Herr Niedernolte, bei RTLzwei begleiten Sie in dem neuen Format "Das Berlin Projekt" Obdachlose auf ihrem Weg in ein neues Leben. Wie sind Sie zu dem Format gekommen? Wenn es um RTLzwei und Sozialdokus geht, denke ich nicht zuerst an Sie.

Tim Niedernolte: Das stimmt. Erstmals erfahren habe ich von dem Projekt über meine Agentur, das war zu einem Zeitpunkt, als ich mein erstes Buch zum Thema Wertschätzung geschrieben habe. Darin habe ich eine Begegnung mit einem Obdachlosen beschrieben. Ich habe vor vielen Jahren für "logo" auch mal einen ehemaligen Obdachlosen im Winter begleitet. Das RTLzwei-Format ist auf Augenhöhe und ganz nah dran an Menschen, das fand ich sehr reizvoll. Ich bin dann zum Casting gegangen und so hat sich die ganze Sache ergeben. 

Woher kommt Ihre Affinität zum Thema Obdachlosigkeit? 

Das hat gar nicht so viel mit Obdachlosigkeit an sich zu tun, sondern mit Menschen grundsätzlich. Ich mag Menschen und bin sehr interessiert an ihnen. Und da geht es mir auch nicht darum, ob sie arm oder reich sind. Ich finde es spannend, mit Menschen persönlich ins Gespräch zu kommen und sich über ihre ganz unterschiedlichen Lebenswege auszutauschen.

Normalerweise stehen Sie für das ZDF-Magazin "hallo deutschland" vor der Kamera. War es ein Problem, dass Sie in einem RTLzwei-Format auftauchen sollten? 

Als es konkret wurde, habe ich mich direkt an die Chefredaktion des ZDF gewandt und Peter Frey persönlich angeschrieben und ihm von dem Format erzählt. Es war mir wichtig, von Anfang an mit offenen Karten zu spielen.  Das Projekt wurde von den Entscheidern beim ZDF ziemlich schnell freigegeben, weil dort klar war, dass ich nicht das neue Sendergesicht von RTLzwei werden soll, sondern es um das Format ging. Vor allem aber gibt es auch große Schnittmengen: In der Doku rücken wir Menschen in den Fokus, die aus dem Raster fallen. Im ZDF wollen wir ja auch die ganze Bandbreite der Gesellschaft abbilden. Insgesamt bin ich dem ZDF sehr dankbar, dass ich das machen durfte. 

Und hatten Sie selbst vorher irgendwelche Bedenken im Hinblick auf den Sender oder das Format? 

RTLzwei ist jetzt nicht mein Haus und Hof-Sender. Das ist immer noch das ZDF. Ich habe in den letzten Jahren aber durchaus wahrgenommen, was RTLzwei im Doku- und Reportage-Bereich gemacht hat. Das Format selbst fußt ja auf einem niederländischen Original und das habe ich früh gesehen. Danach war es mir völlig egal, ob es bei RTLzwei oder im ZDF läuft, das Format hat mich einfach gepackt und überzeugt.

 

Zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung sind Sie zum Projekt hinzugestoßen? 

Ich bin im Sommer 2018 zum Team gekommen und war mit den Kollegen von Talpa einen Tag lang in Grünwald bei RTLzwei, um uns mit den Producern auf Senderseite auszutauschen und zu brainstormen. Worauf kommt es an? Was setzen wir für Akzente? Was wird von mir erwartet und wie sieht meine Rolle konkret aus? Solche Fragen haben wir uns da gestellt und ich konnte während des gesamten Projekts auch immer eigene Ideen einbringen.

Ich habe Respekt von den Menschen gelernt, die selber fast gar keinen bekommen.  

Und was ist Ihre Rolle in der Sendung? 

In erster Linie bin ich der ständige und immer wiederkehrende Begleiter der Menschen, mit denen wir gedreht haben. Ich bin nicht ihr bester Freund, auch wenn das dem manchmal sehr nah kam und ich das Gefühl hatte, dass das ihnen und auch mir gut getan hat. Auch ihr Sozialarbeiter bin ich nicht, dafür habe ich gar nicht die Ausbildung. Ich bin ein offenes Ohr und ein ständiger Begleiter, der den Protagonisten immer mal wieder in den Hintern tritt, auch das war nötig. 

Die Doku ist innerhalb der letzten zwei Jahre entstanden. Wie viel wurde während dieser Zeit tatsächlich gedreht? 

Wir haben mehr als 100 Drehtage absolviert. Da war ich natürlich nicht bei jedem dabei, aber bei vielen. Es war wirklich eine lange Zeit und wahrscheinlich werde ich mich beim Ansehen der Folgen auch wundern, wie lange die Dinge teilweise schon zurückliegen.  

Im Sommer 2019 hat das Format unfreiwillig Schlagzeilen gemacht. Damals ging es um Marcus, der an dem Projekt teilgenommen hat. In Boulevardmedien war plötzlich zu lesen, dass er sich von den 10.000 Euro, die alle Teilnehmer erhielten, ein Flugticket nach Brasilien gekauft hat. Dort sei ihm das Geld ausgegangen und er kam nicht mehr zurück. Die Produktion habe ihm nicht helfen wollen. Ich weiß, dass das Thema auch in Folge eins angesprochen wird. Aber ich muss trotzdem fragen: Was ist wirklich passiert? 

Das war für uns alle eine Überraschung. Warum er nach Brasilien geflogen ist, wird sich im Laufe der Folgen noch zeigen. Da will ich nichts vorwegnehmen. Aber über das Budget konnten die Teilnehmer selbst walten. Wir haben immer wieder nachgefragt, wie es läuft. Und Marcus hatte durchaus noch Geld übrig, um das, was er in Brasilien erledigen wollte, zu erledigen. Ich habe ihn persönlich zum Flughafen begleitet, obwohl ich ihm davon abgeraten habe, zu fliegen. Grundsätzlich ist es aber nicht meine Aufgabe, jemandem etwas auszureden oder jemanden von etwas zu überzeugen, was er oder sie nicht will. Ich habe das immer nach bestem Wissen und Gewissen getan und den Teilnehmern die Pro und Contras aufgezählt. Als es dann in der Zeitung stand, musste ich schon schlucken. Denn das, was da geschrieben wurde, entsprach nicht dem, was tatsächlich vorgefallen ist. Das war journalistisch nicht 100 Prozent sauber. Das wird in den späteren Folgen auch noch mal deutlich. Im Nachhinein war es aber natürlich sehr überraschend, so wie das ganze Projekt immer wieder auch an anderen Stellen. 

Aber wie sinnvoll ist es, einen drogenabhängigen Obdachlosen alleine nach Brasilien fliegen zu lassen? Das könnte man als Sender oder Produktionsfirma doch auch verweigern, weil man gar nicht weiß, was da passiert. 

Das war auch die Aussage von RTLzwei und Talpa. Aber er ist ja nicht einfach so nach Brasilien geflogen, es gab einen Grund dafür. Das war keine Urlaubsfahrt und zu dem Zeitpunkt war Marcus auch schon nicht mehr drogenabhängig. Wenn man jemandem so viel Geld zur Verfügung stellt, damit der sein Leben selbstbestimmt in eine andere Richtung lenken kann, ist das aber trotzdem eine Option. Auch, wenn das nicht bei allen Zuschauern gut ankommt.

Die 10.000 Euro werden in der Sendung symbolisch mit einer Karte überreicht. Wie ist der Geldtransfer tatsächlich passiert? Bar? Per Überweisung auf ein Konto? 

Viele der Teilnehmer hatten durchaus ein Konto, aber wahrscheinlich auch eins mit Schulden. Die Karte ist ganz wichtig und es hat lange gedauert es so zu organisieren, dass das mit all den Gesetzen die es gibt, rechtens ist. Wenn man beispielsweise einem Hartz-IV-Empfänger eine Schenkung macht, muss der das melden und dann wird sein monatlicher Satz gekürzt. Deswegen haben sie es nicht in bar bekommen. Die Teilnehmer hatten Zugriff auf die Karte und jedes Mal, wenn Anschaffungen anstanden, wurde das an uns gemeldet und wir haben das gemeinsam organisiert. Damit kommen wir nicht in irgendwelche Grauzonen, sondern bewegen uns rechtlich auf der sicheren Seite. Generell hat das Geld aber gar keine so große Rolle gespielt. 

Sondern? 

Ich hätte das vorher auch nicht gedacht, aber für viele war das Geld nicht das Entscheidende und einige haben auch nicht alles ausgegeben. Das, was die Teilnehmer gepusht hat, war das Vertrauen, das wir ihnen geschenkt haben. Die Obdachlosen haben gemerkt, dass sie sich auf uns verlassen können. Wenn ich mich mit ihnen auf einen Kaffee verabredet haben, bin ich auch wirklich gekommen. Das war mehr wert als Geld. Viele Menschen, die auf der Straße leben, kennen das Gefühl von Vertrauen und Zuneigung nicht mehr. Deshalb bin ich dankbar für das Format, weil es letztendlich die Botschaft ist, die hoffentlich herauskommt: Wir alle können helfen, dazu muss man weder Arzt noch Sozialarbeiter sein oder viel Geld besitzen. Es geht darum, menschlich zu sein und Obdachlosen ihre Würde zurück zu geben. 

Das war journalistisch nicht 100 Prozent sauber.

Ist es auch das, was Sie aus dem Format mitnehmen? 

Absolut. Ich habe gelernt, dass man mit wenig Aufwand viel erreichen kann. Es braucht manchmal gar nicht so viel. Nur man muss dazu auch seine innere Hemmschwelle überwinden. Viele Obdachlose stört es, dass sie nicht mehr wirklich wahrgenommen werden. Nicht jeder Obdachlose erwartet, dass man ihm etwas in den Becher wirft. Die Erwartung ist einfach, dass sie wieder mehr wie Menschen behandelt werden wollen, die dazu gehören, auch wenn sie sozial und gesellschaftlich gerade gar nicht dabei sind. In meinem Buch "Respekt" habe ich viel über das Projekt geschrieben und da gibt es eine Sache, die diese Botschaft auf den Punkt bringt: Ich habe Respekt von den Menschen gelernt, die selber fast gar keinen bekommen. 

Auch bei Ihrem Haussender ZDF gab es 2020 einen Wechsel. Sie sind von der "drehscheibe" zu "hallo deutschland" gewechselt. Wieso eigentlich? 

Grundsätzlich werden ja beiden Sendungen seit einiger Zeit von der gemeinsamen Redaktion Tagesmagazine Mainz gestemmt, sie sind was das Personal und die internen Strukturen betrifft also quasi eins. Von daher war das kein Problem, auch mal auf der Moderatorenposition zu wechseln. Zumal ich ja auch bei "hallo deutschland" vertretungsweise angefangen habe vor einigen Jahren, noch bevor ich zur "drehscheibe" kam. Von daher war es für mich ein Tausch zurück – und Sandra wollte die "drehscheibe" gerne mal regelmäßiger präsentieren als nur vertretungsweise.

Inhaltlich ist es aber keine große Veränderung, oder? Die Magazine sind recht ähnlich. 

Sie sind ähnlich, das stimmt. Was mich aber freut ist, dass es bei "hallo deutschland" im zweiten Teil der Sendung etwas unterhaltender wird. Die "drehscheibe" ist da vielleicht noch etwas nachrichtenlastiger und serviceorientierter, dafür steht bei zwischen 17 und 18 Uhr schon etwas mehr die Unterhaltung und der Eskapismus im Mittelpunkt. 

Haben Sie ein Unterhaltungs-Gen, das Sie gerne stärker ausleben würden? 

Das kommt darauf an, was Sie aus der Aussage machen (lacht). Ich habe mehrere Jahre bei Sky gearbeitet und fand das auch toll. Einfach den Sport und die Freiheiten, nicht vom Teleprompter abzulesen. Ich mag die Abwechslung und freue mich natürlich, wenn ich über die Anmoderation eines Beitrags hinaus in einem Interview eine Frage mehr stellen oder auf eine Reaktion des Gastes eingehen kann. Das fehlt mir manchmal und deshalb ist das Format bei RTLzwei eine schöne Ergänzung. Und natürlich gibt es auch eine humorvolle Seite an mir. Am Ende macht es die Mischung aus Nachrichtenschiene und Unterhaltungsshow. Infotainment trifft es vermutlich ganz gut.

Und welche Projekte stehen neben "hallo deutschland" und "Das Berlin Projekt" für 2021 noch an? 

Erst einmal hoffe ich, dass die Corona-Pandemie bald vorbei ist und wir uns alle eine Atempause gönnen können. "Das Berlin Projekt" hat mich in den vergangenen zwei Jahren sehr herausgefordert und gleichzeitig erfüllt. Von daher bin ich dankbar, dass es jetzt erst einmal losgeht. Und dann habe ich erst im Herbst mein "Respekt"-Buch veröffentlicht. Das waren zwei große Projekte, die viel Arbeit bedeutet haben. Ich bin froh, dass jetzt beides geschafft ist und warte deshalb ab, was sich entwickelt. Bis dahin bin ich glücklich, dass ich "hallo deutschland" machen darf. 

Herr Niedernolte, vielen Dank für das Gespräch!