Herr Pflüger, sie kündigen für Prime Video an, die Schlagzahl der Original-Produktionen in Deutschland zu erhöhen. Was bedeutet das?
Prime Video hat bereits eine Historie von starken Originals im deutschen Markt, darunter zuletzt u.a. die preisgekrönten Produktionen „LOL - Last one Laughing“ oder „Die Discounter“. Aber 2023 wird unser erstes Jahr, für das wir ein wirklich umfassendes Slate mit großer Genre-Vielfalt präsentieren können. Das ist schon länger in Vorbereitung als ich bei Prime Video bin - große fiktionale Projekte haben auch ihre Entwicklungs- und Produktionsvorläufe -, aber ich freue mich sehr, das jetzt fürs nächste Jahr ankündigen zu können. In der Fiction mit dem Reeperbahn-Epos „Luden“, der Hohlbein-Verfilmung „Der Greif“ und „Die Therapie“, basierend auf Sebastian Fitzeks gleichnamigen Bestseller. Dazu ein so starkes Non-Scripted-Angebot wie noch nie, über das wir sicher noch sprechen. Damit wird 2023 ein Vorgeschmack auf das, was wir in den kommenden Jahren weiter ausbauen wollen.
Es gibt also kein Genre mehr, in dem Sie nicht angreifen wollen?
Absolut. Wir haben keine Scheuklappen und wollen unseren Kundinnen und Kunden ein Vollprogramm bieten mit allen Entertainment-Genres, die gefragt sind. Da gehört nicht nur die Serie dazu - und das haben wir ja schon mehrfach bewiesen. Als erster Streamingdienst sind wir mit der Champions League auch in den Live-Sport eingestiegen und haben mit „LOL“ den ersten Comedy-Formathit gelandet, dessen dritte Staffel gerade zu meinem Antritt bei Prime Video wieder fantastische Werte geholt hat. In der Erfolgsspur wollen wir im Non-Scripted-Bereich weitermachen und freuen uns dabei auf die Zusammenarbeit mit herausragenden Talenten wie Teddy Teclebrhan, den wir exklusiv unter Vertrag genommen haben, aber auch Martina Hill und Joko Winterscheidt, der mit einem spannenden Projekt zu Prime Video kommt.
Gerade erst hatte Seven.One Entertainment die Vertragsverlängerung mit Joko & Klaas angekündigt. Was macht Herr Winterscheidt dann jetzt bei Ihnen?
(lacht) Tja, wir wollten mit Joko schon lange was gemeinsam machen. Jetzt haben wir eine ganz besondere Show miteinander produziert, die man sich einfach ansehen muss. Mehr kann ich dazu jetzt noch nicht sagen. Aber ich kann Sie beruhigen: Niemand ist vertragsbrüchig geworden.
Neben Winterscheidt arbeiten Sie mit einer weiteren Künstlerin, die Sie noch aus Ihren Zeiten bei Seven.One Entertainment kennen: Martina Hill, die eine Sketchcomedy für Sie macht. Das Genre hatte ich eher im werbefinanzierten Fernsehen verortet…
Martina Hill ist einfach so gut, dass man nicht nicht mit ihr arbeiten kann. Das hat uns die Königin der Sketchcomedy auch bei „LOL" wieder bewiesen und daraus bestand das Bedürfnis mehr mit ihr zu machen. In „Hillarious“ wird sie für uns mit prominenten Gästen in altbekannte und neue Charaktere schlüpfen. Dass das Genre für Streaming eher ungewöhnlich ist, macht es für uns eigentlich nur umso reizvoller. Produziert wird die Show übrigens von Redseven Entertainment in Zusammenarbeit mit Hillux Film- und Fernsehproduktion.
Jetzt klang „LOL“ schon so oft an. Die nächste Staffel der Comedyshow von Constantin Entertainment kommt erst im Frühjahr 2023, während die ersten drei Staffeln schneller hintereinander kamen. Woran liegt’s?
Wir wollen mit starken Formaten auch wiederkehrende Rituale bieten und damit Vorfreude fördern. Staffel 1 und Staffel 3 sind jeweils rund um Ostern gelaufen und wir wollen diese Tradition fortführen mit einer Staffel im Jahr. Bei der Vielzahl neuer Projekte fügt es sich so auch am Besten in unser Slate ein.
Und wer ist diesmal mit dabei?
Wir haben wieder ganz großartige Persönlichkeiten dabei. Ich kann schon einmal Martina Hill, Cordula Stratmann, Moritz Bleibtreu, Hazel Brugger, Jan van Weyde, Elton, Michael Mittermeier und Kurt Krömer bestätigen.
Das Genre Reality liegt gerade hoch im Kurs: Spielt das bei Prime Video in Deutschland auch eine Rolle?
Also: Wir haben keine Scheuklappen und blenden keine Genres aus. Es ist oft ein schmaler Grat: Es müsste eindeutig genug neu und anders sein als das, was man bisher gesehen hat. Aber dann wiederum ist das Publikum auch nur bedingt bereit, sich auf eine neue Variation des Genres einzulassen, wenn die ihn nicht gleich auf den allerersten Blick überzeugt. Also die Ideen müssen neu sein, aber sich gleichzeitig den Zuschauern auch sofort erschließen.
Aber bei dem schmalen Grat kann man dann auch Joko Winterscheidt und Martina Hill die Daumen drücken, in wiefern das eindeutig genug neu und anders wird…
(lacht) Da müssen Sie sich keine Sorgen machen. Zu Joko kann ich so viel sagen: Die Show wird ganz anders als das, was wir bisher von ihm kennen.
Die ARD hatte vor wenigen Wochen eine Doku-Serie über Jan Ullrich. Jetzt kündigen Sie mit „Jan Ullrich - Der Gejagte“ ebenfalls eine Serie an. Weshalb braucht es noch eine Produktion?
Unser Ansatz bei den Dokumentationen, egal ob im Sport oder bei Persönlichkeiten der Unterhaltung, ist der exklusive Zugang, dank dem wir unsere Zuschauerinnen und Zuschauer mitnehmen können zu Momenten, die sie sonst noch nie gesehen haben. Wir sprechen nicht nur über Themen und Personen, sondern mit ihnen. Das galt schon bei Borussia Dortmund, dem FC Bayern und Bushido. Wir sind nah dran, auch hier bei dem vierteiligen Projekt von Constantin Dokumentation, das mit Jan Ullrich entsteht und sich selbstkritisch den Höhen und Tiefen seiner Karriere widmet. Es wird Klartext geben von ihm. Nah dran sein, das gilt auch für „Apache bleibt gleich“, unserem Dokumentarfilm über den deutschen Rapstar, die schon am 23. September online geht - und bei „All or Nothing“, wo wir uns darauf freuen die deutsche Herren-Nationalmannschaft auf dem Weg zur und bei der FIFA-WM in Katar zu verfolgen. Ein Projekt, das zusammen mit UFA Documentary entsteht.
Das ist aber auch kein ganz leichtes Unterfangen angesichts der Kritik am Gastgeberland Katar und bei der Fußball-EM der Frauen war die Frage: Mit wie viel Distanz entstehen Doku-Serien über die Nationalmannschaft…
Also zunächst einmal ist es uns eine große Ehre nach Dortmund und den Bayern jetzt die Nationalmannschaft der Herren zu begleiten und Fans der „All or Nothing“-Serie wissen: Uns geht es um den Sport und darum, der Mannschaft so nah wie möglich zu kommen, bei ihren Vorbereitungen und dem sportlichen Wettkampf vor Ort. Menschlich, emotional und nahbar erzählt. Wir drehen keine Dokumentation darüber, ob die WM in Katar stattfinden sollte oder nicht, sondern über den Weg unserer Fußball-Nationalmannschaft dorthin und den Wettkampf vor Ort.
Okay. Nochmal zu den Eigenproduktionen: Wäre es korrekt zu sagen, dass „Die Discounter" auch für Prime Video so etwas wie ein überraschender Hit wurden?
Ich war noch nicht da als die erste Staffel erschienen ist, aber ich habe mich ohne Frage und Wimpernzucken für eine zweite Staffel entschieden. „Die Discounter“ hat einfach einen Nerv getroffen, dank einer starken kreativen Truppe mit einer ganz eigenen Handschrift und Tonalität. Das ist sicherlich kein Format, das über alle Alters- und Zielgruppen funktioniert, aber war ein großer Erfolg bei unseren jüngsten Kundinnen und Kunden. Das hat uns gefreut und da knüpfen wir im November an mit mehreren Formaten, die sich besonders ans junge Publikum wenden: Da kommen der Liebesfilm „Sachertorte" ebenso wie die Comedyserie „Love Addicts“ und die zweite Staffel von „Die Discounter“.
Jung war auch „Damaged Goods“ mit Sophie Passmann in der Hauptrolle. Geht das weiter?
„Damaged Goods“ war ganz toll und Sophie Passmann hat bei ihrer Schauspiel-Premiere brillant gespielt. Das hat uns sehr dabei geholfen, ganz spezifisch die junge Zielgruppe zu erreichen. Im Moment fokussieren wir uns aber auf neue Serienideen und Geschichten.
Die anderen Projekte kommen alle gebündelt im November, im Oktober dafür nichts aus Deutschland. Wie kommt’s?
Wir haben im Oktober auch starke internationale Inhalte, nicht zuletzt das Finale von „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“, aber wir experimentieren auch mit der Programmierung unserer deutschen Programme und haben uns im November explizit für einen konzentrierten Start dieser jungen Programme entschieden.
Jetzt gibt es neuerdings die Diskussion, wie Streamingdienste ihre lokalen Eigenproduktionen verstehen: Bei „Die Discounter“ war sicherlich nicht die weltweite Verbreitung ein Grund der Beauftragung oder? Gilt also - anders als etwa bei „You Are Wanted“ - wieder mehr lokal für lokal?
Das kann man gar nicht so kategorisch beantworten. In allererster Linie ist es unsere Aufgabe, unsere deutschsprachige Kundschaft zu erreichen und zu begeistern. Dazu kommt die Tatsache, dass es Streamingdiensten zu verdanken ist, dass wir alle inzwischen durchaus auch mal Produktionen entdecken, die aus Fernsehmärkten kommen, aus denen früher vielleicht kein Sender etwas eingekauft hätte. Da gab es schon eine enorme Öffnung für Inhalte jenseits der USA. Deswegen gibt es natürlich auch Produktionen, bei denen wir direkt das internationale Potential sehen. Das gilt ganz sicher für Projekte wie „Der Greif“ oder „Luden“. Aber das hält uns nicht davon ab, Ideen zu realisieren, bei denen unser deutsches Publikum im Mittelpunkt steht. Und wenn es dann doch um die Welt reist, umso toller.
Stichwort Publikum: Wie sieht das aus? Streaming ist allgegenwärtig geworden. Was bedeutet das für die Publikumsansprache?
Unsere Zielgruppe hat sich definitiv verändert, erweitert. Streaming stand in den frühen Jahren für Highend-Serien, womit einerseits der Production Value gemeint sein kann oder aber besonders anspruchsvolle, ungewöhnliche Projekte wie sie Prime Video gleich zu Beginn mit „Transparent“ vorgelegt hat. Diese Projekte haben sicher ganz stark die Streaming-Entwicklung der ersten Jahre geprägt, in denen ein Publikum angesprochen wurde, was sich im Angebot des linearen Fernsehens nicht wiedergefunden hat. Aber das Wachstum des Streamings allgemein und Prime Video im Besonderen sorgt dafür, dass wir unser Programm für weitaus mehr Menschen machen als jene Zielgruppe. Unser Kundenstamm ist breiter geworden, darunter auch viele Menschen, die länger noch im linearen Fernsehen zuhause waren und Streaming neu entdeckt haben.
Wo wir gerade bei Gewohnheiten sind: Eine wiederkehrende Frage ist die der Veröffentlichung neuer Inhalte. Bei „Die Ringe der Macht“ setzt Prime Video auf wöchentlich neue Folgen. Gewinnt das Prinzip Vorfreude über Bingewatching?
Eine Verabredung mit gutem Programm ist eine schöne Sache, aber wir entscheiden das weiter von Fall zu Fall. Wir wägen da immer die zwei denkbaren Perspektiven ab: Auf der einen Seite ist es genial, wenn ich in der Lage bin, alles auf einmal wegzugucken. Aber auf der anderen Seite gibt es auch bei immer mehr Angeboten einen Overload an Inhalten und ganze Staffeln können auch erschlagen. Und gerade bei epischen Geschichten wie bei „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ hilft es, wenn man in der Lage ist, sich über den Fortgang der Geschichte auszutauschen. Das ist ein synchronisiertes Erlebnis und kein Wettbewerb darum, wer zuerst durch ist. Ich finde, dass das hilft, sich wieder inhaltlich mit Freunden und Familie über tolle Programme auszutauschen, auch bei „LOL“. Das hat dann auch etwas von Lagerfeuer-Moment, vielleicht abgesehen vom Live-Sport nicht notwendigerweise gemeinsam am gleichen Abend, aber zeitnah.
Wie viel Originals braucht Prime Video? Sie erhöhen die Schlagzahl, sagen Sie…
Das tun wir, wie Sie merken. Aber wir produzieren auch weiterhin nicht Masse. Das brauchen wir gar nicht. Wir haben für unsere Kundinnen und Kunden ja genügend Quellen für Content. Prime Video ist mehr als unser eigenes SVoD-Angebot. Wir haben sehr früh die Prime Video Channels etabliert und freuen uns, dass in den kommenden Monaten mit discovery+ und Paramount+ zwei weitere Dienste auch über uns verfügbar sind. Kurz nach Kinoauswertung gibt es Möglichkeit, brandneue Filme zu kaufen oder zu leihen und mit Amazon Freevee gibt es ein neues kostenfreies weil werbeunterstütztes Streaming-Angebot auch mit tollen Originals. Das alles gibt es bei uns an einer Stelle. Wenn wir aber jetzt zurückkommen zu den Originals von Prime Video, dann geht es eben nicht um die Menge, aber darum, jedes einzelne Mal einen Leuchtturm zu haben. Bei uns ist eben immer Prime-Time (lacht).
Nachfrage an Sie als Ex-Sat.1-Senderchef: Ist das einfacher oder schwerer als für einen linearen Sender Programm zu machen?
Es ist einfach anders. Und es ist ja auch nicht alles schlecht am linearen Fernsehen. Was wir zum Beispiel nicht haben, sind natürlich Dinge wie gelernte Sendeplätze oder einen Audience Flow. Wir haben keine „Tagesschau“ oder „GZSZ“, wo man sich sicher sein kann, dass neue Ideen angeschoben werden. Wir müssen mit jeder Programmidee dafür sorgen, dass der Impuls groß genug ist, sich zuhause auf dem Sofa oder unterwegs für Prime Video zu entscheiden. Die Freiheit für unsere Kreativen bedeutet also auch die Notwendigkeit, Programm zu machen, das gut genug ist, um für sich zu stehen. Marketing zum Programmstart hilft natürlich auch und „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ hat gerade erst gut gezeigt, wozu wir in der Lage sind, wenn es darum geht, für Aufmerksamkeit zu sorgen. (lacht)
Das dürfte die Macherinnen und Macher der großen deutschen Serienprojekte freuen. Können Sie da mal einen Fahrplan nennen, wann welche Serien kommen werden?
Im Frühjahr 2023 kommt „Luden“ von der Neuesuper, das einen starken, eindrücklichen Sog entwickelt. In meiner ersten Woche bei Prime Video konnte ich gleich die ersten beiden Folgen sichten und war fasziniert. Das gilt auch für „Der Greif“ von W&B Television. Das sind beides Serien, die ohne Frage auch im internationalen Portfolio eine große Rolle spielen werden. „Der Greif“ folgt dann Mitte 2023 und die Fitzek-Verfilmung „Die Therapie“, von der ich jetzt erste Ausschnitte gesehen habe, kommt im Herbst 2023. Das produziert Ziegler Film für uns. „Save Me“ von UFA Fiction, wo wir gerade den Cast angekündigt haben und jetzt drehen, ist eher etwas für Ende 2023 oder 2024. Mit „Love Addicts“ starten wir am 30. November eine junge, freche Comedy-Serie von Warner International Television, u.a. mit Annette Frier. Nicht vergessen möchte ich „Friedliche Weihnachten“ von Produzent Thomas Peter Friedl, unsere prominent besetzte Weihnachtsserie, die am 9. Dezember auf den Service geht. Und mit „German Crime Story: Gefesselt“ haben wir Anfang 2023 unsere erste True-Crime-Serie von der Neuen Bioskop Television u.a. mit Oliver Masucci und Angelina Häntsch.
Herr Pflüger, herzlichen Dank für das Gespräch.