Herr Gaddum, Herr Grün, immer mehr öffentlich-rechtliche Formate werden gezielt für soziale Netzwerke produziert. Wie groß ist Ihre Abhängigkeit von Plattformen wie YouTube, Instagram oder TikTok?
Eckart Gaddum: Natürlich wollen wir vor allem unsere eigene Plattform stärken. Das ist der Kern unseres Geschäfts. Aber wo wir das Publikum auf diesem Weg nicht unmittelbar erreichen, gehen wir dorthin, wo die Leute sind. Priorität hat unser Auftrag, die ganze Gesellschaft zu adressieren. Dafür nehmen wir die Präsenz auf der Drittplattform in Kauf. Niemand ist ohne Sünde – auch nicht in der digitalen Welt. Aber im Übrigen bewegen wir uns dort nicht im regelfreien Raum, sondern geben uns auch auf externen Plattformen ein klares Regelwerk.
Zum Beispiel?
Gaddum: Auch dort gelten unsere journalistischen Gebote wie Ausgewogenheit, Gründlichkeit usw... Außerdem gehört unsere Loyalität nicht den Plattformen, sondern dem Publikum. An dessen Erwartungen orientieren wir uns. Das ist im Fernsehen auch nicht anders. Und wenn die Karawane weiterzieht, dann ziehen wir mit. Von Facebook haben wir uns hier und da schon verabschiedet.
Userinnen und User von TikTok in die ZDF-Mediathek zu holen, dürfte jedoch ein schwieriges Unterfangen sein.
Gaddum: Hartes Brot, ganz klar – zumal TikTok in seiner Ansprache etwas ganz anderes ist. Die Leute von einem Plattformwechsel zu überzeugen, ist eine Herausforderung. Aber schauen Sie sich zum Beispiel funk an. Das ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie es gelungen ist, in einem kommerziell durchsetzten Umfeld erst einen öffentlich-rechtlichen Raum zu erobern. Und jetzt tragen diese Inhalte auch zum Erfolg der ZDFmediathek bei. Viele, vor allem Jüngere, wissen nicht, was wir ihnen zu bieten haben. Denken Sie an die Tausenden Dokumentationen. Und ganz jenseits der Inhalte – wir wollen auch zeigen, dass wir mit Daten und Algorithmen anders umgehen – transparenter, öffentlich-rechtlicher. Auch auf diesem Feld wollen wir "die Besseren" sein.
Was wissen Sie denn über die Algorithmen der großen Plattformen?
Andreas Grün: Die Expertinnen und Experten, die bei Netflix, Amazon oder YouTube arbeiten, sind auf den großen Konferenzen unterwegs und veröffentlichen sehr viel. Auch von Meta wissen wir inzwischen einiges. Konzepte, aber auch grundsätzliche Strategien bis hin zur technologischen Implementierung sind bekannt. Insbesondere mit Google stehen wir in einem offensiven Austausch. Aber das ist natürlich ein geteiltes Wissen unter Experten, für Nutzerinnen und Nutzer sind die Algorithmen aller Plattformen eine Black Box. Kurz und gut: Wir haben ähnliche Themen, aber gehen unterschiedlich damit um.
Gaddum: Für uns muss es darum gehen, den öffentlich-rechtlichen Auftrag in Algorithmen zu übersetzen.
Wie sieht diese Übersetzung aus?
Grün: Wir haben den Auftrag, die Leute aktiv aus der Bubble herauszuführen und für neue Themen zu begeistern. Dazu entwickeln wir unsere Algorithmen selbst, müssen sie ständig optimieren und mit Sehvolumen und anderen Erfolgsmetriken verbinden. Das ist eine schwierige Aufgabe, an der Redaktionen, Entwicklerinnen und Entwickler, Nutzerinnen und Nutzer, Aufsichtsgremien und Content-Partner beteiligt sind. Dabei ist für uns von zentraler Bedeutung, transparent zu sein, Codes und Regelwerke offen zu legen. Schauen Sie sich allein die Startseite von ZDFinfo in der Mediathek an, die ist mittlerweile zu 100 Prozent automatisiert und damit sehr erfolgreich.
"Wir glauben aber ganz fest daran, dass sich mittelfristig Diversität und Serendipität auszahlen – für alle."
Eckart Gaddum
Im Fernsehen wurde immer argumentiert, dass Unterhaltungsprogramme wichtig sind, um das Publikum etwa für das "heute-journal" zu interessieren. Gibt es in der Mediathek so etwas wie einen Audience Flow?
Grün: Natürlich ist der Audience Flow auch für uns eine ganz relevante Größe. Klar, wenn Leute eine Serie bingen wollen, dann sollten wir sie das machen lassen. Andererseits wollen wir sie aber auch auf das Weltgeschehen hinweisen, etwa mit einem Link auf einen Livestream oder der Empfehlung für ein Informationsformat, das an dieser Stelle passen könnte. Wir nehmen unsere Nutzerinnen und Nutzer ernst, aber auch unseren Auftrag. Diese Balance algorithmisch abzubilden, ist eine ganz wesentliche Aufgabe.
Gaddum: Wir haben einige AB-Tests gemacht, also verschiedene Varianten ausgespielt, und uns die Frage gestellt, was eigentlich passiert, wenn ich einem Nutzer, der die "heute-show" gesehen hat, danach das "heute-journal" anbiete. Die Erfahrungen sind positiv. Wir können nicht bestätigen, dass es Erfolg nur dann gibt, wenn wir die Leute in ihrer Blase lassen. Der Umgang mit Algorithmen zeigt ein Wachstum an Volumen und ein deutliches Mehr an unterschiedlicher Nutzung. Alle 14 Tage werden über Algorithmen und Automatisierung die Hälfte unserer gesamten Mediathek-Inhalte genutzt. Das kann kein Redakteur bauen!
Grün: Es werden auch viele Nischeninhalte geschaut. Der Inhalt trifft die Nutzerinnen und Nutzer über die Empfehlungen. Natürlich sind wir noch nicht zufrieden, sondern schauen, wohin wir das noch entwickeln können. Wir glauben aber ganz fest daran, dass sich mittelfristig Diversität und Serendipität auszahlen – für alle.
Wie wichtig ist es, dass die Userinnen und User in der Mediathek angemeldet sind?
Gaddum: Für uns gilt der Grundsatz, dass alle Inhalte auch ohne Anmeldung zugänglich sein müssen. Natürlich laden wir alle Nutzerinnen und Nutzer ein, sich bei uns zu registrieren, weil wir dadurch mehr über sie erfahren und sie besser bedienen können. Oft können wir die Nutzerinnen und Nutzer über die Altersverifizierung zu einer Anmeldung bewegen. Ein weiterer Antreiber ist seamless viewing, also einen Inhalt beispielsweise über das Handy zu beginnen und abends auf dem Tablet an der gleichen Stelle weiterzuschauen.
Grün: Aktuell haben wir rund 3,7 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer. Fünf bis zehn Prozent der täglichen Nutzung geht auf diese Personen zurück. Das ist nicht wenig, aber auch noch nicht sehr viel. Da wollen wir uns deutlich steigern, indem wir konkrete Mehrwerte liefern.
Wie soll das gelingen?
Gaddum: Dazu muss man vieles gleichzeitig tun: Personalisierung und Automatisierung wie beschrieben massiv vorantreiben – das ist die Antwort auf die Individualisierung der Nutzungeninteressen. Gleichzeitig müssen Suche und Angebotsstruktur verstanden werden. Attraktive Bilder müssen her – da können wir aktuell deutlich besser werden. Und gemeinsam mit der ARD arbeiten wir daran, die Durchlässigkeit unserer eigenständigen Mediatheken auszubauen – durch Verknüpfung der Suchsysteme, wechselseitige Abspielbarkeit und Empfehlungen, einen gemeinsamen Login – so soll für Nutzerinnen und Nutzer ein großer öffentlich-rechtlicher Kosmos entstehen.
Inwiefern trägt die Mediathek heute zur Verjüngung bei?
Gaddum: Wir liegen momentan im Schnitt bei 48 Jahren, haben also immerhin den Fuß zu Jüngeren in der Tür. Unser Ziel ist es, eine attraktive Plattform für die Menschen in den Dreißigern und Vierzigern zu werden. Darauf arbeiten wir mit frischen Inhalten hin, aber auch mit der Weiterentwicklung unseres Frontends, der Usability und einer sinnvollen Ordnungsstruktur der ZDF-Mediathek. Letzteres wird gerne unterschätzt.
Keine Angst vor Netflix und all den anderen Konkurrenten?
Gaddum: Wir betrachten den Markt – gelassen und selbstbewusst. Es gibt zentrale Merkmale, die uns von klassischen Streaming-Plattformen unterscheiden: Wir können „live“. Wir können „Event“. „Vielfalt“ betrachten wir als Stärke. Unser Umgang mit Daten hebt uns von den anderen ab. Und die Vernetzung mit dem linearen TV sowie gemeinsame Planungs- und Produktionsprozesse sind für uns nach wie vor starke Wettbewerbsfaktoren.
Herr Gaddum, Herr Grün, vielen Dank für das Gespräch.