Herr Rotter, wie ist Ihre persönliche Verbindung zu "Mord mit Aussicht" entstanden?
Es gab eine Anfrage von der Produktionsfirma Claussen + Putz, die sofort mein Interesse weckte. Ich hatte einen Vorteil: Ich war kein "Mord mit Aussicht"-Gucker. Ich wusste zwar, was für ein Brocken das ist, aber in solchen Fällen halte ich es mit dem Motivationsspruch meines Fußballtrainer-Vorbilds Jürgen Klopp: Die Lust aufs Gewinnen muss größer sein als die Angst vorm Verlieren.
Die Serie ist einst nach einer Idee von Marie Reiners entstanden. Haben Sie sich im Vorfeld mit ihr ausgetauscht?
Der Austausch war nicht nötig, denn ich bin ein intimer Kenner ihrer Arbeitsweise bin. Ich habe einmal im Ensemble einer Serie mitgespielt, die Marie Reiners geschrieben hat, "Der kleine Mönch" mit Dirk Bach. Seitdem habe ich großen Respekt und Bewunderung für sie. Um Dopplungen zu vermeiden, habe ich mir angesehen, wovon die bisherigen Folgen handelten, bin dann aber bewusst einen eigenständigen Weg gegangen.
Was war Ihr Ansatz beim Schreiben?
Der Ansatz bei einer Komödie ist immer der, dass man die Leute zum Lachen bringen will. Komödien unterscheiden sich aber ganz stark darin, worüber die Leute lachen. Ich möchte, dass die Menschen über Charaktere lachen, die sich in bestimmten Situationen, die wir alle kennen, unangemessen verhalten. Je höher der Grad der Übertreibung, desto lustiger ist es. Wenn man es mit Figuren zu tun hat, die derart clowneske Züge haben wie unsere, darf man auf der kreativen Seite richtig Vollgas geben. Geholfen hat mir, dass ich in allen Schritten des Produktionsvorbereitungs-Prozesses involviert gewesen bin, also im Casting oder bei den Motivbesichtigungen. Darin lag letztlich die Chance, dass wir "unser" Hengasch schaffen, das für die Zuschauerinnen und Zuschauer zwar so aussieht wie das alte Hengasch, in Wirklichkeiten aber ein neues ist.
Wie sieht denn das neue Hengasch aus?
Anders als früher gibt es jetzt beispielsweise ein Dorf mit einem Ortskern. Darüber hinaus hatte ich das Privileg, die Figuren, die schon da waren, weiter auszubauen und in das neue System zu implantieren. Irgendwann habe ich bei der Arbeit gar nicht mehr gemerkt, ob wir uns an einem alten oder neuen Format orientieren. Ich selbst habe ja eine kleine Rolle als Pfarrer gespielt – und als wir zusammen in unserer Serienkneipe saßen, haben wir uns einfach zuhause gefühlt.
Nach "Mord mit Aussicht" hat es eine Zeit lang eine wahre Schwemme sogenannter Schmunzelkrimis in der ARD gegeben, aber was genau ist das Besondere an diesem Format?
Unter der Dachmarke "Heiter bis tödlich" hat die ARD vor einigen Jahren versucht, die ZDF-"SOKOs" mit den Mitteln der Heiterkeit zu schlagen. Das ist ihr nicht gelungen – mit wenigen Ausnahmen, darunter "Morden im Norden", das übrigens Marie Reiners erfunden hat. In dieser Zeit sind viele Formate unter Druck entstanden. Ich war selbst an einem solchen Format beteiligt, das "Matterns Revier" hieß. "Mord mit Aussicht“ war im Gegensatz dazu von Beginn als höherklassige Primetime-Serie konzipiert, hatte daher auch andere Voraussetzungen, beispielsweise die finanzielle Ausstattung und wurde so etwas wie die Mutter aller Crime-and-Smile-Formate. Klar, hinterher lässt es sich leicht sagen, dass "Mord mit Aussicht" ein Selbstläufer war. Tatsächlich aber hat der WDR damals durchaus was riskiert. Bjarne Mädel und alle, die sonst mitgespielt haben, waren den meisten Zuschauerinnen und Zuschauern anfangs ziemlich unbekannt.
Die Figuren von einst waren prägend. Was zeichnet die neuen Figuren aus, die Sie entwickelt haben?
Zwischen der letzten gedrehten Staffel und unserer jetzigen liegen Netflix und Amazon; liegen viele Serien, die ganz anders entstanden sind, als man das früher kannte. Dadurch entstand auch eine andere Art und Weise, Serien-Figuren zu erzählen. Unsere Figuren orientieren sich deshalb mehr an dem, was heute über den Bildschirm geht, müssen dreidimensionaler angelegt sein und brauchen größere Ambivalenzen in der Charakterzeichnung. Das heißt andererseits nicht, dass wir bemüht "moderner" erzählen wollten. Das wäre despektierlich gegenüber den früheren Staffeln. Damals wie heute ist es das Ziel, Fernsehen für alle zu machen.
Was ist denn der Kern eines Fernsehens für alle?
Das ist die Gretchenfrage. Ich komme aus der Unterschicht, bin ganz stark vom Fernsehen sozialisiert worden. Ich glaube an die Kraft des Fernsehen und liebe das Fernsehen als demokratisches Medium. Es ist demokratischer als vieles andere, was in der Kunst passiert. Und vor allem glaube ich an das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Mal abgesehen von Spartenprogrammen, sollten wir versuchen, ein demokratisches Fernsehen zu machen, das Menschen von neun bis 99 mitnimmt. Das bedeutet, dass wir uns thematisch breit aufstellen und unsere Themen aus einer Lebenswirklichkeit schöpfen, die für unser Publikum nachvollziehbar ist und die wir in ausgedachte Welten pflanzen, in denen wir dann mit dieser abgebildeten Lebenswirklichkeit kreativ spielen können. Wer sich Nackte unter Palmen angucken möchte, soll das tun. Aber das ist für mich nicht öffentlich-rechtliches Fernsehen.
Sondern?
Öffentlich-rechtliches Fernsehen hebt das Dach vom Haus unserer Nachbarn und lässt uns wie von oben hineinschauen. Wenn wir es schaffen, aus der Lebenswirklichkeit zu schöpfen, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Das sollten wir insbesondere im fiktionalen Bereich erhalten und uns nicht "Ver-Tatortisieren", indem wir unsere Gesellschaft hauptsächlich im Gewand von Kriminalität und Mord abbilden.
Was folgt daraus?
Wir müssen das Fiktionale, das Ausgedachte, unbedingt herausarbeiten. Hier ist "Mord mit Aussicht" ein ideales Format, weil jeder weiß: Dieses Dorf gibt’s nicht. Trotzdem tun wir da so viel von unserer Lebenserfahrung rein wie nötig. Ich weiß, dass das Publikum Interesse an Geschichten hat. Da müssen nicht immer Leichen liegen.
Herr Rotter, vielen Dank für das Gespräch.
"Mord mit Aussicht", dienstags um 20:15 Uhr im Ersten