Herr Spörri, das altehrwürdige Fernsehfilmfestival Baden-Baden in TeleVisionale umzubenennen – war das Ihre Idee zur Amtsübernahme als Chef des Ganzen?
Zunächst mal ist wichtig, dass ich das Festival als künstlerisch Verantwortlicher gleichberechtigt mit der Geschäftsführerin Daniela Ginten leite. Es war also die gemeinsame Idee, uns vom Fernsehen Richtung Streaming zu bewegen und nicht mehr nur Filme, sondern auch Serien zu bewerten. Da war der alte Begriff ausgrenzend. Gemeinsam mit der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste als Veranstalterin und 3sat als Hauptpartner sind wir auf den neuen Namen TeleVisionale gekommen, wo das TV als Kern ebenso drinsteckt wie das Visionäre daran.
Also ändert sich nicht nur der Name, sondern auch das Konzept?
Wir sind uns der großen Tradition von der wundervoll familiären Atmosphäre bis zur öffentlichen Jury-Diskussion bewusst, und diese wollten wir unbedingt aufrechterhalten. Aber sich weiterhin auf 90-Minüter zu fokussieren, war schlichtweg nicht mehr zeitgemäß. Deshalb hat die DADK neben dem Fernsehfilmpreis einen gleichwertigen für deutsche Serien gestiftet mit eigener Jury, die ebenfalls öffentlich tagt: den Deutschen Serienpreis.
Umso mehr fragt man sich, warum Baden-Baden erst so viele Jahre nach „House of Cards“ oder den „Sopranos“ auf den Siegeszug horizontal erzählter Serien springt?
Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich über die Vergangenheit nichts sage. Als neue Leitung war uns wichtig, deutschsprachigen Qualitätsserien mit dem Wettbewerb um den Deutschen Serienpreis einen noch breiteren Raum zu geben und uns gleichzeitig auch beim Fernsehfilmpreis dem Streaming zu öffnen. Dafür haben wir die Einreichbedingungen verändert: Alle Anbieter von Fiktion – private Sender, PayTV und Streamer ebenso wie die Öffentlich-Rechtlichen – dürfen statt wie bisher drei Produktionen nun beliebig viele Werke einreichen. So haben wir bei der Vorauswahl mehr Arbeit, aber auch breitere Qualität, um noch mehr als früher ein Best-of-Festival herausragender Formate des Vorjahrs zu sein.
Wer war denn beim Einreichen am fleißigsten?
Fast alle Anbieter von German Originals aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben eingereicht, was uns sehr freut – auch wenn weiterhin die Öffentlich-Rechtlichen am fleißigsten waren. Dass vier Produktionen des ZDF im Wettbewerb laufen, ist aber keinem Proporz, sondern der Güte geschuldet, die sich bereits im Vorfeld als Teil lebhafter Diskussionen eines progressiven Diskurses in den Auswahlkommissionen rauskristallisiert hatte. Auch während des Festivals lautet unser Motto: Lasst uns über Qualität sprechen! Schon zur weiteren Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist die ungemein wichtig.
Wobei unter Qualität alle etwas anderes verstehen.
Was den Austausch darüber ja nur noch bedeutender macht.
Etwa, ob Qualität in dramaturgischer Tiefe besteht oder internationalem Look & Feel?
Das zeigt sich gut bei den Serien: Wagemutig, innovativ und horizontal erzählt finden wir hier natürlich am wichtigsten, sind aber in jede Richtung offen. Die nominierten Formate reichen deshalb von Highend-Produktionen wie „Der Pass“ oder „Eldorado KaDeWe“, wo eine Ästhetik der 1920er Jahre auf die von heute trifft, bis zur Impro-Serie „Das Begräbnis“. Besonders im seriellen Bereich schafft das einen Querschnitt von internationalem Anspruch bis zum außergewöhnlichen Experiment.
Ist der Querschnitt im Allgemeinen wichtiger als die Qualität im Besonderen?
Mir ist wichtig, zu zeigen, dass im deutschsprachigen Raum mehr als Krimis entstehen. Trotzdem war der erste Ansatz, fünf herausragende, innovative Serien zu nominieren und danach aufs Genre zu schauen. Wir wollen es belohnen, wenn jemand was wagt – allen voran mutige Redakteur*innen, die in ihren Häusern oft schwer zu kämpfen haben, weil Wagemut allein keine Quoten bringt. Dafür soll Baden-Baden noch mehr Rückenwind bieten. Bei uns werden Aushängeschilder prämiert.
Haben Sie persönlich Favoriten?
Die zehn Wettbewerbsbeiträge für den Fernsehfilmpreis unter den gut 200 eingereichten wären auch bei mir mindestens in den Top 30. Dass ich hier auf einer Linie mit den Mitgliedern der Akademie aus Film, Fernsehen, Theater und Hörspiel liege, die fünf Nominierungen per demokratischer Abstimmung wählen durften, finde ich großartig. Wer sich die Mühe macht, die 15 ausgewählten Produktionen in fünf Tagen anzusehen, kommt vermutlich nicht umhin zu sagen: Wow, ich wusste gar nicht, wie gut deutsches Fernsehen ist.
Das müssen Sie als Ausrichter eines Festivals im Dienst deutscher Fiktion so sagen!
Wissen Sie: der deutsche Film ist meine große Leidenschaft, für die ich seit zwei Jahrzehnten brenne. Schon während des Studiums habe ich fürs Mainzer FILMZ-Festival gearbeitet, seitdem beim Filmfestival Max Ophüls Preis, dem Filmfest München oder dem Deutschen Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt, wo ich die Reihe „Was tut sich im deutschen Film?“ kuratiere. Und seit der Jahrtausendwende hat sich im deutschen Filmgeschehen ja auch wirklich viel getan.
Wodurch vor allem?
Die Digitalisierung hat zu einer Bandbreite an exzellenten Produktionen geführt, die leider oft übersehen werden, weil sie keine Marketingbudgets haben und auf Festivals Preise gewinnen, aber im Kino untergehen.
Jetzt reden Sie vom Kino…
...das mit dem Fernsehen aufs Engste verzahnt ist. Fast jeder Kinofilm wird dort koproduziert, also mitfinanziert. Deswegen finde ich es so wichtig, diese Dualität weiter ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Das Image des deutschen Films hält mit seiner Realität noch immer nicht Schritt. Umso wichtiger ist ein Festival für die besten deutschsprachigen Fernsehfilme und Serien, das keinen Wert auf Premieren mit rotem Teppich legt.
Angesichts der Vielzahl deutscher Produktionen spricht man von Masse statt Klasse…
Aber gerade durch die mangelnde Mengenbeschränkung finden wir hierzulande Perlen und Talente einer Güte, um die sich andere Länder vermutlich reißen würden.
Anke Engelke hat Sie mal als wunderbaren Moderator bezeichnet. Meinte sie Ihre Bühnenpräsenz oder die Fähigkeit, zwischen Masse und Klasse, Leinwand und Bildschirm, Feuilleton und Publikum zu vermitteln?
Ich bedanke mich fürs Kompliment und verstehe mich schon als moderierendes Bindeglied solcher Welten. Meine Motivation für diesen Beruf bestand vor allem darin, dass die Mühen all der tollen Leute, die an der Produktion guter Filme beteiligt sind, wahrgenommen und honoriert werden. Der Austausch übers Gesehene kommt da immer noch zu kurz. Deshalb gehen wir in Baden-Baden einen Schritt über sämtliche Sendergrenzen hinweg weiter und bieten allen Beteiligten Raum zur zwanglosen Debatte. Dafür haben wir Orte eingerichtet, damit Kreative und Produzierende mit Kritik und Publikum in Kontakt treten.
Die Nachtgespräche im Kaminzimmer zum Beispiel.
Genau. Oder die neu geschaffenen Lounges in der Bel Etage des Baden-Badener Kurhauses, wo sich auf engstem Raum das komplette Festivalgeschehen abspielt. Wir verstehen uns als Gastgeber und Unterstützer der Menschen, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz Fiktion schaffen und legen großen Wert darauf, damit etwas Größeres entstehen kann.
Die Verbindung aus Beruf und Freizeit gewissermaßen.
Die notwendig ist. Ob Projekte realisierbar sind, hängt grundsätzlich an Menschen, die es machen und sehen wollen. Kooperationen wie die von Sky und ARD bei „Babylon Berlin“ sind dafür wegweisende Beispiele engagierter Redakteur*innen der Sender und Anstalten.
Sie gendern bemerkenswert konsequent. Etwas weniger gendert dagegen die Liste der Kreativen hinter den TeleVisionale-Kandidaten.
Ah, ja?
Nur bei drei der zehn Wettbewerbsfilme sind Buch und Regie weiblich. Spiegelt das die Mengenverhältnisse der Branche wider oder ist es ein Versehen?
Bei den Serien ist das Verhältnis ausgewogener, zwei der fünf nominierten Staffeln wurden von Frauen kreiert. Natürlich ist unser Anspruch, der Diversität und Geschlechtergerechtigkeit Rechnung zu tragen. Am Ende sind wir aber auf das angewiesen, was eingereicht wird. Unser Auswahlprozess ist demokratisch, die Akademiemitglieder nominieren fünf Filme. Hier haben wir keinen Einfluss auf die Wahl. Worauf wir Einfluss nehmen, waren hingegen die Kommissionen, die aus meiner Vorauswahl von 40 aus 200 Filmen jeweils fünf bestimmt haben; und da ist uns immer ein 3:2-Verhältnis gelungen.
Welchen Einfluss hat so ein Festival generell über die Zusammensetzung der Filmteams und Kommissionen hinaus aufs Thema Diversität im Fernsehen?
Beim Film ist er nicht groß genug, da herrscht noch Luft nach oben. Aber letztlich möchte ich es den Jurys überlassen, welchen Grad an Diversität sie für wichtig erachten, und die Wahl von Dominik Graf als Jurypräsident Film oder Lavinia Wilson als Jurypräsidentin Serie bietet die bestmögliche Mischung aus Fachkenntnis, Offenheit und klarer Haltung.
Darüber hinaus fällt noch ein Missverhältnis auf: den Jurys fehlen die Gewerke. Neben Regie, Buch, Produktion, Wissenschaft und Casting gibt es niemand aus Bereichen wie Kamera, Schnitt, Ton, Maske, Kostüm, also abseits vom Rampenlicht.
Das hat aber weniger mit Vorsatz als Terminplänen zu tun. Wir haben eine Reihe von Leuten angesprochen, aber fünf Tage am Stück Anwesenheit schaffen viele einfach nicht. Was allerdings mit einer positiven Entwicklung zu tun hat: in Deutschland wird so viel gedreht wie nie, der November ist für viele ausgebucht. Aber auch hier kann sich einiges entwickeln in Baden-Baden.
Was müsste geschehen, damit das Festival nach fünf Tagen als voller Erfolg gilt?
Dass wir nicht nur Sieger – übrigens auch mit dem MFG-Star oder dem 3sat-Publikumspreis – küren und als Austauschplattform von Streaming oder Fernsehen firmieren, sondern es alle Seiten für notwendig erachten, vor Ort teilzunehmen. Wir wollen der führende Branchentreff sein und hoffen, dass alle Beteiligten wichtige Impulse aus unseren Qualitätsdebatten ziehen.
Nämlich?
Dass unterschiedliche Perspektiven gehört, Qualitätsthemen neu reflektiert werden. Und dass offen über Kriterien jenseits der Quote für Qualität und Erfolg von Fernsehfilmen und Serien nachgedacht wird.
Das läuft aber nicht auf ein Communiqué heraus, das am Ende herausgegeben wird?
Nein, aber auf rote Fäden, die sich etwa durchs neue Talkformat Black Box Baden-Baden ziehen, wo wir spannende Branchenvertreter*innen nach ihrer Haltung zur Qualität befragen und mit einer großen Podiumsdiskussion als Gipfeltreffen Fiction-Verantwortlicher von Netflix, Amazon, Sky, RTL und WDR abbinden. Mein Wunschtraum ist es, den Redakteur*innen damit Impulse für ein Set an Argumenten an die Hand zu geben, das ihnen bei der Umsetzung von Qualitätsstoffen behilflich sein kann.
Und was wäre eines fürs Misslingen?
Meine größte Sorge ist, dass uns Corona wieder einen Strich durch die Präsenzveranstaltung macht. Doch auch hier ich bin optimistisch.