Herzlichen Glückwunsch zur doppelten Fernsehpreis-Nominierung für „Wir sind jetzt“. Ist das ein Trostpflaster für den Solitär im RTLzwei-Programm, der bislang nicht auf die Quote eingezahlt hat?
Tom Zwiessler: Danke, ja sie holt keine Blockbuster-Quoten in der linearen Ausstrahlung, aber wir haben die Serie zusammen mit TVnow produziert und gemeinsam erreichen wir unsere Zielgruppe so gut, dass es eine zweite und schon eine dritte Staffel gibt. Wir haben uns natürlich mit und für Lisa-Marie Koroll, dem Regisseur Christian Klandt und Produzenten Christian Popp riesig über die zweifache Nominierung gefreut. Im Bereich Young Fiction suchten wir einen Stoff, der dem Lebensgefühl junger Menschen sehr nahe kommt und das ist offenbar gelungen. Die Zielgruppe ist besonders kritisch, wenn eine Serie sich nicht authentisch anfühlt. Aber das gelingt uns ja bei mehreren Produktionen.
„Berlin - Tag & Nacht“ und „Köln 50667“ sind inzwischen etablierte Soaps, aber auch entfernt von früheren Spitzenwerten…
Tom Zwiessler: Als die Serien begannen, waren sie als Hybridformat ohne Schauspieler und Drehbücher möglichst nah am echten Leben. Mittlerweile haben sich beide Formate klar zu klassischen Soaps entwickelt mit Darstellern, die über die Jahre mit ihren Rollen gewachsen sind. „Berlin – Tag & Nacht“ feiert nächste Woche übrigens sein 10-Jähriges! Bei „Köln 50667“ haben wir jetzt ein neues Kamerasystem im Einsatz und schaffen so einen noch wertigeren Look. Wir arbeiten auch an den Plots der Serien, passen diese an. Beide Formate sind Beispiele für den Shift in der Mediennutzung vom linearen zum non-linearen, wo sie für uns extrem wertvoll sind. Um nur eine Zahl zu nennen: Wir erzielen pro Monat auf allen digitalen Kanälen von YouTube über TikTok und Snapchat bis hin zu TVNow über 100 Millionen Kontakte mit diesen beiden Soaps. Das tröstet dann darüber hinweg, dass die Reichweiten im linearen Fernsehen etwas nachgelassen haben.
Interessant, dass sie es beide Male so betonen. RTLzwei hat als erster Sender die Herausforderung zu spüren bekommen, dass non-lineare Nutzung nicht in gleichem Maße für den Werbemarkt berücksichtigt wird bzw. werden kann. Ab wann wird das bedrohlich für einen so jungen Sender?
Shona Fraser: Die Betrachtung der linearen Quoten allein ergibt zunehmend ein Zerrbild. Das ist bedauerlich, wenn ich allein nur an „Love Island“ oder „Kampf der Realitystars“ denke, die digital in ausgesprochen hohen Sphären unterwegs sind. Ich würde anhand der verfügbaren Daten behaupten, „Love Island“ gehört neben Produktionen wie „heute show“ oder „Germany’s Next Topmodel“ zu den erfolgreichsten TV-Formaten im Netz, aber die Zahlen lassen sich über alle bespielten Plattformen hinweg natürlich noch nicht so gut vergleichen wie bei der linearen Nutzung allein.
Tom Zwiessler: Wir wünschen uns alle im Markt eine sinnvolle, vergleichbare Währung, damit die Erfolge der nonlinearen Nutzung transparenter werden. Erfolg lässt sich beispielsweise derzeit aber schon so formulieren: Unsere internen Analysen zeigen, dass die Views von RTLzwei-Inhalten auf TVnow im letzten Jahr um 55 Prozent gestiegen sind. Das sagt mir zumindest, dass wir in der strategisch für uns wichtigsten Wachstums-Welt – SVoD – gut unterwegs sind.
"Wenn alles durch die Brille des Zynismus betrachtet wird, wird es gefährlich."
Shona Fraser über Reality-TV
RTLzwei nennt sich selbst Reality-Sender Nr.1 in Deutschland. Wie sehr schadet es Ihnen, wenn das Genre zuletzt durch Eskalationen in Verruf gekommen ist?
Shona Fraser: Das Genre Reality bedarf einer sehr aufmerksamen Produktion, die den Markenkern des jeweiligen Formats kennt und weiß, wie weit man gehen darf. Wir haben gerade „Adam sucht Eva“ abgedreht, wo wir im Vorfeld mit Warner über die Haltung gesprochen haben. Man könnte fragen: „Wozu Haltung? Alle sind nackt, also Kamera drauf.“ Aber tiefer könnte man fast nicht sinken. Dabei muss man sich bewusst machen: Wir haben einen entblößten und damit verletzlichen Cast. Also tragen wir eine Verantwortung für das, was wir erzählen und wenn man seine Protagonisten liebt, ist man geschützt gegen Fehlentscheidungen.
Und wie geht man dann ran an „Adam sucht Eva“?
Shona Fraser: Wir wollen „naughty but nice“ sein. Wir nehmen das Kennenlernen, das Daten und Verlieben sehr ernst und erzählen das in schönen Bildern. Wenn das gegeben ist, haben wir die Fallhöhe, um bei den Spielen albern und frech zu sein. So müssen wir uns nicht über unsere Protagonisten lustig machen und können das Format genießen. Bei der ersten Staffel von „Kampf der Realitystars“ hatten wir mit Banijay eine intensive Diskussion über den Unterschied zwischen Zynismus und Ironie. Ironie und eine Prise schwarzen Humor finde ich gut, aber wenn alles durch die Brille des Zynismus betrachtet wird, wird es gefährlich. Dann verliert man die Liebe zu seinen Protagonisten und dem Handwerk des Genres. Reality ist ein Genre, in dem sehr viel Verantwortung gefragt ist, weil anders als in der Fiktion nicht vorher ein Drehbuch geschrieben wird, sondern die meisten Entscheidungen während der Produktion zu fällen sind.
Mehr Reality, neue Dailysoap und die Kellys
Zweimal im Jahr „Love Island“, dazu „Kampf der Realitystars“ und jetzt „Adam sucht Eva“: Wie viel mehr Reality-Formate verträgt RTLzwei?
Shona Fraser: Es gibt noch so viele Ideen! Wir müssen nur prüfen, was das Budget hergibt. Wir adaptieren ja auch „Race across the world“. Reality-Competition funktionierte in Deutschland bislang selten gut - ich selbst habe vor Jahren mal „Survivor“ für ProSieben umgesetzt - aber viele Formate hatten die Fokussierung einer Gameshow mit dem Ziel: Wer gewinnt und wie? Für mich ist das Ziel die Nebensache, wir wollen die Abenteuer der Charaktere auf dem Weg dahin erzählen und die werden sehr unterschiedlich sein. Wir haben uns darüber hinaus auch noch ein weiteres Reality-Format gesichert: „Living Legends“ ist ein Projekt, dass wir zusammen mit einer englischen Firma entwickeln. Und dazu kann ich nur sagen: RTLzwei macht Geschichtsunterricht, natürlich mit einem Augenzwinkern. Das wird etwas ganz Neues, aber wir bleiben „naughty but nice“.
Tom Zwiessler: Es wird sogar historische Kostüme geben. Und um auf die Frage noch zu antworten: Ich bin mir sicher, Shona hätte kein Problem, das gesamte Programmbudget unseres Senders für neue Reality-Formate auszugeben (lacht). Aber zum Thema Ausbau: Während wir uns im letzten Jahr auf Leuchtturm-Formate und die Pflege der Bestandsformate konzentriert haben, wollen wir in der kommenden Saison mit einem großen Knall eine große Anzahl neuer Formate zünden. Nicht zu vergessen: Unsere Familien und unsere Sendergesichter sind ebenfalls ein wichtiger Bestandteil unserer Reality-Formate. Wir sind der Realitysender Nr.1 nicht nur wegen Leuchtturm-Events, sondern auch dank unserer Familien, den Geissens, den Wollnys oder all den Sendungen mit Daniela Katzenberger und Lucas Cordalis. Und solche Familien-Einblicke werden wir erweitern, um eine der bekanntesten Familien der Popmusik-Geschichte: Die Kelly Family.
Was haben die Kelly Family und RTLzwei vor?
Tom Zwiessler: Die Kellys begeben sich mit uns noch einmal auf eine Reise in ihrem alten Tour-Bus, den sie gemeinsam restaurieren, um wieder zusammen unterwegs zu sein. Eine große emotionale Zusammenkunft steht bevor - das wird eine Familien-Dokusoap und ein musikalisches Highlight rund um den legendären Zusammenhalt der Kellys. Wir freuen uns wirklich sehr, dass sie uns ihr Vertrauen geschenkt haben. Das ist übrigens eine Idee, die sich bei uns im Haus auch aus intensiven Gesprächen zur Folge der Pandemie ergeben hat.
Wie meinen Sie das?
Tom Zwiessler: Wir haben in den vergangenen Monaten im Sender viel darüber nachgedacht, welche Haltungen und Werte in der Pandemie wichtiger geworden sind, welche Sehnsüchte es durch die Entbehrungen gibt. Wir wollen wieder Menschen begegnen, schätzen kleine Glücksmomente im Alltag ganz anders und freuen uns, wenn Verantwortung übernommen wird. Dabei ist Zusammenhalt ein besonders wichtiger Wert, was natürlich gut zu den Kellys passt. Ein weiteres Themengebiet, das während der Pandemie an Bedeutung gewonnen hat und das wir in neuen Formaten erzählen wollen, ist die Wiederentdeckung der Natur.
Und was bedeutet das übersetzt in Programmen? Was hat RTLzwei in der Saison 21/22 geplant?
Shona Fraser: Wir widmen uns zum Beispiel dem Landleben. Da haben wir einige Factual-Programme in der Entwicklung. Und dann produzieren wir zusammen mit Youngest Media eine neue Dailysoap für unsere Daytime, die im Herbst „Berlin – Tag & Nacht“ und „Köln 50667“ ergänzt: „Waidendorf“ erzählt anhand von Familiendrama und Intrigen vom Leben auf dem Land. Hinzu kommt „Let’s Love“, hier haben wir eine charmante neue Daytime-Show mit Jana Ina, die das Schöne am Dating betont. Auch das schon angekündigte „Kampf der Kilos“ beruht auf dieser Analyse, denn oft genug wurde schon über die Folgen der Pandemie und des Lockdowns geschrieben: Viele Menschen haben zugenommen. Und zwei weitere Formate aus Großbritannien greifen auf, womit sich auch viele Menschen im Lockdown beschäftigt haben: Gründlich aufräumen und sein Zuhause neu einrichten. Da haben wir mit Banijay eine Adaption von „Changing Rooms“ in der Produktion und haben uns das All3Media Format „Sort your life out“ gesichert, das wir mit Tower produzieren werden. Das Format breitet einer Familie mal den gesamten Hausstand in einer Halle aus, um zu entscheiden, was sie behalten möchte und was nicht mehr gebraucht wird. Da wird einem erstmal bewusst, wie viel und was man besitzt: 65.000 Gegenstände liegen, hängen und stehen in einem durchschnittlichen Haushalt.
Tom Zwiessler: Außerdem zeigen wir „Die Retourenjäger", eine Eigenentwicklung zusammen mit der UFA Show & Factual, moderiert von Panagiota Petridou. In dem Format widmen wir uns dem Phänomen des in der Pandemie enorm genutzten Online-Shoppings, das inzwischen für 300 Millionen Paketsendungen verantwortlich ist - und das sind nur die Retouren. Mehrere Händler kämpfen on location in so einer Retourenhalle gegeneinander in einem Bieterwettbewerb um Retouren-Paletten. Und dann lösen wir auf, ob sie etwas Wertvolles ergattert haben oder nicht. Zudem wird bei RTLzwei auch das Übersinnliche nicht zu kurz kommen: So konnten wir Jonathan Frakes dafür gewinnen, die Moderation neuer deutscher Folgen von „X Factor“ zu übernehmen. Dafür ist während der Pandemie ein Kollege nach Hollywood geflogen, um mit Frakes die Moderationen aufzuzeichnen. Des Weiteren wollen wir noch mehr aus unserer sehr erfolgreichen Auto-Marke „Grip“ machen und holen sie mit einem Live-Event in die Primetime. Zusammen mit Brainpool realisieren wir das Live-Event unter dem Arbeitstitel „GRIP Kart Wars“. Wir wollen damit einen großen Family-Spaß kreieren, ähnlich wie damals beim großen RTLzwei-Promikegeln.
Unerwartet: RTLzwei investiert mehr in Dokumentationen
Welche Rolle spielen die Sozialdokus? Die waren mal ein Überraschungserfolg für RTLzwei, taten sich zuletzt aber auch schwerer.
Tom Zwiessler: Wir geben einer Gruppe eine Sichtbarkeit, die in Deutschland gar nicht so klein ist, weil sie je nach Betrachtung 15-20 Prozent unserer Gesellschaft ausmacht, aber sich oft nicht repräsentiert sieht. Was wir in der Pandemie gespürt haben, ist eine schwierige Gesamtsituation: Wenn man im Lockdown den ganzen Tag mit Herausforderungen und schlechten Nachrichten konfrontiert ist, gibt es keinen so großen Bedarf, sich abends noch mit den Problemen anderer zu befassen. Da war Eskapismus gefragt. Deswegen haben wir unsere Dosierung angepasst. Wir wollen dem Dokumentarischen treu bleiben, aber nicht auf Sozialdokus beschränkt sein. Deswegen haben wir vor einigen Monaten auf Initiative unserer Chefredakteurin Konstanze Beyer das DokuLab initiiert, um über diesen Weg auch Filmemacherinnen und -macher anzusprechen, die uns bislang vielleicht nicht auf dem Schirm hatten.
Gibt es da einen ersten Zwischenstand?
Ja, Ziel war es eben aus der RTLzwei-Bubble rauszukommen und ansprechbar zu werden für neue oder junge Produktionsfirmen oder auch einzelne Kreative. Wir haben bei der Premiere des DokuLab gleich 130 sehr unterschiedliche Projekte vorgeschlagen bekommen, was uns sehr gefreut hat. Aus diesen Einreichungen hat die Jury neun Projekte herausgepickt, die in einem ersten Schritt eine Recherche-Förderung von uns erhalten, um gerade jungen Filmemachern diese erste finanzielle Hürde zu nehmen. Und dann werden wir sehen, welche der Projekte zur Produktionsreife kommen. Wichtig ist uns die Fairness: Wenn wir eine Recherche nicht aufgreifen, geben wir das Projekt frei für den Markt. So ist keine Recherche-Arbeit umsonst.
"Wir führen Menschen niedrigschwellig an Public-Value-Themen heran"
Tom Zwiessler über Information bei RTLzwei
Für „Endlich Klartext“ mit Abdelkarim hat RTLzwei 2018 den Deutschen Fernsehpreis für beste Information gewonnen. Neue Folgen laufen jetzt kurz vor Mitternacht…
Shona Fraser: …und zwar direkt hinter „Love Island“. Wir nutzen den Vorlauf unseres Leuchtturms, um möglichst viele Menschen für „Endlich Klartext“ zu gewinnen. Aber wir werden die Bundestagswahl auch noch bei „Love Island“ selbst thematisieren, lassen Sie sich gerne überraschen.
Tom Zwiessler: Flankierend werden wir vor der Bundestagswahl in Social Media ein neues News-Format starten, um einen neuen Ansatz für junge Nachrichten auszuprobieren. Der Arbeitstitel ist „Up2Day“. Das ist ein Pilot-Projekt, das wir zusammen mit der MediaSchool Bayern realisieren. Generell nutzen wir regelmäßig reichweitenstarke Umfelder, um gesellschaftlich relevante Themen, wie jetzt auch die Bundestagswahl, zu platzieren. Auch in unseren Soaps wird es Erzählstränge zur Wahl geben. Damit führen wir Menschen niedrigschwellig an Public-Value-Themen heran. Das gilt auch für ein besonderes Projekt, das im Herbst zu sehen sein wird: „Deutschlands verlorene Kinder“, eine beeindruckende Langzeitdokumentation über Kinder mit äußerst schwierigen Startvoraussetzungen fürs Leben. Wir haben bereits entschieden, diese außergewöhnliche Produktion ohne Werbeunterbrechung auszustrahlen. Zudem wollen wir das Gesehene im Anschluss in einer Gesprächsrunde, moderiert von Wolfram Kons, aufarbeiten.
Jetzt haben wir über viele neue Ideen gesprochen. Und über die Leuchttürme. Aber wie bitte konnte denn das gruselige „Das Supermarkt-Quiz“ passieren?
Shona Fraser: (lacht) Ja, ich weiß. Ach, es gibt so viele Gründe, warum manchmal Programme nicht so werden, wie man es sich gedacht hat. Bei diesem Format spielten auch äußere Produktionsumstände eine Rolle, die der Pandemie geschuldet waren. Kurz gesagt: Da kam viel zusammen. Wir wissen aber auch, dass wir es besser können und vor allem: besser machen werden.
Frau Fraser, Herr Zwiessler, herzlichen Dank für das Gespräch.