Frau Brandt, unter dem Titel "Mein Schwein pfeift" starten Sie eine Ausschreibung für drei Webserien aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Was versprechen Sie sich davon?
Wir haben uns in der MDR-Fernsehfilmredaktion intensiv mit unserem Portfolio beschäftigt. Dabei haben wir eine Lücke ausgemacht: In der Webserienwelt gibt es bislang wenig aus den drei Bundesländern unseres Sendegebiets. Deshalb möchten wir in drei seriellen Formaten – jeweils eines pro Land – fiktionale, humorvolle Geschichten über das heutige Lebensgefühl der Menschen in Mitteldeutschland erzählen – für eine jüngere Kernzielgruppe zwischen 30 und 49 Jahren. Wir haben dafür bewusst das Label "Mein Schwein pfeift" gewählt, denn große Teile unserer drei Bundesländer sind geprägt von einer ländlichen Lebensweise. Darauf möchten wir den Fokus richten und dies – wie der Name schon zeigt – möglichst humorvoll angehen.
Welche Vorgaben machen Sie und wer kann an der Ausschreibung teilnehmen?
Aufgerufen sind sowohl Produktionsfirmen aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen als auch Produzentinnen und Produzenten bundesweit, die eine regionale Kompetenz mitbringen. Genre und Inhalt sind frei wählbar, sollten sich aber möglichst aus den Themenfeldern Regionalität, Gemeinschaft und Vereinsleben bedienen. Wir hätten gern mindestens vier Folgen pro Serie, sind aber auch offen für mehr. Die Minutenzahl der einzelnen Folgen spielt keine Rolle, da wir die Formate über die ARD-Mediathek ausspielen werden.
Wie viel Budget stellen Sie zur Verfügung?
Pro Serie stehen maximal 300.000 Euro brutto zur Verfügung, wobei das auch ein umfassendes Social-Media-Distributionskonzept und die Produktion des entsprechenden plattformgerecht aufbereiteten Contents einschließt. Wir sind im MDR heute ein modernes Multimediahaus und halten es für unerlässlich, das Publikum auf diesem Weg neugierig zu machen und damit deutliche Streaming-Impulse zu setzen.
Wie geht das Verfahren vonstatten?
Produzentinnen und Produzenten, die sich am Angebotsverfahren beteiligen möchten, sollten uns bis zum 3. Dezember eine Mail schreiben. Wir laden dann alle Interessierten zu einem digitalen Workshop am 10. Dezember ein, um ihnen die Gelegenheit zum weiterführenden Austausch zu geben. Danach erwarten wir bis Mitte Januar ein ein- bis dreiseitiges Ideenpapier. Auf Basis der Einsendungen wählen wir bis Anfang Februar die Teilnehmer für den Pitch aus. Die ausführlichen Pitchunterlagen inklusive Treatment, Kalkulation und Social-Media-Konzept vergüten wir nach dem Eckpunktepapier mit der Produzentenallianz. Unser Ziel ist es, bis Ende April die Vergabe- und Produktionsentscheidungen zu treffen, um dann möglichst bald in 2021 mit dem Dreh beginnen zu können.
Sie haben vorhin von einer Lücke bei Serien aus Mitteldeutschland gesprochen. Was ist der Grund dafür?
Andere Sender wie NDR, SWR oder BR haben sich mit "Neues aus Büttenwarder", "Die Fallers" oder "Dahoam is dahoam" schon seit langem regionale Serien für ihre Dritten geleistet. Der MDR versteht sich als die Stimme Mitteldeutschlands und des Ostens. Das heißt auch, dass wir mit unseren seriellen Formaten die größtmögliche Verbreitung anstreben, sprich das Erste Deutsche Fernsehen. Insofern ist das eine selbstbestimmte Lücke, weil wir unsere Regionalität zu einem gewissen Teil in unseren Serien fürs Erste widerspiegeln. Wenn wir jetzt verstärkt diskutieren, wie wir jüngere Zielgruppen erreichen, die sich für ihre regionale Identität Mitteldeutschlands interessieren, dann fällt diese Lücke eher auf. Mit der Mediathek und der Möglichkeit, Online-Originals zu produzieren, können wir sie nicht nur schließen, sondern zugleich einen Ausspielweg bedienen, der diesem strategischen Ziel am ehesten gerecht wird.
Etliche ARD-Anstalten produzieren jetzt Serien für die Mediathek. Ist da der Abstimmunsgbedarf unkomplizierter, als wenn Sie eine neue Serie ins Erste einbringen wollen?
Ein wesentlicher Unterschied liegt im Monetären begründet. Je größer Produktionen werden, desto größer ist die Notwendigkeit von finanziellen und inhaltlichen Partnerschaften zwischen mehreren Anstalten. Logischerweise steigt damit auch der Abstimmungsbedarf. Bei unseren Webserien für die Mediathek reden wir über Summen, die der MDR ohne Partner aus seinem eigenen Fiction-Etat stemmen kann. Es zählt inzwischen zu den Grundsätzen des MDR, die Stärkung der Digital-Agenda – und damit auch von Online-Originals – vorrangig zu behandeln. Dabei verändern sich auch die Arbeits- und Abstimmungsprozesse. Wir entwickeln zum Beispiel gerade ein serielles Projekt mit dem Arbeitstitel "Lauchhammer", bei dem die Kolleginnen und Kollegen der ARD Mediathek erstmals schon im Drehbuchstadium eingebunden sind und unsere redaktionelle Arbeit unterstützen, was ich äußerst belebend finde.
Achten Sie denn überhaupt noch auf Synergien zwischen linearer und nonlinearer Nutzung oder verfolgen Sie zwei völlig getrennte Strategien – eine fürs alte Stammpublikum, eine im Kampf um die Jüngeren?
Ohne dass die lineare Sehbeteiligung kannibalisiert wird?
Wir sehen jedenfalls keine signifikante Veränderung der TV-Quote, die sich nicht aus besonderem Gegenprogramm wie Live-Fußball oder einer verspäteten Einstartzeit erklären ließe. Dieser Befund gilt zumindest für Regelserien wie "In aller Freundschaft" oder auch "In aller Freundschaft – Die jungen Ärzte", die ebenfalls bei rund 300.000 Abrufen pro Folge bei gleichzeitig steigenden TV-Quoten liegen. Bei anderen Formaten sieht das anders aus. Wenn Sie etwa auf das "Oktoberfest 1900" schauen, dann beeinflusst der nonlineare Erfolg den linearen sehr viel unmittelbarer. Da kommen Binge-Watching-Effekte ins Spiel, die das lineare Lagerfeuer ab der zweiten Folge unweigerlich kleiner machen. Ich glaube, die Kunst liegt künftig mehr denn je in einer klugen Portfoliostrategie. Nicht jedes Programm muss alles können, aber es sollte eine jeweils klar differenzierte Erwartungshaltung erfüllen, um als Erfolg zu gelten.
"Nicht jedes Programm muss alles können, aber es sollte eine klar differenzierte Erwartungshaltung erfüllen, um als Erfolg zu gelten"
Jana Brandt, Leiterin der MDR-Hauptredaktion Fernsehfilm, Serie und Kinder
Was bedeutet das für Ihre Vorzeigeserie "Charité", die ja bisher sowohl lineare als auch nonlineare Erfolge vorweisen konnte? Die dritte Staffel startet am 12. Januar im Ersten, alle Folgen stehen schon eine Woche vorher in der ARD-Mediathek. Rechnen Sie mit weiter sinkenden TV-Reichweiten?
Ich gehe fest davon aus, dass die "Charité" an ihre breite Zielgruppenansprache auf allen Ausspielwegen anknüpfen kann, zumal wir hier eine etablierte Erfolgsmarke anthologisch fortschreiben – diesmal zur Zeit des Mauerbaus 1961. Gleichzeitig beschäftigen wir uns aber intensiv mit der Frage, wie eine vierte Staffel aussehen könnte und wie wir den Entwicklungsprozess angesichts der eben beschriebenen Erkenntnisse verändern sollten. Uns fasziniert besonders die Überlegung: Was kann ein Erfolgsprodukt wie "Charité" dazu beitragen, Near Future statt Historie zu erzählen? Gerade auch im Hinblick auf die Mediathek entwickeln wir also keine weitere Staffel über die Vergangenheit und auch keine über die große Pandemie, in der wir heute stecken. Wir erlauben uns stattdessen, in die nahe Zukunft zu springen und auf eine Charité rund um das Jahr 2049 zu blicken. Diese Vision können wir auch viel diverser erzählen, was uns natürlich reizt. Dazu entstehen momentan die ersten Exposés, wohlgemerkt, ohne dass die Produktion beschlossen ist. Es sind aktuell Überlegungen, wenn auch schon fortgeschrittene. Sofern wir die Produktion tatsächlich beschließen, wäre das ein gutes Beispiel dafür, wie auch ein gesetztes lineares Format mitwachsen und sich bewusst der Entwicklung einer veränderten Programmnutzung stellen kann.
Um Missverständnisse auszuschließen: Sie sprechen nicht nur von einer Erzählebene oder einem Erzählstrang, sondern von einer kompletten "Charité"-Staffel in der Zukunft?
So ist es. Wir finden daran zwei Aspekte reizvoll: Die echte Charité erlebt ja derzeit einmal mehr eine bedeutsame Phase, in der viele Hochkaräter dort vereint sind und Medizingeschichte mitschreiben werden. Da wir den Ausgang noch nicht kennen, wäre es tückisch, eine fiktionale Erzählung im Hier und Jetzt anzusiedeln. Die Near-Future-Perspektive ermöglicht uns dagegen, stärker von realen Gegebenheiten zu abstrahieren und eine Zukunftsvision im Hinblick auf menschliche wie medizinische Verantwortung zu zeichnen. Wir wollen ethische Fragen der Medizin thematisieren: Was ist, wenn wir alle zu alt werden? Wenn Krebs geheilt ist? Wo verlaufen dann die großen medizinischen Konflikte? Für uns Laien mag das nach Zukunftsmusik klingen, aber die Forschung hat darauf durchaus schon konkrete Antworten.
Frau Brandt, herzlichen Dank für das Gespräch.