Innen ein wilder Mix aus Uni-Campus und Gewächshaus, von außen - freundlich formuliert - unscheinbar. Am Stadtrand von Amsterdam, erprobte 90 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof entfernt, aber auch gleich neben der Autobahnauffahrt zum Flughafen gelegen, sitzt IDTV. Die 1977 gegründete Produktionsfirma ist in den Niederlanden seit Jahrzehnten eine bekannte Größe in der Branche, die allerdings nicht immer für aufregende Innovation stand.
Einen Kurswechsel und den Umzug von klassischen Büroräumen in diese offene Fläche hatte Taco Rijssemus eingeleitet, der 2017 die Geschäftsführung übernahm. Wo bei angloamerikanischen Unternehmen solche Open Spaces gerne mit einer Hot Desk- oder Clean Desk-Policy einher gehen, ist die IDTV-Zentrale mit einem kunterbunten Durcheinander eher das wohnliche Gegenteil. Von der Decke hängende Schilder verorten zur Orientierung die Redaktionen einzelner Formate auf der großen Fläche.
Wozu der Besuch in Amsterdam? Die Erfindung von „De Verraders“ katapultierte das zur britischen All3Media gehörende Unternehmen auf die internationale Bühne. DWDL berichtete Anfang des Jahres von dem internationalen Erfolg des Format; wenig später wurde bekannt, dass RTL sich das Format für Deutschland gesichert hat. Das freut Taco Rijssemus, der inzwischen die Geschäfte von All3Media Deutschland führt, wozu neben den deutschen Töchtern nach kurioser Logik auch die niederländische IDTV gehört.
Dort lenkt inzwischen Managing Director Michel Nillesen die Geschäfte, Jasper Hoogendoorn ist Creative Director. Das Duo hat den sehr rasanten internationalen Erfolg der in Amsterdam entstandenen TV-Idee begleitet, auch nachdem Marc Pos als Erfinder Anfang des Jahres von Bord gegangen ist. DWDL hat sie im Gewächshaus am Rande der Stadt besucht - um anlässlich des Deutschlands-Starts des Format zu sprechen über das Gefühl, einen Format-Hit zu landen und die Herausforderungen, die sich daraus ergeben.
Herr Nillesen, Herr Hoogendoorn, in weniger als zwei Jahren wurde „De Verraders“ zum internationalen Formaterfolg. In welchem Moment denkt man: Oh, das Ding hebt ab?
Jasper Hoogendoorn Dass die Idee funktioniert, haben wir nach den ersten vier, fünf Folgen in den Niederlanden gemerkt. Alles funktionierte perfekt, also nicht unbedingt immer produktionsseitig. Da haben wir auch Lehrgeld bezahlt (lacht). Aber aus Publikumssicht kam die Sendung sehr gut an. Noch im gleichen Jahr haben wir mit unseren belgischen Kolleginnen und Kollegen von All3Media die belgische Version produziert, die über 50 Prozent Marktanteil holte. Dann waren wir im vergangenen Jahr alle extrem gespannt auf die britische Adaption, weil erstmals auf englisch und damit international. Claudia Winkelmann, die „The Traitors“ in Großbritannien moderiert, soll erstmal skeptisch gewesen sein als sie angefragt wurde und bekam die erste niederländische Staffel, um reinzuschauen. Das hat sie überzeugt. Also war es wirklich die erste Staffel hier in den Niederlanden, die uns zum Durchbruch verhalf. War das die beste Staffel? Nein, wir haben seitdem bessere produziert. Aber wir wollen über den internationalen Erfolg bislang nicht klagen (lacht).
Jetzt kommt Deutschland, wo sich strategische Reality-Formate wie „Survivor“ oder „The Mole“ schwer taten.
Jasper Hoogendoorn Das waren Adventure-Reality Formate, wie ich sie nenne. „Die Verräter“ ist - und der Begriff stammt leider nicht von uns selbst, aber wurde geschrieben als wir in den Niederlanden auf Sendung waren - Psychological Reality. Noch besser gefiel uns der Begriff Intelligent Reality. Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer fühlt es sich bestimmt an wie ein Abenteuer, aber für das Publikum ist es eine Show über menschliches Verhalten und die Macht der Psychologie, über Vertrauen und Misstrauen. Und wir als Publikum wissen immer mehr als die Beteiligten. Das ist keine Rateshow! Das alles macht es zu etwas, was wir bislang im Reality-Genre nicht gesehen haben.
Die BBC setzte auf Normalos, bei RTL spielen Prominente mit. Risikominimierung?
Jasper Hoogendoorn Bei der deutschen Staffel hat sich, wie schon bei anderen Adaptionen, gezeigt: „Die Verräter“ zeigen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, selbst Prominente, in einer Rolle in der man sie sonst selten sieht: Sie sind sie selbst und wir erleben ihre Menschenkenntnis, ihr Verhalten untereinander. Egal warum jemand prominent ist oder was er oder sie kann… darum geht es gar nicht. Niemand muss performen, es geht nur um die Frage, wem man vertraut und wem man misstraut. Das zeigt uns ganz neue Seiten.
Es passiert nur noch selten, dass ein neue TV-Format so schnell um die Welt geht…
Michel Nillesen Und das wäre ohne die All3Media-Familie nicht möglich geworden. Das zeigt, wie wertvoll so eine Familie ist. Wir haben mit Kevin Soares hier bei IDTV zügig einen EVP International Formats bestimmt, der den Austausch mit All3Media managt. Die Kombination aus kreativem Input von hier und der Power von All3Media hat dafür gesorgt, dass „The Traitors“ so schnell international erfolgreich wurde.
Wie darf ich mir das denn vorstellen: Sind Kreative und Verkäufer denn auch immer einer Meinung?
Michel Nillesen (lacht) Sie haben natürlich Recht, dass Verkäufer in erster Linie verkaufen wollen und man dafür auch mal Kompromisse eingehen würde. Da half uns und dem Format die Tatsache, dass wir Kevin sehr schnell als Hüter der „Verräter“ bestimmt haben. Seine Aufgabe als Teil unseres Teams bei IDTV war es, das Format zu schützen und darauf zu achten, dass beim Verkauf der Formatidee keine zu großen Kompromisse gemacht werden, die dem Format schaden könnten. Denn es geht hier nicht um eine Quizshow, sondern um ein fragiles psychologisches Spiel und dieser Kern muss gepflegt werden.
Und trotzdem ist „The Traitors“ mit Blick auf bisherige Umsetzungen ein weitaus flexibleres Format als Sendungen wie „Who wants to be a millionaire“, die eine sehr strikte Formatbibel hatten…
Jasper Hoogendoorn Wenn wir z.B. über das veränderte Finalspiel sprechen, ist es ganz einfach so, dass wir dazu lernen und dabei auch von Adaptionen und deren Erfahrungen profitieren. Meist sind wir zunächst mal neidisch auf die Produktionsbudgets der Adaptionen (lacht). Nein, es ist toll zu sehen, wie unsere Idee weltweit interpretiert wird. „The Traitors“ ist keine fixe Studioshow mit einmal definiertem Set, wir können einfach einzelne Bestandteil des Formats weiterentwickeln.
Gehört dazu auch die Tatsache, dass „The Traitors“ gar keinen eigenen Theme-Song hat?
Jasper Hoogendoorn Ja, auch so ein Learning (lacht). Ich meine, wir waren von unserem Format immer überzeugt aber haben uns natürlich erstmal darauf fokussiert für RTL Netherlands und Videoland eine tolle Staffel dieser neuen Idee zu produzieren. Einen eigenen Theme-Song dafür zu finden, war nicht die erste Priorität - und dann ging es einfach sehr schnell mit dem Interesse aus dem Ausland. Das ist die unspektakuläre, ehrliche Antwort. Wir hatten das einfach nicht auf dem Schirm. Sie müssen sich mal vorstellen: „De Verraders“ startete an einem Samstagabend und am nächsten Morgen um 8 Uhr als wir gerade die Einschaltquoten feierten, rief VTM aus Belgien an. Und Montag meldete sich NBC: „Wir wollen das Format“. Das alles hat nicht einmal Tage gedauert!
Fragt man sich in so einem Moment, ob die Interessenten eigentlich auch die Sendung selbst gesehen haben - oder nur die Einschaltquoten?
Jasper Hoogendoorn (lacht) Nein, da hat All3Media einen guten Job gemacht und hat pro-aktiv am Morgen nach der Ausstrahlung einen Link mit Zugang zu unserer ersten Folge verbreitet. Sie haben dann sicher von den Einschaltquoten gehört und deshalb reingeschaut.
Der Theme Song ist schon mal nicht Teil der Formatbibel. Was macht das Format denn im Kern aus?
Jasper Hoogendoorn Im Kern ist es einfach eine Arena, in der wir Wettkämpfer aufeinander loslassen - und von dem Moment, an dem unsere Wettkämpfer die Arena betreten bzw. an den Round Table herantreten und die Verräter auserwählt sind, lassen wir es nur noch geschehen. Es gibt natürlich einige wichtige visuelle Elemente, die dem Format die mystische Stimmung geben. Die Umhänge der Verräter beispielsweise. Drei Menschen in mysteriösen Umhängen versteckt, die leidenschaftlichen Diskussionen am Round Table oder die geschockten Gesichter beim Frühstück: Das sieht in jedem Land sofort nach „The Traitors“ aus.
Was war bei den bisherigen Verkäufen die meistgestellte Frage von Interessenten?
Jasper Hoogendoorn Das Team von Studio Lambert, das später die wunderbare britische und amerikanische Version produziert haben, war bei der Produktion unserer zweiten Staffel für die Niederlande am Set und eine der ersten Forderungen war: „Show us your scripts“ Und sie haben es uns nicht geglaubt als wir sagten: Gibt es nicht. Wir intervenieren nicht. Es hieß dann, diese Antwort würde der interessierten US-Plattform, Peacock bestimmt auch nicht gefallen. Ähnliche Fragen kamen auch von RTL. Man wollte mehr Kontrolle. Da haben wir gesagt: Dann würden wir nicht zusammenkommen, denn das ist das Erfolgsgeheimnis von „The Traitors“. Das Format ist nur die Leinwand, der Cast malt das Bild. Und das macht den großen Spaß bei der Produktion dieser Show aus, weil es für alle Beteiligten eine Überraschung wird.
Das Versprechen, auch den Machern gegenüber, überrascht zu werden, ist in risikoscheuen Zeiten halt nicht unbedingt verkaufsfördernd…
Jasper Hoogendoorn All3Media und wir müssen allen Interessenten an dem Format immer wieder deutlich machen: Hier habt ihr keinen Einfluss auf den Verlauf, vertraut auf das Format. Natürlich gibt es im Vorfeld einen Dialog, in dem wir den Sendern und Plattformen zuhören, welche Anpassungen etwa für die Akzeptanz beim lokalen Publikum nötig sind, z.B. bei der Tonalität. Die BBC-Version hatte einige spannende Twists, alle mit uns abgesprochen. Das sind aber wie bei vielen Formaten kulturelle Fragen oder neue Challenges, die sie ausprobieren wollten, aber keine grundsätzlichen Formatfragen. „The Traitors“ bleibt ungeskriptet.
Was das Casting für diese Show vermutlich umso wichtiger macht, weil sich darüber der Verlauf und die Dynamik einer Staffel definieren?
Jasper Hoogendoorn Definitiv. Und der deutsche Cast von Tower und RTL ist super.
Viele Adaptionen setzen auf prominente Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Die BBC sticht mit einem Cast von 22 Normalos heraus. Warum eigentlich?
Jasper Hoogendoorn Da gibt es mehrere Faktoren. Einer liegt darin begründet, dass wir in der Show um Silber spielen lassen, weil wir nicht wollten, dass die Prämisse des Formats darin besteht, Menschen für Geld zu hintergehen. Das gehört sich nicht, deswegen der Kniff mit dem Silberschatz. Jetzt gibt es in Großbritannien die Besonderheit, dass das Publikum nicht gewohnt ist, dass Prominente etwas für sich selbst gewinnen können. Die spielen eigentlich immer für Charity. Aber das war bei „The Traitors“ keine Option. Wir wollten nicht, dass Menschen für den guten Zweck hintergangen werden. Das geht nicht. Deswegen haben wir uns mit Studio Lambert und der BBC dazu entschieden, bei der britischen Version auf Prominente zu verzichten. Und für die Niederlande haben wir gerade die vierte Staffel von „De Verraders“ produziert - und erstmals auch auf normale Kandidatinnen und Kandidaten gesetzt.
Nach mehreren Staffeln stellt sich bei manchen Reality-Formaten die Frage, ob Teilnehmerinnen und Teilnehmer inzwischen wissen, was sie erwartet und wie sie performen müssen. Wird das für „The Traitors“ zum Problem?
Michel Nillesen Ich verstehe Ihre Frage, aber das Großartige an dieser Sendung ist die Mechanik, die immer wieder funktioniert. Es gibt keine Chance, sich diesem Spiel von Vertrauen und Misstrauen innerhalb einer Gruppe zu entziehen. Man merkt, dass manche versuchen diese oder jene Strategie zu verfolgen, aber die Gruppendynamik macht das jedes Mal kaputt.
Gibt es eigentlich schon Copycats des Erfolges?
Jasper Hoogendoorn Worauf wir schon ein bisschen stolz sind, ist die Tatsache, dass wir bei der letzten MIPTV in Cannes mit „Traitors & Friends“ eine eigene Kategorie bei der Formatpräsentation von TheWit war. Also ja, in der Kategorie gibt es natürlich schon Variationen. Wir hörten jedenfalls schon hin und wieder, dass andere Produzenten ihre Ideen mit dem Satz „Es ist ein bisschen wie ‚The Traitors‘“ pitchen. Bis jetzt fühlt man sich da eher geehrt.
Warum kommen eigentlich so viele Reality-TV-Ideen ausgerechnet aus den Niederlanden?
Jasper Hoogendoorn Vielleicht liegt hier bei uns einfach was in der Luft? (lacht)
Michel Nillesen Ich kann ihnen da keine befriedigende Antwort geben, aber einer der Gründe ist unsere Sprache. Wir sind ein kleines Land, da lassen sich manche große Showformate nicht refinanzieren, also denken wir uns eigene IPs aus und dass in einem sehr wettbewerbsintensiven Umfeld, weil es gemessen am Markt hier viele Produzenten gibt. So entsteht Kreativität aus Mangel an Mitteln, weil die Budgets für TV-Produktionen bei uns deutlich kleiner sind als in Deutschland. Dafür sind die Sender hier eigentlich immer schon sehr risikofreudig gewesen, neue Dinge auszuprobieren.
Gemessen an der Größe des Landes definitiv ein bemerkenswerter Output…
Michel Nillesen Ein großer Unterschied im Vergleich zu Deutschland: Wer in den Niederlanden ein neues Format entwickelt, behält auch einen Teil der Rechte daran. So wird Kreativität zum Geschäftsmodell und der internationale Erfolg ist in unserem eigenen Interesse. Wenn der Broadcaster alle Rechte abkauft und ich von einem weiteren Erfolg des Formats gar nicht partizipieren kann, würde ich auch zweimal überlegen, wie viel Energie und Geld ich in die Eigenentwicklung investiere. „De Verraders“ hat sich für uns mehrfach bezahlt gemacht, auch weil plötzlich Auftraggeber zu Besuch kommen, bei denen wir früher um einen Termin kämpfen mussten. Und im Rahmen von Taco Rijssemus‘ Strategie für IDTV, mit der Unterstützung von All3Media im Rücken, können wir Ideen künftig sicher schneller auch über die Niederlande hinaus auf die Straße bringen.
Und an was arbeitet IDTV jetzt? Nachdem „The Traitors“ auf einem Spiel aus Kindertagen beruht, checken Sie jetzt alle anderen Spiele von früher auf ihre TV-Tauglichkeit?
Jasper Hoogendoorn Sie beziehen sich auf das Spiel Werwolf, nehme ich an. So ist „The Traitors“ aber allerdings nicht entstanden. Es war ein Buch über das niederländische Segelschiff Batavia, das vor Australien auf ein Riff lief und sank. Es gibt Schilderungen von Meuterei und Verrat unter den Überlebenden und es verstörte uns, wie Menschen miteinander umgehen. Das Gefühl, unschuldig verdächtigt zu werden, war dabei sehr vertraut von Spielen aus der Kindheit. Was wir als nächstes machen? Also im Gegensatz zu allen anderen, wollen wir uns nicht kopieren, sondern haben mit einer neuen Idee ein neues Genre entwickelt und auch schon einen Piloten produziert. Da stehen wir kurz vor der Beauftragung. Und „The Unknown“ war auf Anhieb ein Erfolg in den Niederlanden, wir haben die Aufträge für Belgien und Frankreich, für Belgien auch schon produziert, bereits mit Verbesserungen im Vergleich zur ersten niederländischen Version. Das Format ist unser neuer Ansatz für Adventure-Reality mit einem cineastischen Anspruch. Es ist ein schöner Erfolg, wenn auch nicht auf „Traitors“-Level. Da könnte das neueste Projekt sehr vielversprechend werden.
Jasper Hoogendoorn, Michel Nillesen herzlichen Dank für das Gespräch.