbeginn 2024 mit voller Kraft starten. In Kooperation mit Autentic haben wir im Juni bereits den FAST-Channel Spiegel TV Konflikte gelauncht – die ersten Ergebnisse sind vielversprechend.

Da Sie Ihre Archivschätze jetzt mehrfach erwähnt haben: Was haben Sie damit sonst noch vor?

Wer bei Spiegel TV tätig ist, kann das Archivmaterial einfach nicht genug hervorheben. (lacht) Aber bei aller Liebe zum Archiv wollen wir natürlich stets neue Stoffe entwickeln. Die Inspiration dafür kommt mir persönlich manchmal im zweiten Untergeschoss des Spiegel-Hauses zwischen hunderten Metern Rollregallager. Wenn ich dann etwa auf den Etiketten alter Bänder sehe, dass wir schon vor 20 Jahren ein Stück über Gender-Identität gemacht haben, liegt die Idee nahe, dass wir dazu mal eine Art kulturhistorische Abhandlung im Spiegel der Zeit erstellen könnten. Auch für andere Produzenten sind wir ein gefragter Anbieter von Archivmaterial, weil es uns seit 35 Jahren gibt und wir nie etwas weggeworfen haben. Außerdem unterscheidet sich unser Material zu politischen und gesellschaftlichen Themen häufig von dem, was die TV-Sender in ihren Archiven haben. Das, was physisch dort unten liegt, haben wir inzwischen in einem aufwendigen Prozess vollständig digitalisiert. Damit ist es jetzt per Mausklick für unsere Mitarbeitenden verfügbar – und demnächst auch für die Branche. Der digitale Zugang für externe Partner ist der nächste Schritt.

Herr Siering, herzlichen Dank für das Gespräch.

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