Thomas Schreiber hat schon viele Eurovision Song Contests erlebt. Der diesjährige dürfte ihm noch einmal in besonderer Erinnerung bleiben. Einerseits, weil durch die Corona-Pandemie noch nicht vollends klar ist, in welcher Form die Show im Mai in Rotterdam über die Bühne gehen wird. Und andererseits, weil es für den scheidenden NDR-Unterhaltungschef und künftigen Degeto-Geschäftsführer der letzte ESC in verantwortlicher Position ist. Für Alexandra Wolfslast wiederum wird der bevorstehende Song Contest der erste sein, seit sie vor etwas mehr als einem Jahr zum "Head of Delegation" ernannt wurde. Hinter den beiden liegen turbulente Monate, in denen sie - unter Ausschluss der Öffentlichkeit - ein aufwendiges Verfahren auf die Beine stellten, um den deutschen ESC-Vertreter zu ermitteln.
Frau Wolfslast, Herr Schreiber, seit einigen Wochen steht Jendrik als deutscher Teilnehmer des Eurovision Song Contests fest und jetzt ist auch der Song bekannt. Was überwiegt drei Monate vor dem ESC: Die Vorfreude oder die Anspannung, immerhin dürfte die Show erneut unter Pandemie-Bedingungen stattfinden?
Thomas Schreiber: Ganz klar, die Vorfreude überwiegt. Wir wissen zwar noch nicht, wie der Eurovision Song Contest in diesem Jahr aussehen wird, aber es wird ganz sicher einen geben. Für die Anspannung ist gar nicht so viel Zeit, weil es durch die Vorbereitungen so viel zu tun gibt.
Obwohl der ESC im vorigen Jahr ausgefallen ist, mussten Sie einen neuen Teilnehmer suchen. Hätten Sie sich das anders gewünscht?
Schreiber: Die Debatte um die erneute Teilnahme der Vorjahressongs muss man jetzt nicht noch einmal aufwärmen. Und Ben Dolic war ja auch diesmal im Auswahlverfahren mit dabei – mit einer starken Ballade, die erneut von Borislaw Milanov geschrieben wurde. Es gab also eine erneute Chance.
Alexandra Wolfslast: Wir haben das Thema im Vorfeld ausführlich diskutiert. Meine erste Reaktion war, dass es unfair wäre, Ben Dolic nicht mehr dabei zu haben. Auf der anderen Seite ist es der Song Contest – und Ben hat im vorigen Jahr nicht nur gewonnen, weil er Ben ist, sondern auch wegen des Songs. Da wir diesen Song aber nicht noch einmal einreichen durften, mussten wir eine Lösung finden. Dass er sich letztlich dazu entschlossen hat, in der letzten Auswahlrunde auszusteigen, ist natürlich schade. Trotzdem bin ich rückblickend sehr zufrieden mit dem Verlauf, weil wir jetzt mit Jendrik einen tollen Künstler gefunden haben, dessen Song "I Don't Feel Hate" ganz wunderbar in diese Zeit passt.
Sie haben sich erneut gegen einen klassischen Vorentscheid entschieden. Wie liefen die vergangenen Monate ab?
Schreiber: Durch die frühe Absage des Eurovision Song Contests konnten wir bereits im März mit den Planungen für 2021 beginnen, also sehr viel früher als das unter den normalen Umständen der Fall gewesen wäre. Auch dadurch standen Jendrik und sein Titel schon Anfang Dezember fest, was ein echter Vorteil war, weil wir schon kurz vor Weihnachten mit der Entwicklung der Inszenierung beginnen konnten.
Wolfslast: Bis dahin war es ein ziemlich anstrengender Weg, der durch Corona zusätzlich erschwert wurde. Wir haben unter anderem fünf Songwriting-Camps und drei Jury-Runden mit zwei Jurys veranstaltet, die sowohl die Künstlerinnen und Künstler als auch die Songs sowie beide zusammen beurteilt haben. Insgesamt standen im Laufe der Zeit 153 Künstlerinnen und Künstler mit 323 verschiedenen Songs zur Auswahl.
Es ist der 19. November, ein trister Tag. Der NDR hat das Palladium im Kölner Stadtteil Mülheim gemietet und zeichnet hier zusammen mit einer Produktionscrew aus Litauen eine erstaunlich aufwendige Show auf, die für gerade einmal 120 Augenpaare bestimmt ist - die beiden Jurys, die wenige Tage später über den deutschen ESC-Starter zu entscheiden haben. Neun Künstlerinnen und Künstler präsentieren an diesem Nachmittag insgesamt 15 Songs, und vor allem einer fällt auf: Jendrik, ein junger blonder Mann, ausgestattet mit Glitzer-Jackett und silbern glitzernder Ukulele. Unterstützt von drei Musikerinnen, die seine Freundinnen sind und eigentlich gar keine Blasinstrumente spielen können, sowie einer Frau im Peace-Zeichen-Kostüm, verbreitet Jendrik auf Anhieb gute Laune. Keine schlechte Eigenschaft in diesen Zeiten. Man ahnt: Das könnte was werden.
Am Konzept des Vorjahres haben Sie damit gewissermaßen festgehalten. Was war dennoch anders?
Schreiber: Wir sind nach diesem Jahr für fast alle Katastrophen gewappnet. (lacht) Aber im Ernst: Eines der Learnings war es, die Künstlerinnen und Künstler einer Live-Situation auszusetzen – mit den typischen Proben, dem Warten hinter der Bühne und allem, was noch dazu gehört. Dafür haben wir am 19. November unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Kölner Palladium eine Show aufgezeichnet, die die Grundlage für die finale Entscheidung der beiden Jurys bildete. Was diesmal noch neu ist: Wir haben zuerst nur den Künstler bekannt gegeben und erst in einem zweiten Schritt den Titel. Das war Alexandras Idee, von der ich zunächst etwas perplex war. Aber vor dem Hintergrund von Jendriks außergewöhnlichem Weg, den er über die letzten Wochen in den sozialen Netzwerken erzählen konnte, war es die absolut richtige Entscheidung.
Nur schade, dass die Show im Palladium letztlich fast niemand zu sehen bekommen hat, oder?
Schreiber: Wir fanden die Veranstaltung ausgesprochen gut und hätten sie gerne gezeigt, allerdings haben Sie dann wieder das Problem, dass es hintere Plätze gibt – und genau das wollen wir ja eigentlich verhindern, um auch die anderen sehr guten Finalistinnen und Finalisten nicht zu verbrennen. Die meisten von ihnen können sich nämlich eine erneute Teilnahme vorstellen.
Dennoch gab es jetzt von einigen Fans wieder die Kritik, dass es keinen öffentlichen Vorentscheid gab und sie nicht selbst abstimmen durften. Was entgegen sie ihnen
Wolfslast: Die 100-köpfige Eurovisions-Jury ist ja ein Querschnitt aus Eurovisions-Fans aus ganz Deutschland. Daher ist es also ein Stück weit auch eine Entscheidung des Publikums. Eine Art Schwarmintelligenz im kleinen Kreis, wenn Sie so wollen.
Schreiber: Anfang März werden wir einen Aufruf starten, um neue Jury-Mitglieder unter den Fans und Zuschauerinnen und Zuschauer zu suchen. Diese werden auf der Grundlage von Liedern, die jetzt in ganz Europa für den ESC gesucht und gefunden werden, von uns nach ihren Favoriten befragt. Und wer mit seinem Urteil nahe dran ist am Finalergebnis von Rotterdam, der darf im nächsten Jahr mitbestimmen, wer für Deutschland zum Eurovision Song Contest fahren wird.
Nun soll es erst mal Jendrik reißen. Was spricht für ihn und seinen Song?
Schreiber: Wer den Song einmal gehört hat, hat ihn sofort im Ohr. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum Jendrik von maximal zwölf Punkten, die bei den beiden Jurys möglich waren, im Schnitt 11,82 Punkte in der Addition bekommen hat. Gleichzeitig spricht sein Titel unterschiedliche Dinge an: Kinder, die gemobbt werden, können sich genauso angesprochen fühlen wie Menschen, die in sozialen Netzwerken Beleidigungen erfahren. Man kann den Song aber auch auf Politikerinnen und Politiker münzen, die Hass säen. Das ist eine versöhnliche Botschaft, aber fröhlich verpackt und im besten Sinne wahrhaftig.
Song-Premiere: Jendrik - "I Don't Feel Hate"
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Wie werden Sie den Song auf die Bühne bringen?
Wolfslast: Für die Inszenierung arbeiten wir mit den litauischen Kollegen von Creative Industries zusammen, die wir im Frühjahr 2020 während unserer Planungen für die ESC-Ersatzshow kennen- und schätzen gelernt haben. Der Auftritt wird für Gesprächsstoff sorgen, sich vom gewohnten Bild deutlich unterscheiden und doch international verständlich sein. Schon jetzt gibt es eine Diskussion um den Mittelfinger, den Jendrik in seinen Videos zum Thema gemacht hat. Und generell gibt es so viele verschiedene Elemente, von seiner Radioansage über den Stepp-Part bis hin zur Ukulele – das macht einfach gute Laune und ist wahrscheinlich genau das, was wir in den letzten Monaten so sehr vermisst haben.
Inzwischen weiß man mehr über den Mann im Glitzer-Jackett. Jendrik heißt Sigwart mit Nachnamen, ist 26 Jahre alt und kommt aus Hamburg. Wer ihn Ende November hinter den Kulissen im Kölner Palladium sieht, merkt schnell, dass der Musical-Darsteller eine echte Frohnatur ist. Dass er noch dazu äußerst zielstrebig ist, lässt sich an seinen Videos erkennen, die er seit letztem Sommer auf TikTok und Instagram verbreitete. Darin dokumentierte Sigwart, welchen Aufwand er betrieb, um zusammen mit mehreren Freunden ein Musikvideo für einen von ihm selbst geschriebenen Song zu drehen - mit dem klaren Ziel vor Augen, Deutschland 2021 beim Eurovision Song Contest zu vertreten. Ein Traum, der, wie sich später herausstellen wird, in Erfüllung geht.
Wir sieht nun der weitere Weg bis Rotterdam aus?
Schreiber: Nach der Veröffentlichung des offiziellen Musikvideos wird Jendrik am Freitag in der "NDR Talk Show" und am Sonnabend bei Florian Silbereisen auftreten. Wir produzieren zudem ein Backup-Video, das ist eine Vorgabe der EBU, damit der ESC stattfinden kann.Das soll bewusst kein Musikvideo sein, sondern ein echter Show-Auftritt. Gedreht wird Jendriks Auftritt Anfang März in einer großen Eissporthalle in Vilnius, wo wir eine Bühne errichten, die sich an der Bühne in Rotterdam orientiert. Und wenn alles gut geht, werden sich dort mehrere Länder versammeln, um Kosten zu sparen.
Eine Absage kommt in diesem Jahr also nicht Frage?
Wolfslast: Theoretisch besteht durch die Backup-Videos die Möglichkeit, dass selbst dann eine Show stattfindet, wenn keine Delegationen nach Rotterdam reisen können. Die EBU hat allerdings zusammen mit dem Host-Broadcaster ein lupenreines Sicherheitskonzept vorgelegt, das beinahe so dick wie ein Telefonbuch ist. Das gewährleistet in meinen Augen die Sicherheit aller Delegationen vor Ort. Deshalb bin ich auch optimistisch, dass zumindest dieser Plan B im Mai umgesetzt werden kann.
Schreiber: Klar ist auch: Wenn wir da hinfahren, dann wird es anders sein als jemals zuvor, weil wir uns dazu verpflichten, uns einem Sicherheitsprotokoll zu unterwerfen.Wir dürfen uns beispielsweise in der Halle nur als Delegation bewegen und werden die übrige Zeit in unseren Hotelzimmern verbringen. Salopp gesagt wird also jeder von uns unter Corona-Hausarrest gestellt.
Für Sie ist es zugleich der letzte Eurovision Song Contest, schließlich werden Sie schon in wenigen Wochen als Geschäftsführer zur ARD Degeto wechseln. Wie viel Wehmut ist dabei?
Schreiber: (überlegt) Ach, ich bin an dieser Stelle ganz rational. Der Sieg in Oslo ist nun elf Jahre her. Klar hätte ich mir danach die ein oder andere bessere Platzierung gewünscht. Nun möchte ich aber einfach aufrechten Hauptes vom Platz gehen, denn bei Alexandra und ihrem Team weiß ich den ESC in guten Händen. Und Menschen, die glauben, etwas besser zu wissen und ihren Senf von der Seitenlinie abgeben, ohne Verantwortung zu tragen, habe ich noch nie gemocht – daher werde ich das auch nicht machen.
Frau Wolfslast, Herr Schreiber, vielen Dank für das Gespräch.