Herr Atalay, wissen Sie, wie viele Autos in 25 Jahren „Cobra 11“ geschrottet wurden?

Erdoğan Atalay: (lacht) Tausende. Die Zahlstelle weiß da vermutlich näheres. Ich nicht.

Wissen Sie denn, wie viele Verbrecher Ihre Figur Semir Gerkhan erschossen hat oder wie häufig er in Gefahr war, selbst draufzugehen?

Keine Ahnung, aber wenn man zusammenzählt, dürfte er nach fast 400 Fällen der effizienteste Killer der Geschichte sein. Immerhin waren seine Opfer stets die Bösen. Und das Besondere an Serienhelden wie meinem ist ja: wenn die Guten getroffen werden, genesen sie bis zur nächsten Folge.

Normale Polizisten wären entweder in psychiatrischer Behandlung oder tot. Was bewahrt Semi Gerkhan realistisch betrachtet vor beidem?

Das Wissen, im Recht und meist ohne Alternative gehandelt zu haben. Anfangs habe ich ihn tatsächlich noch so gespielt, dass er Probleme mit der Gefahr für sich und andere hat. Mittlerweile pflastern so viele Leichen seinen Weg, dass wir „Cobra 11“ in „Semirs Traumata“ umbenennen müssten, wenn ihm das allzu naheginge. So ein alter Hase wie er hat zu viel auf dem Kerbholz, um alles an sich ranzulassen. Das zu thematisieren, wäre nicht Ziel unserer Serie.

Was ist dann Ihr Ziel?

Entertainment. Punkt. (lacht)

Das sich bei aller Unterhaltsamkeit in der Realität abspielt. Wie viel davon darf, wie viel muss so seine Serie enthalten, um weder Fantasy noch der „Tatort“ zu sein?

So viel wie nötig, so wenig wie möglich. Schließlich gibt’s noch nicht mal eine Autobahnpolizei in der Form, wie wir sie spielen. Was in der Realität auf 1000 Abteilungen verteilt wird, macht „Cobra 11“ ja im Alleingang – bis hin zur Entschärfung von Atombomben.

Geil!

Nicht wahr? Es ist eine Mischung aus Fantasy und „Tatort“, die sich an der Realität orientiert, aber nicht widerspiegeln will. Was im Gegensatz zur Action allerdings unbedingt authentisch sein sollte, sind die Emotionen der Beteiligten. Und da sind wir definitiv erwachsener geworden, erdiger als früher, wo sich alles den Stuntszenen unterordnen musste.

Dass Plattformen wie Netflix ihre Hauptfiguren nach kurzer Zeit sterben lassen, finde ich persönlich irritierend.

Warum dieser Wandel? Das alte Konzept war doch erfolgreich.

Das hat mit den Neunzigerjahren zu tun, in denen unser Konzept halt funktionierte. Aber auch damit, dass wir mit dem Personalwechsel der 25. Staffel angesichts der horizontalen Entwicklung am Streamingmarkt den großen Cut wollten, anstatt uns zu wiederholen. Außerdem sind lange Serien wie Persönlichkeiten: die verändern sich mit dem Alter auch. Und wer uns von Anfang an begleitet, wird mir zustimmen, dass sich kaum eine andere mehr gewandelt hat.

Ach.

Ja! Schon durch die ständigen Wechsel meiner Partner kamen immer neue Einflüsse, die das Publikum mitbekommen hat.

Ein Publikum, das überwiegend aus Männern bestehen dürfte.

Wir waren halt eine testosterongesteuerte Vereinigung (lacht).

Wie reagiert diese Stammkundschaft, dass Ihr Kollegium diverser wird – zum türkischstämmigen Chefermittler gesellen sich ja nicht nur ein Rollstuhlfahrer, sondern mittlerweile auch zwei Frauen?

Davon sind nicht alle megabegeistert. Aber das hat auch was mit der Liebe zur Kontinuität zu tun, die ich selbst von mir kenne. Ich bin abgesehen von meiner Filmtochter der einzig übriggebliebene Charakter. Dass Plattformen wie Netflix ihre Hauptfiguren nach kurzer Zeit sterben lassen, finde ich persönlich irritierend.

Entspringt der Wandel zu mehr Diversität bei „Cobra 11“ dem Zeitgeist oder echter Überzeugung?

Beides ein bisschen. Und weil die Einschaltquoten okay, aber ausbaufähig waren, bot sich ein kleiner Paradigmenwechsel an. Über den gab es intensive Diskussionen und ebenso intensive Tests, was die Akzeptanz beim Publikum betrifft.

Die muss von Beginn an hoch gewesen sein. Als Semir Gerkhan vor 25 Jahren bei Cobra einstieg, waren Menschen mit Migrationshintergrund im deutschen Fernsehen entweder Täter oder Opfer.

Das stimmt.

War Ihre Herkunft in der Serie je Thema?

Nein. Es gab zunächst die Überlegung, dass ich Semir in gebrochenem Deutsch spiele, aber ich wollte ihn an mir selbst orientieren, hier geboren und aufgewachsen, mit ein, zwei türkischen Elternteilen. Das Einzige, wo seine halbkriminelle Herkunft in Köln-Kalk durchschimmert, ist sein Bedürfnis, ein kleiner Patriarch zu sein. Aber wenn er „zuhause mach‘ ich die Ansagen“ sagt, weiß jeder, dass das Wunschdenken bleibt. Diese Ironisierung mag ich sehr.

Sehen Sie sich und Ihre Figur daher als Integrationsmodelle?

Wenn Film und Fernsehen die Menschen dahingehend beeinflussen, ihr Denken zu verändern, wäre das wunderschön. Aber ich glaube nicht daran. Selbst „Türkisch für Anfänger“ hat nicht zu Akzeptanzschüben geführt. Im Gegenteil. Wer sich die Medienberichte von heute ansieht, erkennt da eher Rückwärtstendenzen. Ich halte es mit Spike Lee, der mal sagte, ein Denzel Washington sei gar kein Schwarzer, sondern Schauspieler.

Aber ist nicht genau das ein Zeichen von abklingendem Rassismus, wenn die Hautfarbe schlicht keine Rolle mehr spielt?

Schon. Aber wenn man mit Brechts Worten statt Theater Fernsehen fürs Volk machen wollte, müsste dieses Volk zugucken. Immer dann jedoch, wenn Filme bewusst zum Nachdenken anregen wollen, schauen meist nur die ohnehin Nachdenklichen zu, nicht die Denkfaulen. Trotzdem ist es wünschenswert, dass wir Diversität nebenbei als Normalität darstellen. Von daher glaube ich schon, dass mein Auftritt vor 25 Jahren unterbewusst etwas bewirkt haben könnte.

Je länger ich dabei bin, desto größer ist die Gefahr, ihr und damit all den Menschen, die dafür arbeiten, durch einen Abschied zu schaden. Und das möchte ich nicht.

Wenn man sich an jenen Tag im März erinnert, hieß der Bundeskanzler Helmut Kohl, der Papst Johannes Paul II. und die Nummer 1 im Tennis Steffi Graf. Alle längst weg. Sie sind noch da. Spricht das eher für ihr Beharrungsvermögen oder das der Serie?

Ach, dazu werde ich schon meinen Teil beigetragen haben, aber es liegt doch eher am Format. Andererseits steckt bei allem Drang zur Veränderung in jedem von uns der Keim des Bewahrens, eine Art instinktiver Heimatsuche – und die endet gelegentlich auch in Fernsehformaten, deren Hauptfiguren für eine Kontinuität stehen, die seltener wird. So gesehen ist Semir schon ein Anker in die Vergangenheit.

Sind Sie als Darsteller dahinter denn eine so treue Seele oder womöglich in einer Schublade gefangen, aus der es nach 25 Jahren längst schon kein Entrinnen mehr gibt?

Entrinnen klingt, als müsste ich vor irgendwas fliehen. Mir hat das all die Jahre einfach so irre Spaß gemacht, dass es keinen Grund dazu gab. Natürlich gab es auch mal Zeiten, in denen es schwerfiel, sich um vier Uhr morgens aus dem Bett zu quälen, um zwei Stunden später vom Helikopter ins Eiswasser zu springen. Aber ich würde die Serie auch ohne Rolle darin sehen.

Sagen Sie das jetzt, weil Sie müssen?

Ich muss gar nix sagen! Obwohl es durchaus zwischendurch Überlegungen gab, mal was anderes zu machen, hab‘ ich am Ende immer auch Verantwortung für die Serie als solche empfunden. Je länger ich dabei bin, desto größer ist die Gefahr, ihr und damit all den Menschen, die dafür arbeiten, durch einen Abschied zu schaden. Und das möchte ich nicht.

Klingt nach einer Art Fürsorgepflicht.

Nehmen Sie Pflicht raus, dann passt es.

Aber gibt es nicht auch eine Pflicht ihrem Renommee gegenüber? Im Feuilleton gilt die Serie seit Anbeginn als Synonym für hirnloses Macker-Fernsehen.

Tja.

Hat Sie das je gestört?

Früher schon. Nach einer Weile aber dachte ich, wer so denken will, soll so denken, ich denke anders. Was mich allerdings bis heute stört, ist die Pauschalisierung, was Action ist oder auch Komödie, müsse anspruchsloser Mainstream sein. Das ist mir schon deshalb zu einseitig, weil ich Mainstream überhaupt nicht als minderwertig betrachte. Aber die Kritik hat nachgelassen, mittlerweile ist "Cobra" ein bisschen Kult. Was auch an den besseren Drehbüchern von heute liegt. Und letzten Endes werde ich lieber von Zuschauern gemocht als von Fernsehkritikern.

Stimmt es, dass Staffel 26. die letzte sein soll?

Da laufen Gespräche. Schließlich gehört „Cobra 11“ zu den teuersten Serie, da muss RTL gerade in Zeiten von Corona die Kosten immer wieder neu abwägen. Ich bin gespannt.

Gehen wir mal davon aus, irgendwann sei Schluss: Welches Ende wünschen Sie sich für Semir Gerkhan – Tod in der Massenkarambolage oder leiser Abtritt in den Sonnenuntergang?

Unbedingt megamäßig die Welt retten, dabei draufgehen und danach eine kurze Zusammenfassung meiner geilsten Stunts.

Herr Atalay, vielen Dank für das Gespräch.

Die vorläufig letzte Staffel von "Alarm für Cobra 11" startet am Donnerstag, 29. Juli um 20:15 Uhr bei RTL. Die Episoden sind auch bei TV Now abrufbar.