Frau Tollert, ab 2023 können Sie erstmals Werbung auf Netflix und Disney+ schalten. Haben Sie und Ihre Kunden darauf gewartet?
Ja, das kann man durchaus sagen. Bewegtbild braucht Reichweite – und in dieser Hinsicht leisten zwei solche Big Player, die bislang kein vermarktbares Inventar hatten, natürlich einen wesentlichen Beitrag, die verfügbare Reichweite signifikant zu erhöhen.
Wie wird das den deutschen TV-Werbemarkt beeinflussen? Müssen sich die Sender auf stärkeren Druck einstellen?
Wir befinden uns nach wie vor in einer Marktsituation, in der die Nachfrage nach Bewegtbild-Inventar weit größer ist als das Angebot. Insofern würde ich auf absehbare Zeit keinen Verdrängungswettbewerb erwarten. Dennoch glaube ich, dass der Einstieg von Anbietern wie Netflix, Disney+ und anderen den Markt signifikant verändern wird. Momentan haben wir in Deutschland quasi ein Duopol der beiden großen TV-Vermarkter. Je nachdem, wie viel Reichweite die neuen Player vermarktbar machen, kann das den Markt ein Stück weit verschieben. Und je nach Preisgefüge, das wir bislang noch nicht kennen, wird es Auswirkungen auf die Preise der TV-Sender und ihrer jeweiligen Streaming-Angebote geben. Es gibt ja durchaus jüngere Zielgruppen, die wir über die klassischen TV-Angebote nur noch bedingt ansprechen können. Da werden uns die Streaming-Plattformen massiv weiterhelfen, während lineares TV allenfalls noch Ergänzungsmedium ist. Umgekehrt erreichen wir ältere Zielgruppen nach wie vor mit den gelernten Sendern und Inhalten; dort bildet Streaming die Ergänzung.
Anders als im TV oder auf YouTube ist Werbung im SVoD [Subscription Video-on-Demand] nicht unbedingt gelernt und lässt sich auch künftig vermeiden, wenn man das teurere Abo bucht. Besteht da nicht das Risiko, dass Sie mit Ihrer Werbung nur diejenigen erreichen, die sparen wollen, während die kaufkräftigen Konsumenten weiter werbefrei gucken?
Das könnte man auf den ersten Blick vielleicht annehmen, aber ich halte das Szenario trotzdem für unwahrscheinlich. Die Anzahl der Abo-Anbieter ist in letzter Zeit so massiv gestiegen, dass kein Mensch mehr alles gucken kann. Auch und gerade die kaufkräftigeren Zielgruppen haben nicht unendlich viel Zeit, all diese Angebote zu nutzen. Möglicherweise findet man bei Anbieter X nur eine bestimmte Serie interessant und den Rest nicht. Insofern dürfte quer durch alle Zielgruppen die Abwägung, wie viel man zu zahlen bereit ist und wie viel Werbung man im Gegenzug toleriert, eine immer größere Rolle spielen.
Dass Werbung damit zum notwendigen Übel für Streaming-Abonnenten wird, sehen Sie nicht als Imageproblem?
Wir wissen aus zahlreichen Studien: Wenn Werbung relevant ist, wird sie nicht als störend wahrgenommen. Getreu unserem Motto "We make advertising work better for people" ist unser Anspruch als Media-Agentur, Werbung so an die richtige Zielgruppe auszuspielen, dass diese sie genau in diesem Moment als relevant empfindet. Diese Herausforderung müssen wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus den Kreativagenturen annehmen.
Was heißt denn 'relevant' konkret aus Media-Sicht?
Wir müssen uns ganz genau überlegen, für welche Zielgruppe, in welchem Moment und mit welcher Frequenz ein Spot informativ, lösungsorientiert oder auch einfach nur unterhaltsam sein kann. Was mich zum Beispiel persönlich immer maßlos gestört hat, war verfehltes Retargeting: Ich habe irgendwas online gekauft und bekomme die Werbung dafür dann trotzdem noch wochenlang ständig angezeigt. Das ist das Gegenteil von relevant.
"Im Connected TV stecken wir technisch teilweise noch in den Kinderschuhen"
Daniela Tollert, GroupM
In der Praxis laufen in etlichen AVoD-Umfeldern [Ad-Supported Video-on-Demand] und FAST-Channels [Free Ad-Supported Streaming Television] zigmal hintereinander dieselben zwei, drei Spots. Das ist nicht relevant, sondern nervig.
Solange insgesamt nur wenig Fläche zur Verfügung steht, kommt es mitunter zu überhöhten Frequenzen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass wir im Connected TV technisch teilweise noch in den Kinderschuhen stecken. Aus der Online-Display-Werbung sind wir es inzwischen gewohnt, dass wir die Schaltfrequenzen selbst aussteuern können. Das ist auf dem Big Screen noch nicht überall möglich. Je nach Partner können wir die Kampagne nur einbuchen, aber die Optimierung erfolgt dann dort intern. Gerade mit einigen großen Partnern haben wir immer wieder die Diskussion, dass wir programmatische Kampagnen nicht über die bekannten DSPs [Demand Side Platforms, die Schnittstellen für automatisierten Einkauf von Werbeplätzen, Anm. d. Red.] oder eigene Lösungen aussteuern können, sondern vor einer Art Black Box stehen.
Sie haben auch die Kreativagenturen angesprochen. Netflix-Boss Reed Hastings hofft darauf, dass seine Plattform bessere, kreativere Werbung anzieht als klassisches TV. Dabei ist die Forderung, TV-Spots müssten kreativer werden, fast so alt wie das Fernsehen selbst.
Das Dilemma liegt schon darin, dass die Bewertung von Kreativität höchst subjektiv ist. Was ich aber spannend finde: Wir sind mittlerweile in der Lage, sogenannte DCO-Kampagnen, also Dynamic Creative Optimization, auch auf dem Big Screen auszusteuern. Das funktioniert ähnlich wie bereits in der digitalen Display-Werbung: Je nach Zielgruppe, zum Beispiel in Verbindung mit Location-Informationen, werden Werbemittel in Echtzeit dynamisch generiert. Auf diese Weise können Media und Kreation gemeinschaftlich relevanteren Content auch im TV ausspielen. Die Optimierung erfolgt auf Basis von Daten, nicht auf Basis unserer persönlichen Bewertung. Wir haben gerade als First Mover die erste DCO-Kampagne auf dem Big Screen für einen unserer Kunden umgesetzt.
"Durch neue Anbieter wie AdScanner oder Samba TV entsteht deutlicher Bewegungsdruck auf die AGF, was sehr zu begrüßen ist"
Daniela Tollert, GroupM
Haben Sie eine Prognose, wie sich der Werbemarkt zwischen AVoD, SVoD, FAST und linearem TV in den nächsten Jahren aufteilen wird?
Das ist eine spannende Frage, zumal sich die Begrifflichkeiten ja zunehmend überschneiden. Jede SVoD-Plattform, die sich jetzt für Werbevermarktung öffnet, ist ja dann gleichzeitig auch AVoD. Vermutlich werden wir das also bald anders nennen. Aber unabhängig von den Begrifflichkeiten glaube ich, dass die Angebote dahinter jeweils eine eigenständige Relevanz haben, auch künftig nebeneinander zu existieren.
Reed Hastings meint, das lineare TV werde in fünf bis zehn Jahren zu Ende gehen.
Das glaube ich nicht. Eine weitere Verschiebung in Richtung Streaming werden wir sicher erleben, die Reichweiten im linearen Fernsehen werden wohl auch nicht mehr steigen. Aber für eine Abschaltung in fünf bis zehn Jahren werden einfach noch zu viele Menschen darüber erreicht und – aus Anbietersicht – zu hohe Erlöse realisiert, als dass man darauf verzichten würde.
Angesichts der verschiedenen, nebeneinander existierenden Bewegtbild-Kategorien werden bei der Messung von Reichweiten öfter mal Äpfel mit Birnen verglichen. Wie bewerten Sie die Entwicklung von Transparenz und Marktstandards?
Ich persönlich glaube, dass wir den Heiligen Gral noch nicht gefunden haben. Aber immerhin macht der deutsche Markt gerade eine spannende Entwicklung durch. Durch neue Anbieter wie AdScanner oder Samba TV entsteht deutlicher Bewegungsdruck auf die AGF, was sehr zu begrüßen ist. Dort erleben wir momentan mehr Aufbruch und Erneuerung als in den letzten 20 Jahren. Wenn man aber zum Beispiel auf unsere Nachbarn in Österreich schaut, dann gibt es dort noch viel weitreichendere Ansätze wie etwa TV-Insight, die mit einer Echtzeitmessung von 1,1 Millionen verbundenen Fernsehgeräten eine Live-Optimierung ermöglichen. Es ist höchste Zeit, solche Diskussionen zu führen, und den Diskussionen dann auch zügig Taten folgen zu lassen.
Netflix & Co. sind bisher nicht gerade für Transparenz berühmt. Wird sich das mit dem Einstieg in die Werbevermarktung ändern müssen?
Die In-App-Vermarktung unterliegt strengen Datenschutzrichtlinien. Wenn der jeweilige Anbieter nicht alles teilt, was für Kunden spannend wäre, liegt das also nicht unbedingt immer daran, dass er nicht will, sondern dass er nicht darf. Generell muss man aber zur breiteren Einordnung Ihrer Frage feststellen: Wenn es wirklich um relevante Reichweiten geht, dann wollen unsere Kunden zurecht einen Beleg dafür sehen, wie diese Reichweiten zustande kommen. Wer hierzulande mit dem Markt wachsen und das Duopol zu einem Multi-Anbieter-Markt weiterentwickeln möchte, wird nicht umhinkommen, transparente Daten zur Verfügung zu stellen. Sonst wird man immer nur 'nice to have' sein und in der Nische bleiben.
Also Netflix, Amazon und Disney rein in die AGF – trotz der leidvollen Erfahrungen mit YouTube?
Ich würde die Gegenfrage stellen: Was hat der Markt davon, wenn es keine gemeinsame Grundlage gibt, auf der Kunden die Transparenz bekommen, die sie für ihre Media-Investitionen brauchen? Ob das die AGF ist oder eine andere Grundlage – da bin ich unpolitisch, aber optimistisch, dass sich die Version durchsetzen wird, die für die Zukunft die meisten Optionen bietet.
Frau Tollert, herzlichen Dank für das Gespräch.