Wir leben in Zeiten, in denen immer weniger Menschen Kirchen zugehörig sind. Wie passt "Die Passion" in diese Zeit?
Jacco Doornbos: Wenn Menschen die Kirche verlassen, heißt das nicht, dass es weniger Spiritualität in der Gesellschaft gibt. Heutzutage sprechen die Menschen aber eine andere Sprache; mit der Kirche können sich die jüngeren Generationen zum Teil nicht mehr so identifizieren. Doch gerade für sie entwickeln wir unsere Geschichte: Wir sprechen in "Die Passion" die Sprache der Popkultur, die Sprache von heute. Wir nehmen eine jahrhundertealte Erzählung und versetzen sie in die heutige Kultur, mit der die Menschen sich identifizieren können.
Beispielsweise in den USA haben Gottesdienste oft eine andere, deutlich unterhaltsamere Art, Sinnstiftung und Glauben zu vermitteln als in Deutschland. Ist das die Lücke, die Sie mit "Die Passion" besetzen?
Doornbos: Es ist näher an dem Gospel-Feeling einer Kirche in den USA als deutschen Gottesdiensten, ja, aber es ist noch weitaus überraschender. Mit "Die Passion" erzählen wir die Geschichte, die unserer christlichen Kultur zugrunde liegt – aber nicht als religiöses Spektakel, sondern als musikalisches. Musik ist der beste Träger von Emotionen – und Songs erhalten eine völlig neue Bedeutung, wenn man sie in den Kontext dieser Geschichte setzt. Das ist das Überraschende an "Die Passion".
Weil es schwer fällt, “Die Passion" zu charakterisieren: Könnte man es als Live-Musical verstehen?
Matthias Alberti: Bei dem Begriff Musical tue ich mich schwer, denn der Gedanke daran impliziert etwas, was wir nicht sind. Wir sind nicht im Theater. Wir möchten als Event jedes Jahr wiederkommen, gehen aber nicht auf Tour. Unser Event findet nicht indoor statt, sondern in der gesamten Stadt verteilt. Es ist also schon etwas anderes. Wir haben ein Motto: "Halt dich an mir fest." Das Zeichen dafür, dass wir Glaube und Hoffnung spenden wollen. Musical greift mir da zu kurz.
Doornbos: Vielleicht passt der Begriff "Musical-Film" besser. Nur dass wir diesen Film live in den Straßen der Stadt produzieren und die Dialoge aus deutschen Pop-Songs bestehen. Ich verspreche Ihnen, man merkt schnell: "Die Passion" ist völlig einzigartig.
Entsprechend auch ein Format, das wahrscheinlich auch im Ursprung in den Niederlanden schwer zu verkaufen war?
Doornbos: In den Niederlanden habe ich dafür drei Jahre gebraucht. Jeder sagte mir: "Das klingt verrückt, aber was genau ist es? Ein Film? Ein Musical? Ein Konzert?" Aber das Einmalige ist ja genau das: Wir vereinen all diese Genres zu etwas völlig Neuem.
Wie groß kann man sich die Dimensionen dieses Projekts der „Passion“ für RTL vorstellen?
Alberti: Wir haben am Tag der Veranstaltung ungefähr 350 Mitarbeiter. Dazu kommt das Zwölf-Mann-Orchester und der Chor mit 25 Personen. Insgesamt ist es eine riesige Maschinerie. Michael Herberger ist unser Musical Director. Er hat mit allen die Songs durchgesungen, Arrangements gemacht und so weiter. Wir haben dort das Know-How von "Sing my Song" versammelt. An der Prozession selbst werden dann aufgrund von Sicherheitsmaßnahmen wegen der Corona-Pandemie 100 Menschen teilnehmen. Bei der finalen Station, dem Burgplatz, werden dann rund 5.000 Zuschauer warten. Es ist also eine riesige Maschinerie, der man in Essen auch kaum entkommen kann: Dort sieht man aktuell nur noch "Die Passion". Natürlich müssen wir dafür auch intensiv mit der "Blaulichtfamilie", also Feuerwehr, Polizei und Krankenhaus, zusammenarbeiten.
Zur Location, oder besser gesagt Partnerstadt: Warum Essen, wie kam es dazu?
Doornbos: Essen passt deshalb so gut, weil die Stadt weiß, was Leiden bedeutet. Genauso weiß sie, was das Wiederauferstehen bedeutet: Das Kommen und Gehen der Stahlindustrie, die Zerstörung im zweiten Weltkrieg und der anschließende Wiederaufbau – das Sterben und Wiederauferstehen liegt in der DNA der Stadt. Das passt zu unserer Geschichte. Außerdem wollten wir nicht einfach eine malerische historische Stadt auswählen, weil sich "Die Passion" dann wie eine Erzählung der Vergangenheit angefühlt hätte. Wir erzählen aber eine Geschichte von heute.
Alberti: Bei der Stadt Essen wurde verstanden, was wir vorhaben und dass die Stadt auch einen Mehrwert aus dem Event mitnimmt, denn wir setzen sie in Szene. Stellen Sie sich vor: Die Ankunft der Jünger mit Jesus am Palmsonntag findet in der Buslinie 108 statt. Derweil spielt das Abendmahl im Grillo-Theater. Wir lassen die Stadt Essen als weiteren Schauspieler quasi mitspielen. Im Gegenzug unterstützt die Stadt uns – nicht nur mit Genehmigungen, sondern zum Beispiel auch bei der Arbeit mit dem dortigen Bistum. Der Zug durch die Stadt ist eine echte kirchliche Prozession, die auch in den Büchern verankert ist.
Jetzt sollte all das schon 2020 stattfinden. Nachdem die Entscheidung fiel, es 2022 nochmal zu probieren: Wir oft haben Sie um den zweiten Versuch gebangt?
Alberti: Die Entscheidung, es dieses Jahr wieder zu versuchen, hat RTL im September letzten Jahres gefällt. Wir waren von da an ständig im Austausch mit allen Behörden. Wir hatten mehrere Optionen in der Schublade – in Holland wird es zum Beispiel ohne Publikum gemacht, das war also auch für uns eine Möglichkeit. Wir hatten auch einen Plan für 500 Zuschauer, die auf Baumstämmen hätten sitzen sollen, sodass wir die Abstände markieren können. Jetzt sind es rund 5.000 Menschen auf dem Burgplatz - auf dem eigentlich 14.000 Zuschauer passen. Je nach Infektionslage haben wir uns dem ein oder anderen genähert. Der Zweifel, ob das Event stattfindet oder nicht, war also nie da.
Jetzt war die größte Herausforderung also der Wetterbericht?
Alberti: Und der hat uns seit einer Woche positiv gestimmt. 22 Grad und Sonne am Tag, an dem wir on air in Essen die größte Geschichte der Menschheit erzählen. Das ist ein Zeichen.
Die Daumen sind gedrückt, dass nicht noch ein Frühlingsgewitter dazwischenkommt.
Doornbos: Bevor wir mit "Die Passion" begonnen, kam von allen Seiten immer zunächst die Frage: "Was, wenn es regnet?" Im Jahr 2014 habe ich aber bei einem Event in den Niederlanden die Erfahrung gemacht, dass es bei einem regnerischen Abend sogar noch dramatischer werden kann: Wenn Maria auf der Bühne beleuchtet wird, über ihren Kummer um den Verlust ihres Sohnes singt und man sieht, wie überall das Wasser herunterkommt – dann kannst du nur anfangen zu weinen. Aber natürlich ist es trotzdem einfacher für uns, wenn es nicht regnet. Vor allem, wenn es um die Technik geht.
Herr Alberti, Sie haben schon viele Shows produziert. Was war hier die ungewöhnlichste Herausforderung?
Alberti: Es war das erste Mal, dass ein deutsches Team mit einem niederländischen Team in der Größe zusammenarbeitet. Die Auswahl unserer Mitarbeiter folgte also nicht nur der Frage, ob sie die besten für den Job sind, sondern auch danach, ob sie sich auf Englisch gut verständigen können. Es musste auch klar werden, dass wir wie bei einem Theaterstück agieren: Das Event ist durchgeplant und es gibt auf der Bühne keinen Raum für Interpretationen. Selbst Thomas Gottschalk, der als Erzähler durch die Geschichte führen wird, hat da direkt explizit um einen Teleprompter gebeten, damit er exakt in der Passions-Geschichte und damit beim Drehbuch bleiben kann.
Inwiefern unterscheidet sich die deutsche Passion bei RTL von der in den Niederlanden?
Doornbos: Die beiden ähneln sich sehr stark, natürlich arbeiten wir in Deutschland mit deutschen Popsongs. Und alles ist größer, die Distanzen länger. Es kostet auch ein bisschen mehr als das was wir (in den Niederlanden, Anm. der. Red.) sonst so gemacht haben. Die größte Abweichung von der niederländischen Version aus produktionstechnischer Sicht ist, dass "Die Passion" in Deutschland mit Werbepausen arbeitet. In Holland war das nicht so.
Es bleibt also Gelegenheit, mal Luft zu holen oder Probleme zu lösen…
Doornbos: Eher um einen Kaffee zu holen und auf die Toilette zu gehen, ja. (lacht) Es ist aber tatsächlich ein Unterschied: Für mich ist die Show mit Werbepausen eine weitaus entspanntere Erfahrung. Das habe ich auch gemerkt, als wir "Die Passion" in der USA für Fox produziert hatten. In den Niederlanden war es dagegen eher ein pausenloser Adrenalinrausch für 90 Minuten. Der steht mir am Tag nach dem Spektakel wieder bevor, wenn wir in Holland unsere Passion produzieren.
Herr Doornbos, Herr Alberti, herzlichen Dank für das Gespräch.
RTL zeigt die Passion am heutigen Mittwochabend ab 20:15 Uhr live.