Jan Georg Schütte, wie kann man sich ein Skript vorstellen, das Jan Georg Schütte den Darstellern seiner Improvisationsformate gibt?

So, dass dort keinerlei Dialoge drinstehen, sondern allenfalls ausführliche Biografien, also das genaue Gegenteil üblicher Formate. Ich denke die Figuren vor und forme sie mit den Schauspielern aus.

Zum Beispiel "Tini und Jochen", die Sie als Paartherapeut "Kranitz" zum Auftakt der Serie behandeln.

Deren Biografie, Gedanken oder Milieus sind Ergebnis eines gemeinsamen, sehr intensiven Entstehungsprozesses. Das Sexuelle der beiden, die Rituale, ihr verschwörungstheoretischer Hintergrund – das haben wir uns erst zu dritt und dann in Zweiergesprächen gebaut. Charly Hübner zum Beispiel hatte richtig Bock drauf, sich in seinen Querdenker reinzuarbeiten, der hat alles darüber gelesen.

Und dann geht es einfach los?

Dann geht es einfach los. Wobei ich in diesem Projekt erstmals die Gelegenheit hatte, als Titelfigur direkt einzugreifen. So konnte ich anders als bei "Altersglühen – Speed Dating für Senioren" zum Beispiel…

...wo Sie immerhin den Conferencier gespielt haben.

Aber im Hintergrund. Hier war ich in fast jeder Szene involviert und hatte dadurch große Eingriffs- und damit Steuerungsmöglichkeiten. Das war schon besonders. Aber auch besonders anstrengend. Die Dreifachbelastung als Ideengeber, Regisseur, Darsteller – mein lieber Mann!

Klingt gar nicht so minimalistisch wie die Grundidee, ohne Drehbuch zu arbeiten.

Nicht für mich jedenfalls.

Ist es dennoch Zufall, dass im ersten Teil ein Buch namens "Minimalismus" auf der Anrichte von Klaus Kranitz liegt, oder jubeln Sie uns auch mit Sätzen wie dem von Jochen, mit "was einfach ist, ist gut", ein wenig Ihrer Philosophie als Regisseur unter?

(lacht) Das Buch stammt zwar vom Ausstatter, kennzeichnet aber wie Charlys Satz in der Tat meine Idee vom weniger ist mehr. Meine Idee dahinter lautet: je mehr Freiheiten man Schauspielern lässt, desto mehr ihrer Fähigkeiten kommen dabei zum Vorschein. Ich bin also in der Regieanweisung minimalistisch, das Ergebnis ist extrem reichhaltig.

Je mehr Freiheiten man Schauspielern lässt, desto mehr ihrer Fähigkeiten kommen dabei zum Vorschein.

Könnten Sie denn auch mit gewöhnlichem Drehbuch arbeiten?

Drei Jahre mit einem Skript durch die Gegend laufen und ständig verbessern? Dafür bin ich als Typ viel zu ungeduldig. Ich brauche Spontaneität, gern wie hier mit sechs Kameras, aber auch mal fett wie in "Das Begräbnis", für das wir der Degeto gerade 280 Sendeminuten mit über 50 Kameras gedreht haben. Hauptsache Improvisation.

Rührt diese Affinität daher, dass Sie im Herzen eigentlich Schauspieler sind?

Auch. Ich mag es, wenn man mich als Schauspieler laufenlässt; schließlich ist der alte Schütte dabei nichts anderes als der kleine Jan Georg, der als Kind morgens beschlossen hat, Indianer zu sein und das bis zum Abend ohne Drehbuch oder Regieanweisung halt war. Dieses Eintauchen in andere Identitäten geht im gescripteten Schauspiel verloren. Da klammern sich viele ans Drehbuch. Wenn ich das Wort "Textprobe" schon höre, könnte ich kotzen. Wie wir hier reden, bin ich ja auch nicht Text, sondern ausgesprochenes Denken.

Müssten Sie sich und andere da nicht ein bisschen vor Kollegenschelte bewahren? Auch Drehbuchfernsehen hat ja seine Berechtigung.

Unbedingt. Ist nur als Regisseur nicht meins. Aber wenn man als Schauspieler von Ingrid Lausund alias Mizzi Meyer Texte wie beim "Tatortreiniger" kriege, lasse ich mich gerne Wort für Wort vom Drehbuch führen. Bei so hoher Sprachkunst lerne ich jedes Komma mit, bei anderen Formaten – besonders Krimi – dagegen wird Sprache geschrieben, wie sie im wahren Leben sein soll. Dann muss das auch stimmen und lebendig sein. Stattdessen ist es leider oft dramaturgisch geleiteter Text, der eben gerade nicht aus den Figuren herauskommt. Da höre ich immer das Papier in Hintergrund knistern. Da Lebendigkeit reinzukriegen, ist oft nicht möglich – und ich weiß von vielen Kollegen, die auch dieses Problem haben.

Wenn man sich Ihre Besetzungslisten so ansieht, haben diese anderen reihenweise große Namen. Stehen die bei Ihnen Schlange?

Na ja, ich kriege auch Absagen, aber viele suchen nach dieser Herausforderung, obwohl sie teilweise richtig Angst davor haben. Manche muss ich daher schon bisschen zu ihrem Glück bequatschen.

Quasi als Paartherapie für drehbuchgeschädigte Schauspieler.

Gefällt mir, der Gedanke.

Anders als "Altersglühen" oder "Klassentreffen", die in einem Take gedreht wurden, haben Sie bei "Kranitz" Szenen wiederholt. Sorgt das nicht für ein Drehbuch im Kopf?

Theoretisch schon, praktisch waren die Überraschungen der ersten Einstellung in der Regel noch so frisch, dass sie auch in der nächsten improvisiert wirkten.

Haben Sie mal ein Naturtalent entdeckt, denen das Improvisationstalent vorher nicht anzumerken war?

Michael Gwisdek in "Altersglühen", der hatte dieses Talent offenbar schon im Geburtskanal, durfte es aber viel zu selten zum Einsatz bringen. Trotzdem sind mir Skeptikerinnen wie Lisa Hagmeister auch sehr lieb. Ich brauche keinen, der so souverän improvisiert, dass er ständig Pointen abfeuert, sondern ungeahnte Schichten in sich freilegt. Vor "Kranitz" dachte Lisa, das nie zu schaffen und war deshalb genauso aufgeregt wie ihre Figur Tini. Perfekt!

Kriegen Sie von denen Feedback, dass Sie später auch gescriptete Rollen anders, souveräner angehen?

Das nicht, aber viele werden süchtig danach. Charly Hübner fragt schon bei der Premiere des einen Projekts, wann das nächste kommt.

Anderen ins Wort zu fallen, was in normalen Gesprächen ständig passiert, findet in deutschen Filmen nicht statt. Das macht mich rasend!

Sagt es denn etwas über die Kompetenz als Schauspieler aus, improvisieren zu können?

Für mich sagt es zumindest Mut zum Risiko und berufliche Wachheit aus, die einige von denen, die förmlich eingeschlafen sind, nicht haben.

Ist das eine Alters- oder Mentalitätsfrage.

Mentalität, aber die nötige Konzentrationsfähigkeit zum Improvisieren hochzuhalten, wird im Alter natürlich nicht leichter. Text lernen macht ebenso gemütlich wie die Möglichkeit, jeden Versprecher in der Wiederholung auszuräumen. Dabei gehören Versprecher zur Kommunikation unbedingt dazu. Aber anderen ins Wort zu fallen, was in normalen Gesprächen ständig passiert, findet in deutschen Filmen nicht statt. Das macht mich rasend!

Heißt das, Sie selber sind in Drehbuchformaten schlechter als in improvisierten?

Ich fühle mich da jedenfalls deutlich weniger lebendig. Es sei denn, du kriegst Poesie wie den "Tatortreiniger" oder Shakespeare. Trotzdem spiele ich gern in "normalen" Filmen, das ist dann halt meine Challenge. Auch als Abwechslung. Ich würde liebend gerne mal was Ernstes machen, einen Familienvater mit Eigenheim und Carport etwa – schon, weil ich seit 20 Jahren verheiratet bin und es genauso gelebt habe. Aber das traut mir offenbar keiner zu. Muss ich offenbar selber mal machen.

Wird Regisseuren, die sich selbst in der Hauptrolle besetzen und auch darüber hinaus alles allein regeln nicht gelegentlich eine Profilneurose attestiert?

Gibt es, aber mein ganz persönlicher Gott ist Ricky Gervais.

Erfinder und Hauptdarsteller vom Stromberg-Vorbild "The Office".

Und "The Extras" und "After Life" und und und. Und immer spielt er unter eigener Regie die Hauptrolle und immer ist es brillant. Klar, neigt man da zur Hybris, aber wenn man so uneitel ist wie Christian Ulmen, der in "jerks." auch alles selber macht, ist das okay.

Sind Sie auch uneitel?

Ich hoffe es, aber hier habe ich mir mal schöne Haare gemacht. Gefällt mir gut. Und eins noch.

Ja.

Für viele Zuschauer ist es oft schwer zu verstehen, dass ich meine Filme eher als Komödien begreife. "Klassentreffen" zum Beispiel wurde von einigen als Tragödie aufgenommen. Als es dann immer wilder und so verrückt wurde, fühlten sie sich entsprechend verarscht. Danach gab es ganz üble Mails an mich.

Wobei Tragödie ohne Komödie ebenso wenig funktioniert wie umgekehrt.

Mein Reden. Aber in Deutschland muss lustig immer gleich tätähh sein. Bei "Kranitz" versuche ich jetzt den Ton am Anfang etwas deutlicher Richtung Komödie zu setzen – obwohl es wie meine anderen Filme natürlich wieder beides ist. Man nennt das wohl Tragikomödie.

Herr Schütte, vielen Dank für das Gespräch.

Alle sechs Folgen der ersten Staffel von "Kranitz" stehen bereits in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Je eine Folge läuft zudem ab dem 20. Oktober mittwochs im NDR Fernsehen. Die Startzeit variiert dabei zwischen 22:30 Uhr und 23 Uhr.