Herr Hermes, am Montag wurde der französische Journalist Frédéric Leclerc-Imhoff in der Region Luhansk erschossen. Sie haben den Vorfall aus nächster Nähe erlebt. Wie ist es dazu gekommen?
Ich bin seit mehreren Tagen im Donbass unterwegs. Mir war es wichtig, auch aus dem Oblast Luhansk zu berichten, solange das noch möglich ist. Das Gebiet soll bereits zu 95 Prozent unter russischer Kontrolle sein. Deshalb sind mein Kameramann Festim Beqiri und ich nach Lyssytschansk gefahren, der einzigen Stadt, die zu diesem Zeitpunkt noch für Journalisten zugänglich war. Doch auch dort ist es gefährlich, von drei Seiten gibt es Dauerbeschuss. Unser Plan war, mit einem humanitären Hilfstransporter in die Gegend zu fahren. In der Hoffnung, dass der eine besonders sichere Route wählt. Doch der Konvoi kam nicht zum verabredeten Zeitpunkt an den Treffpunkt. Nachdem eine halbe Stunde verstrichen war, haben wir uns entschieden, einer anderen Eskorte zu folgen, die zufällig vorbeikam. Das funktionierte gut, wir konnten ausführlich drehen und hatten uns schon auf den Rückweg vorbereitet. Dann tauchte plötzlich ein Laster auf, qualmend und mit einem großen Loch in der Windschutzscheibe. Eine Tür ging auf, ein blutüberströmter Polizist stieg aus. Wir konnten sehen, dass im Wagen eine Person am Boden lag. Es war Frédéric Leclerc-Imhoff, der auf dem Beifahrersitz gesessen und gerade gedreht hatte, als er von einem Splitter getroffen wurde und starb.
Wie ging es weiter?
Zusammen mit seinen beiden Kollegen, die ebenfalls im Wagen waren und alles mit ansehen mussten, sind wir dann in eine nahe gelegene Polizeistation gerannt. Dort warteten wir darauf, evakuiert zu werden. Mein französischer Reporterkollege Maxime Brandstaetter und ich lagen uns in den Armen, wir haben geweint. Die Polizei hat dann eine Eskorte in einem gepanzerten Fahrzeug für uns alle raus aus dem Gebiet organisiert.
Sie haben erzählt, dass Sie eigentlich selbst mit dem Truck unterwegs sein sollen, in dem der französische Kameramann saß. Wie schwer fällt es da, zur Tagesordnung zurückzukehren?
Was ich erlebt habe, kommt mir komplett surreal vor. Ich habe unmittelbar, nachdem wir zurückgekommen sind, in Liveschalten über das Erlebte berichtet. Mit dem Team haben wir am Abend noch lange zusammengesessen und über den Tag gesprochen. Auch das hat geholfen. Am nächsten Morgen habe ich mich direkt wieder in die Arbeit gestürzt, einen Beitrag über den Dreh geschnitten und geschaltet. Da blieb gar nicht so viel Zeit, nochmal in sich zu gehen. Vielleicht habe ich zu einem späteren Zeitpunkt nochmal das Bedürfnis.
"Wer als Journalist in ein Kriegsgebiet geht und dort von der Front berichtet, ist niemals zu einhundert Prozent sicher."
Der Vorfall führt vor Augen, unter welchen Bedingungen Journalisten in der Ukraine arbeiten. Wie versuchen Sie sich unter diesen Umständen zu schützen?
Klar ist: Wer als Journalist in ein Kriegsgebiet geht und dort von der Front berichtet, ist niemals zu einhundert Prozent sicher. Wir versuchen, das Risiko so weit wie möglich zu minimieren. Mit einem Sicherheitsteam, das vor jedem Drehtag eine Einschätzung abgibt, uns vor Ort unterstützt und im Zweifel auch von einer Reise in eine bestimmte Region abrät. Wir tragen Schutzausrüstung, gepanzerte Weste und Helm. Wären wir einem Angriff wie unser französischer Kollege ausgesetzt gewesen, hätte uns aber auch das nicht geschützt.
Warum haben Sie sich dazu entscheiden, aus der Ukraine zu berichten?
Als Reporter mit Leib und Seele möchte ich immer an den Orten sein, die gerade für die Menschen wichtig sind und an denen sich etwas verändert – im positiven wie im negativen Sinne. Nachdem Putin den Angriff auf die Ukraine befohlen hatte, war schnell klar, dass das die Grundordnung in Europa auf Jahre hin verändern würde. Wie sich das Kriegsgeschehen darstellt, erfährt man aber nicht vom Schreibtisch aus. Beide Seiten, sowohl Russland als auch die Ukraine setzen jeden Tag Informationen in die Welt, die natürlich auch ihren strategischen Zielen dienen. Vor Ort kann ich zwar nicht alles selbst überprüfen. Meine Kollegen und ich können uns aber selbst ein Bild der Lage machen, indem wir in die unterschiedlichsten Regionen dieses riesigen Landes reisen und mit den Menschen sprechen. Diese Eindrücke möchte ich mit unseren Zuschauerinnen und Zuschauern teilen.
Wie lange wollen Sie noch vor Ort bleiben?
Als ich das erste Mal über diesen Krieg berichtet habe, war ich am Ende zwei Monate am Stück unterwegs. Jetzt bin ich auch schon wieder einen Monat hier. So lange wird es diesmal nicht, in anderthalb Wochen fahre ich nach Hause und nehme mir eine kurze Pause. Ich bin mir aber sicher, es wird nicht das letzte Mal sein, dass ich in diesem Jahr in die Ukraine reise.
Herr Hermes, vielen Dank für das Gespräch.