Herr Arens, das meistgesehene YouTube-Video des vergangenen Jahres war ein Wissenschaftsvideo. Was sagt das über die momentane Zeit aus?
Ich bin der festen Überzeugung, dass diejenigen, die etwas zu sagen haben, auch gehört werden. Wenn es um zentrale Fragestellungen unseres Lebens geht, haben Menschen ein großes Bedürfnis nach Welterklärung – und Corona war nun mal unsere essentielle Erschütterung des letzten Jahres. Da brauchte es eine glaubwürdige Absenderin. Deshalb überrascht es mich nicht, dass das Video mehr als sechs Millionen Mal abgerufen worden ist.
Das Video, von dem wir sprechen, war jenes, in dem Mai Thi Nguyen-Kim vor mittlerweile zehn Monaten erklärte, dass Corona gerade erst losgeht. Sie haben sie nun für das ZDF verpflichtet. Was haben Sie mit ihr vor?
Unser Vertrag mit Mai Thi Nguyen-Kim beruht auf zwei Säulen. Sie soll als Wissenschaftsjournalistin einzelne "Terra X"-Reihen präsentieren und vor allem mit erarbeiten. Wir beginnen im Frühherbst mit dem Dreiteiler "Chemie!". Als promovierte Chemikerin wird sie dieses im TV schwer zu illustrierende Wissensgebiet ausleuchten: Woraus besteht die Welt? Wie interagieren die Elemente miteinander? Und woher wissen wir das alles? Für das Frühjahr 2022 planen wir außerdem den Zweiteiler "Die Wissenschaft der Liebe", dieses Thema will ich schon seit langem umsetzen. Das wird ein verständlicherweise lebenszugewandter Stoff, der sich zum Beispiel mit den Attraktionsmustern zwischen Mann und Frau oder der Rolle unserer Hormone im Moment der Verliebtheit befasst. Eher ungewöhnlich für den Primetime-Termin "Terra X", also perfekt für Mai Thi.
Und die zweite Säule?
Das zweite große Standbein ist eine Wissenschaftsshow, die wir ab Ende 2021 für ZDFneo machen werden, wahrscheinlich in zwei Sechserstaffeln jeweils im Frühjahr und Herbst. Am finalen Konzept arbeiten wir noch, aber schon jetzt ist vereinbart, dass es eine ebenso progressive wie inhaltstiefe Sendung sein wird, in der Mai Thi auf der Bühne vor Publikum mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern interagiert, mit viel digitaler Technik und Computergrafiken. Produziert wird die Show von der btf in Köln, einer sehr interessanten Firma.
Wie viel kann sie von dem, was sie bei YouTube so erfolgreich macht, im Fernsehen mitnehmen?
Es ist ja genau unsere Absicht, dass sie ihren unverwechselbaren Stil, den ihre Fans bereits seit Jahren auf YouTube schätzen, ins "Terra X"-Fernsehformat einbringen soll. Die Sendungen stehen damit auch ganz besonders für eine junge, zeitgemäße Form der Wissenspräsentation. Mai Thi vermittelt Wissen tiefgründig, faktenbasiert und glaubwürdig – und ist doch immer wieder unterhaltsam und auf Augenhöhe mit dem Publikum. Deutsche Wissenschaftsinstitutionen sind es nicht gewohnt, sich in Menschen außerhalb ihrer Expertenwelt hinein zu versetzen. Sie werben in der großen Öffentlichkeit eher nicht für ihre Argumente, leider. Genau das gelingt Mai Thi auf großartige Weise.
Allerdings benötigen die beiden genannten Formate einen langen Vorlauf. Wird sie denn auch für tagesaktuelle Themen im Einsatz sein?
Ich möchte Mai Thi Nguyen-Kim neben Harald Lesch zu dem Wissenschaftskopf im ZDF machen und dazu gehört auch, dass wir sie zu aktuellen Fragestellungen im Programm sehen werden, wie im „heute journal“. Die Themen und Plattformen für relevante Wissenschaft sind unendlich geworden, das wird in der modernen Welt doch immer offensichtlicher! Wir haben mit Mai Thi eine langfristige Zusammenarbeit vereinbart und viel mit ihr vor. Ihre Exzellenz impliziert, dass sie in viele Projekte eingespannt ist. Neben den neuen Aufgaben im TV wird ihr erfolgreicher YouTube-Kanal "maiLab", der ja von ARD und ZDF betrieben wird, natürlich fortgeführt. Darüber hinaus sind auch Auftritte in anderen YouTube-Kanälen des ZDF geplant. Das alles folgt der strategischen Erkenntnis, dass die Welten von Fernsehen und Internet in wenigen Jahren miteinander verschmelzen werden. Unsere Marke "Terra X" wird sich auf dem Markt behaupten und gemeinsam mit ihr die großen Köpfe, die glaubwürdig dafür stehen. Das ist immer mein Ziel gewesen.
Weil sie gerade auch Harald Lesch angesprochen haben: Welchen Stellenwert haben Köpfe für die Wissensvermittlung im ZDF?
Die meisten "Terra X"-Sendungen am Sonntagabend waren immer schon ohne Host. Im linearen TV werden Wissenschaft und Geschichte erfolgreich mit einem guten Narrativ erzählt, Moderation ist dramaturgisch oft nicht erforderlich. Die Zuschauer und Zuschauerinnen suchen auf diesem Sendeplatz Erkenntnis über den aktuellen, nachrichtlichen Nutzen hinaus. Non-linear im Netz verhält es sich etwas anders: Dort sind die Views sehr stark an glaubwürdige Köpfe geknüpft. Das sehen Sie zum Beispiel bei unserem YouTube-Kanal "Terra X Lesch & Co." oder den Videos "MrWissen2go" von Mirko Drotschmann, der über seine extrem nachgefragten Current Affairs- und Geschichtsvideos eine zunehmende Prominenz erfährt. Insofern hat für mich neben der konzentrierten Markenentwicklung von "Terra X" immer auch eine nachhaltige Köpfe-Strategie eine große Rolle gespielt – aber diese Köpfe müssen unbedingt zu den Inhalten passen. So wie das eben bei Harald Lesch der Fall ist, der für uns ein unfassbarer Glücksfall ist für die populäre Vermittlung von harter Naturwissenschaft. Ein wahrer, leidenschaftlicher Kommunikator. Ich sage zu seinem Erfolg gerne augenzwinkernd: "Man versteht vielleicht nicht all seine Erklärungen zu schwarzen Löchern komplett, aber man denkt, sie seien einem nie besser erklärt worden."
Wir dürfen uns niemals von Aggressivität von außen anstecken lassen, sondern müssen unerschütterlich Wert auf Argumente und Fakten legen.
Man darf die Zuschauerinnen und Zuschauer also auch mal überfordern?
Absolut! Davon bin ich überzeugt! Im besten Sinn! Das Publikum will zu einem gewissen Teil überfordert werden, will zu denen aufschauen, die inhaltliche Exzellenz verkörpern. Wie damals zu Marcel Reich-Ranicki vom "Literarischen Quartett", der dieses Rezeptionsmuster vielleicht am besten widerspiegelt. Wir Fernsehmacher dürfen wirklich niemals den Fehler machen, die Intelligenz der Zuschauerinnen und Zuschauer zu unterschätzen. Dennoch ist es unsere Aufgabe, komplexes Wissen so einfach wie möglich zu vermitteln – aber nicht einfacher, wie Einstein gesagt haben soll, also es nicht trivialisieren. Gerade Mai Thi mit ihren über 1,2 Millionen Abonnenten zeigt, dass hoher Anspruch, hohe Wissenschaftlichkeit und hohe Qualität der Grundstein für den Erfolg sind.
Gleichwohl sah gerade sie sich in den vergangenen Monaten in der Corona-Krise teils heftigen Beleidigungen ausgesetzt. Wie ist vor diesem Hintergrund der Begriff der Glaubwürdigkeit zu bewerten?
Wir dürfen uns niemals von Aggressivität von außen anstecken lassen, sondern müssen unerschütterlich Wert auf Argumente und Fakten legen. Auf die Klima-Videos von Harald Lesch bekommen wir beispielsweise sehr viele kritische Reaktionen, die häufig interessegeleitet sind, oder einen ideologischen Hintergrund haben oder auf Fake News basieren. Wann immer wir darauf reagieren, machen wir dies in einer angemessenen Form, beziehen uns zum Beispiel auf die Veröffentlichungen des Weltklimarats und stellen dann erstaunlich oft fest, dass es uns gelingt, zunächst sehr aggressive Positionen aufzuweichen. Wir müssen wohl lernen damit zu leben, dass es eine irrationale Opposition gegen Institutionen von Wissenschaft und Politik gibt. Ich glaube, das ist in unserer fragmentierten Öffentlichkeit leider nicht mehr zu vermeiden.
Gerade im Netz gibt es viel Konkurrenz, auch im Wissensbereich. Wie bewerten Sie das Umfeld, in dem sich das ZDF heute beweisen muss?
In erster Linie verstehen wir uns als Anbieter von wissenschaftsjournalistischem Bewegtbild. Das machen wir auf einem extrem hohen visuellen und inhaltlichen Niveau, sodass uns Medienforscher in diesem Bereich als eindeutigen Marktführer sehen. Aber gerade Online wollen wir uns noch weiter entwickeln. Hier ist es unser Ziel, noch gezielter Frauen mit Wissenschaftsthemen anzusprechen, aber auch Frauen als Journalistinnen sichtbarer zu machen. Zu dieser Strategie passen neben Mai Thi Nguyen-Kim unter anderem die Astrophysikerin und Astronautin Susanna Randall auf unserem Kanal "Lesch & Co", aber auch der neue YouTube-Kanal "Terra Xplore", der demnächst startet und vorwiegend von der Biologin Jasmina Neudecker präsentiert wird.
Abschließende Frage: Wie böse waren die Anrufe vom WDR, als sich Mai Thi Nguyen-Kim für den Wechsel zum ZDF entschieden hat?
Ich habe keine Reaktionen mitbekommen. Aber in meiner idealisierten Wunschvorstellung passt Mai Thi Nguyen-Kim seit vielen Jahren perfekt zum ZDF. (schmunzelt). Und in der Tat hat sie schon 2017 und 2018 zusammen mit Harald Lesch für unseren YouTube-Kanal gearbeitet. Als ich beide dann 2019 leibhaftig in Köln erlebte, als sie gemeinsam und mit ansteckender Freude den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis in Empfang nahmen, wurde mir klar: Ich will Mai Thi unbedingt wieder für uns gewinnen. Sie gehört in das Universum von Terra X. Ich freue mich sehr darüber, dass das jetzt geklappt hat.
Herr Arens, vielen Dank für das Gespräch.