Herr Pietsch, wie sehr schmerzt es, gerade in diesem extremen Nachrichtenjahr erst in der Vorbereitung der neuen Nachrichtenredaktion in Unterföhring zu sein?
Für Schmerz ist keine Zeit. Wir arbeiten auf Hochtouren, produzieren in allen Magazinen quer über alle Slots und Sender täglich und tagesaktuell. Nachmittags sind mehrminütige Newsflashes on air, die von Welt zugeliefert werden. In der Primetime haben wir unsere Ukraine-Spezials, die wir bereits mit Bordmitteln produzieren. Das ist sehr viel Arbeit, mit der wir uns quantitativ wie qualitativ sehen lassen können.
Wenn alles so gut läuft, bräuchte es aber doch nicht die Entscheidung, ab 2023 die Nachrichten wieder inhouse zu produzieren, oder?
Doch, auf jeden Fall. Die Macher unserer eigenen Inhalte zu sein, ist ein Vorteil an sich. Bis zum Januar werden wir die eigene Nachrichtenredaktion vollständig aufgestellt haben. Ab dann können wir mit größerem Team vor Ort im Haus unsere Abläufe feintunen und die Nachrichten- mit den Magazinredaktionen besser vernetzen. Damit können wir mehr Flächen schneller bespielen.
Mit dem Aufbau eines eigenen Nachrichtenteams bei Null anzufangen: Ist das im Jahr 2022 Wahnsinn oder große Chance?
Sowohl als auch (lacht). Es ist auf jeden Fall eine große Herausforderung, deshalb gehen wir mit Respekt und Demut an die Sache ran. Wir sehen aber auch eine riesige Chance, eben weil wir ein komplett neues Team für die künftigen Aufgaben zusammenstellen, von vornherein integriert gedacht - also ohne Unterscheidung in TV und Digital. Dazu kommt dann auch im Laufe des Jahres 2023 ein neues Studio mit modernster Technik.
Sie übernehmen also zum Januar 2023 die Nachrichtenproduktion in Unterföhring, bekommen aber erst im Laufe des nächsten Jahres ein neues Studio. Wie funktioniert das? Und warum dauert das Studio so lange?
Das Studio wird im Spätsommer oder Herbst nächstes Jahr fertig sein, weil auch wir bei der komplexen Konstruktion ein Opfer der weltweiten Lieferketten-Problematik geworden sind. Es gibt hier massive Verzögerungen bei der Bereitstellung von technischen Komponenten, die für ein solch hoch modernes Studio erforderlich sind.Elektronische Bauteile sind derzeit schwer planbar. Deshalb haben wir das Timing so festgelegt. Wir nehmen unsere aktuellen Studiodesigns erstmal mit von Berlin nach Unterföhring und werden ab Januar 2023 von dort live senden. Die neue Aufmachung der Nachrichtenmagazine folgt dann, wenn das neue Studio einsatzbereit ist.
Das Informationsangebot als zentraler Bestandteil - das war bei ProSiebenSat.1 nicht immer so…
Lassen Sie es mich so sagen: Ich bin sehr lange im Unternehmen und wir hatten in meiner Zeit noch nie so viele Möglichkeiten, aktuelle Themen zu platzieren und Programmschemata aufzubrechen. Da gehen im Haus alle mit und haben, und das schon seit einigen Jahren, den Wert von Relevanz zu schätzen gelernt. Das ist eine sehr positive Entwicklung und wir spüren auch von allen Seiten Unterstützung.
Es bleiben noch neun Monate für ein neues Nachrichtenteam, wie läuft die Rekrutierung?
Ich rechne damit, im September die Crew voll besetzt zu haben, sowohl in der Berliner Politikredaktion als auch in der Zentralredaktion in Unterföhring. An der Anzahl und Qualität der Bewerbungen sehen wir, dass wir ein attraktives Angebot haben. Bisher haben wir eine gute Mischung aus erfahrenen Nachrichtenexpert*innen und jungen Mitarbeiter*innen. Von der Dynamik, Begeisterung und Identifikation mit dem, was wir vorhaben, bin ich mit dem Recruiting sehr happy.
"Unterföhring ist doch die Perle unter den Dörfern rund um München"
Und wie lockt man Bewerberinnen und Bewerber nach Unterföhring?
Unterföhring ist doch die Perle unter den Dörfern rund um München. (lacht) Berlin ist als Hauptstadt natürlich für viele Politikredakteur*innen maßgeblich, deshalb haben wir auch eine Politikredaktion dort. Aber wir haben für Unterföhring sogar einen Bewerber-Überschuss. Der Standort Unterföhring hat den Reiz, dass wir hier im neuen Campus von Grund auf neu anfangen und man ein Teil davon sein kann. Das ist wiederum ein Faktor, der viele reizt.
Wer wird denn das neu aufgestellte Team führen?
Wir konnten für diese Aufgabe Arne Teetz als neuen Chefredakteur Nachrichten gewinnen. Er übernimmt ab 1. April die Leitung der zentralen Nachrichtenredaktion mit mehr als 70 Mitarbeiter*innen in Unterföhring und Berlin. Arne Teetz ist ein ausgewiesener Nachrichtenprofi mit großer Erfahrung und Kompetenz. Wir haben mit ihm als ehemaliger Chefredakteur von WeltN24 schon viele Jahre vertrauensvoll zusammengearbeitet.
WeltN24 hat Ihnen ja jahrelang die Nachrichten zugeliefert - also mehr Evolution als Revolution bei der Umstellung zur Inhouse-Produktion?
Ein Stück weit, ja, weil Arne Teetz viel Erfahrung mitbringt. Und im Nachrichten-Journalismus ist für mich Kontinuität ein Qualitätsmerkmal. Wir machen unsere Hausaufgaben, und da geht Qualität vor Geschwindigkeit. Ab April wird Arne mitgestalten, wie wir die Nachrichten für Januar aufstellen. Wir lernen gerade auch viel aus der aktuellen Nachrichtenberichterstattung. Und zur Revolution: Sowohl im linearen als auch im digitalen Bereich wird es auch einige Innovationen geben
Welche Köpfe sollen dann künftig aus Unterföhring heraus die Nachrichten für ihre Sender präsentieren?
Wir haben eine Top-Moderatoren-Crew, mit der wir gerne auch ab 2023 weiter zusammenarbeiten. Das gesamte Team werden wir im Sommer vorstellen.
Wird Linda Zervakis künftig häufiger zu sehen sein? Allein bei „ZOL" eingebunden zu sein, ist eine wackelige Präsenz bei ProSieben…
Für Sondersendungen wie die Ukraine-Spezials ist sie ja immer wieder im Einsatz. Zusammen mit Claudia von Brauchitsch haben wir ein hervorragendes Moderatorinnen-Duo beim Triell gehabt. Ich empfand die Leistung der beiden als Benchmark.
"Ich halte grundsätzlich sehr viel davon, an Formatmarken festzuhalten und sie permanent zu pflegen"
Aber "Zervakis & Opdenhövel Live" tut sich extrem schwer.
Immer, wenn ich von Senderchefs oder Vorständen gefragt werde „Wie lange dauert es, bis ein Format erfolgreich ist?", ist meine Standardantwort "ein Jahr". Weil gerade im Magazinbereich diese Formate sehr viel Zeit brauchen, bis sie in den Sehgewohnheiten des Publikums ankommen. Ich halte grundsätzlich sehr viel davon, an Formatmarken festzuhalten und sie permanent zu pflegen. Das hat sich für uns bei "taff" und "Galileo", aber auch dem "Sat.1-Frühstücksfernsehen" sehr bezahlt gemacht. Heute gibt es so viele Möglichkeiten, so viele unterschiedliche Plattformen, um sich zu informieren, da ist die Etablierung von Magazinformaten umso schwieriger.
Aber sie bleiben Optimist?
Mit 24 Jahren Betriebszugehörigkeit bin ich Berufsoptimist. Trotzdem ist das eine der schwierigsten Aufgaben. Ich glaube, wir müssen an dem Format feilen und ihm weiter Zeit geben. Die Mühe lohnt sich.
Traditionell war Sat.1 die Sendermarke mit mehr journalistischen Angeboten. ProSieben hat aufgeholt. Ist die Inhouse-Produktion auch eine Gelegenheit, z.b. die unter Wert verkaufte "Newstime" bei ProSieben zu stärken?
In Sachen Informationsinhalte hat ProSieben riesige Sprünge gemacht in den letzten Jahren. Rein strategisch glaube ich aber, dass wir bei Sat.1 eine größere Lücke füllen können. Zwischen dem "Frühstücksfernsehen" und den "Sat.1 Nachrichten" hat der Sender derzeit keine Informationsinhalte in dieser Form. Außerdem wird unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren in außenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Fragen sehr umbrüchig werden. Darauf können wir mit einer eigenen Redaktion adäquat reagieren.
Gilt also: Mehr Information statt Infotainment?
Wir haben mit einzelnen Dokumentationen und Reportagen zuletzt sowohl bei ProSieben als auch Sat.1 deutlich komplexere Themen bedient und waren dabei konfrontativer als früher. Auch das braucht Rückendeckung im Unternehmen und mich freut, dass dies mitgetragen wird.
Herr Pietsch, herzlichen Dank für das Gespräch.