Frau Hain, Sie sind im Münchner Speckgürtel aufgewachsen, also Lichtjahre vom Hamburger Rotlichtviertel der Achtzigerjahre, das „Luden“ beschreibt.
In Neuried, total dörflich.
Was hatten Sie seinerzeit für ein Bild von St. Pauli?
Oh Gott, als Kind war ich dort viel zu sehr mit Baumhausbauen beschäftigt, um einen Bezug zum Kiez zu entwickeln. Ich bin ihm einfach niemals begegnet. Und falls doch mal ein Funke zu mir aufs Land geflogen ist, war er für mich überhaupt nicht greifbar.
Wenn das „Traumschiff“ vom Hamburger Hafen in See gestochen ist, haben Sie es in ZDF aber schon gesehen?
Auch nicht. Bis ich mit 15, 16 erstmals in Berlin war und mich sofort darin verliebt hatte, waren Stadt und Land für mich getrennte Planetenkonstellationen.
Was war denn dann Ihr Blick auf diese weit entfernte Galaxie, bevor Sie „Luden“ gedreht haben?
Ich habe einmal mit Hermine Huntgeburth neben Martin Brambach dort gedreht und hatte mal zwei, drei Drehtage in der legendären „Ritze“ mit Boxring im Keller, durfte das also live erleben. Dort spürt man zwar noch den Herzschlag vergangener Jahrzehnte, kriegt ihn aber kaum zu fassen. Bei aller Neugier nehme ich mir daher nicht heraus, diesen Kosmos zu bewerten.
Sondern?
Versuche mit Achtung und Respekt langsam einzutauchen. Dieses Erspüren durch Annäherung ist mir durch viele Dokumentationen jener Zeit hoffe ich gelungen, also nicht wie bei Aaron Hilmer der aus Hamburg stammt, aus eigener Erfahrung, sondern reiner Beobachtung.
"Wichtig ist, seine Figuren im Ganzen aller Aspekte zu sehen, ohne sie zu verurteilen."
Ist das grundsätzlich ihre schauspielerische Herangehensweise?
Schon. Aber ich sehe es so, dass wir – ob als Menschen oder als Schauspieler – viele fremde Räume in uns tragen, aber noch nie betreten haben. Bei der Suche nach passenden Schlüsseln helfen dann die Geschichten der Menschen dort, ihre Erzählungen und Bilder. Wenn ich ihn dann gefunden habe, wird in mir oft etwas geweckt, was gar nichts mit Schauspielerei zu tun hat, sondern dem Gefühl, wie viel meiner Rollen ohnehin in mir stecken. Also auch von Jutta.
Was genau verbindet Sie denn mit dieser gealterten Sexarbeiterin mit Drogenproblem?
Ein Alleinsein, das nichts mit Einsamkeit zu tun hat. Ich bin mit Anfang 20 Mutter geworden, mein Sohn ist 31, meine Tochter 16. Trotzdem habe ich als Frau fast immer alleine gelebt und war, wie Jutta, auf der Suche nach Geborgenheit, Miteinander, Gemeinschaft mit Leib und Seele, ohne dass mein Leben schlecht gewesen wäre. Das verbindet uns.
Wobei Jutta unglaublich verzweifelt wirkt.
Absolut, das war ich nie, habe mich aber auch nicht annähernd in einer Situation wie ihrer befunden, mit jahrzehntelanger Heroin-Abhängigkeit und weggegebener Tochter. Zugleich aber teilen wir Grundbedürfnisse, die man auch an so verschiedenen Orten hat wie Jutta und ich.
Obwohl Jutta eine durchsetzungsfähige, selbstbewusste Frau dieser männlich dominierten Zeit war, war sie aber doch immer auch ein Objekt anderer und dadurch stets getrieben.
Dass andere über sie bestimmen, ist mir in der Tat fremder. Aber das Gefühl von Abhängigkeiten oder Unfreiheit kenne ich natürlich trotzdem – wenngleich nicht in solchem Ausmaß. Dem nachzugehen, sich ihm hinzugeben, wächst beim Spielen fast automatisch. Wichtig ist, seine Figuren im Ganzen aller Aspekte zu sehen, ohne sie zu verurteilen.
Dass Jutta trotz allen Elends, in dem sie sich befindet, immer leise bleibt – ist das da die Drehbuchfigur oder deren Darstellerin, von der man ebenfalls kaum laute Töne hört?
Es bricht in der Tat – ob vor oder abseits der Kamera – selten richtig aus mir raus. Jutta hat es sich in ihrer Situation zwar eingerichtet, lässt sich aber trotzdem nicht alles gefallen und begehrt auf, auch wenn das nicht zu grundliegenden Veränderungen führt. Die übernimmt dann ihre Tochter, obwohl der Kiez auch von ihr Besitz ergreift und versucht sie leiser zu machen.
Was an Ihrer Rolle auffällt, ist wie sehr Sie sich dafür seelisch, aber auch körperlich entblößen. Waren Sie je zuvor in einer Rolle nackter als bei dieser?
Seelisch versuche ich immer nackt zu spielen. Körperlich erinnere ich an Arbeiten mit Dominik Graf zum Beispiel oder zuletzt „Faking Hitler“ – nur nicht in dieser Intensivität.
Was macht das mit einer Schauspielerin, sich physisch wie psychisch so auszuziehen?
Ich finde, wenig. Am Anfang hat die Regisseurin uns geraten, alles fallenzulassen wie in den freizügigen Achtzigern. Was mir dabei hilft, ist dass ich beim Drehen gar keinen Plan, kein Bild von mir habe, sondern nur die Rolle bin. Ob die angezogen ist oder splitternackt, verändert demnach kaum etwas für mich, solange Nacktheit etwas erzählt. Dann beschreibt sie Zustände, die von Bedeutung sind. Wir Menschen setzen uns aus so vielen Puzzleteilen zusammen – da gehört Nacktheit einfach dazu.
Es sei denn, sie wird selbstreferenziell, also voyeuristisch?
Genau, aber das spürt man ja schon beim Lesen des Drehbuchs, so wie man jedem Dialog anmerkt, ob er inhaltlich bedeutsam ist oder nicht. Aber obwohl mir Nacktheit normal erscheint, muss ich mich dann auch nicht ausziehen…
Oder nach dem Sex nur mit Bettdecke überm Dekolletee aufstehen, wie im prüden Hollywood…
Stimmt, wobei auch das eine Bedeutung haben kann, sofern es etwas über die Beziehung aussagt, in der es ja trotz Sexualität verklemmt zugehen kann. Bei „Luden“ jedenfalls ging es nie darum, etwas über die Zurschaustellung ihrer Zeit hinaus zu entblößen. Das macht die Serie so gut.
Was machen Sie denn nach so einer intensiven Rolle voller Gewalt jeder Art – müssen Sie da erstmal mit einer Romantic Comedy detoxen oder sind im Gegenteil gestählt für die wirklich harten Stoffe?
Detoxen nein, harte Stoffe ja. Denn je länger ich über die Serie nachdenke, desto klarer wird mir, dass solche Serien nötig sind, um Tabus zu brechen. Deshalb erzählen wir die Geschichte in all ihren Facetten. Nur so kann man sich mit den Figuren identifizieren, und uns aus unseren Mustern lösen. Die Serie lässt schon wegen ihres Humors viel Raum für konstruktive Gedanken. Auch bei mir.
Frau Hain, vielen Dank für das Gespräch.
"Luden - Könige der Reeperbahn", ab sofort bei Prime Video