Herr Granderath, Herr Hattendorf, wie schwierig war es, eine Reihe von Near-Future-Filmen für die ARD aufzusetzen? Sie haben dieses Genre jahrzehntelang so gut wie nicht bespielt.
Christian Granderath: Ich habe mich tatsächlich gefragt, warum wir das nicht mehr machen, obwohl es doch in den 70er Jahren so präsent war. Jeder, der alt genug ist, erinnert sich an Filme wie "Smog", "Fleisch", "Welt am Draht", "Das Millionenspiel" oder an das legendäre "Raumschiff Orion". Da wurde mit den Mitteln der Fiktion die gesellschaftliche Zukunft verhandelt – um 20:15 Uhr im deutschen Fernsehen. Ausgehend davon hatte ich die Idee, jenseits ausgetretener Pfade einige ausgewählte Schriftsteller anzusprechen und sie um Kurzgeschichten mit ihrer Vision von der Zukunft zu bitten – ganz ohne unsere normierten Fernsehvorgaben, die oftmals zu 'more of the same' führen. Ich wollte eine andere Form von Freiheit ermöglichen. Die Kollegen vom SWR konnte ich für diesen Ansatz sofort gewinnen.
Manfred Hattendorf: Als Christian mit der Idee zu uns kam, haben wir festgestellt, dass wir einen ähnlichen Blick und die gleiche Sehnsucht teilen. Sowohl der NDR als auch der SWR sind dann auf Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Emma Braslavsky, Dietmar Dath, Vea Kaiser, Dirk Kurbjuweit oder Simon Urban zugegangen. Wir haben sie gefragt: "Wie stellt ihr euch die Zukunft vor?" und ihnen Carte blanche gegeben. Ob in zehn, 20 oder 30 Jahren, ob Utopie oder Dystopie, ob Biotech oder künstliche Intelligenz – das haben wir ihnen überlassen. Die Resultate haben uns umgehauen. Wir haben sie vor einem Jahr gemeinsam mit dem Suhrkamp-Verlag und Futurium in der Kurzgeschichten-Sammlung "2029 – Geschichten von morgen" herausgegeben.
Ein Buch mit Kurzgeschichten zu beauftragen, fällt nicht gerade unter Ihren Kernauftrag. War die Verfilmung von vornherein Teil des Deals?
Hattendorf: Nicht ganz. Wenn wir neue Stoffe entwickeln, beauftragen wir normalerweise Drehbuchautoren mit Exposés oder Treatments. In diesem Fall wollten wir bewusst eine andere Sichtweise. Vertraglich gesehen, war die Kurzgeschichte hier das, was sonst ein Treatment wäre. Wir haben das Recht, aus den insgesamt elf Kurzgeschichten jeweils einen Film zu machen, sind aber natürlich nicht gezwungen, jede zu verfilmen.
Bedeutet der Umweg über die Schriftsteller, dass Sie Drehbuchautoren und Produzenten nicht zutrauen, neue SciFi-Stoffe zu entwickeln?
Hattendorf: Dabei sehen wir natürlich, dass sich um uns herum einiges verändert hat. Zum einen sind Science-Fiction- und Near-Future-Stoffe ein nicht ganz unbedeutender Bestandteil des Serien- und Filmangebots von Streaming-Plattformen. Zum anderen sind gesellschaftlich relevante Zukunftsthemen wie künstliche Intelligenz, autonomes Fahren oder Entwicklungen in der Biotechnologie viel stärker zum breiten, populären Gesprächsstoff geworden.
Als erster Aufschlag der Reihe läuft jetzt der von Sommerhaus Film produzierte SWR-Film "Exit", in dem es ums digitale ewige Leben geht – um eine künstliche Intelligenz, die Aussehen, Sprache, Geist und Wesen von verstorbenen Menschen digitalisiert. Damit muten Sie Ihren Zuschauern gleich zum Auftakt einen besonders großen Sprung zu – ins Tokio des Jahres 2047 und in etliche virtuelle Räume.
Granderath: Der Blick auf die Mediathek spielt für uns natürlich eine wesentliche Rolle. Das Near-Future-Genre ist gerade bei jüngeren Zielgruppen populär. Dass wir unsere eigenen lokalen Ansätze und Gedanken dazu haben und das Feld nicht nur internationalen Plattformen überlassen, macht meines Erachtens einen Teil unserer Zukunftsfähigkeit als Öffentlich-Rechtliche aus.
"Wir locken damit sicher nicht in erster Linie die Klientel von 'Um Himmels Willen' vor den Bildschirm"
Christian Granderath, NDR-Fiction-Chef
Heißt das auch, dass die lineare Quote bei der Ausstrahlung im Ersten für Sie nicht so entscheidend ist?
Granderath: Wir locken damit sicher nicht in erster Linie die Klientel von "Um Himmels Willen" vor den Bildschirm. Aber das ist auch eine Chance. Unsere Filme zeichnen sich durch hervorragende Talente vor und hinter der Kamera aus, die in der Lage sind, auch im linearen TV spektakuläre Primetime-Unterhaltung zu liefern.
Wollen Sie mit den Filmen eine bestimmte Haltung einnehmen, zum Beispiel Technologiekritik üben?
Hattendorf: Das Faszinierende an "Exit" ist, dass weder eine Utopie noch eine Dystopie entworfen wird. Der Film hat den Anspruch, uns zum Nachdenken darüber anzuregen, wie wir in Zukunft leben wollen - aber zuallererst nimmt er uns mit auf einen wilden Trip ins Bewusstsein künftiger Möglichkeiten.
Granderath: Generell geht es uns weniger um Botschaften als darum, die richtigen Fragen zu stellen. Dafür sind gerade Schriftsteller als Seismographen unserer Gesellschaft prädestiniert. Und wir haben das Zutrauen, dass unsere Zuschauerinnen und Zuschauer willens und in der Lage sind, darüber nachzudenken, was das Gesehene für ihr persönliches Bild von der Zukunft bedeuten könnte.
Ursprünglich wollten Sie zum Auftakt der Reihe zwei Filme senden, nämlich auch "Das Haus" vom NDR – doch dann kam Corona dazwischen. Wie geht es jetzt weiter?
Granderath: Wir mussten im März leider nach drei Drehtagen abbrechen. In den nächsten Tagen nimmt die Produktionsfirma Wüste Medien die Dreharbeiten aber wieder auf. "Das Haus" basiert auf der gleichnamigen Kurzgeschichte von Dirk Kurbjuweit. Es geht um ein Smart Home, das sich plötzlich selbstständig macht. Wir haben Rick Ostermann als Regisseur gewonnen, der zuletzt "Das Boot" gemacht und zusammen mit Patrick Brunken auch das Drehbuch geschrieben hat. Tobias Moretti und Valery Tscheplanowa spielen die Hauptrollen. Wir planen die Ausstrahlung nun für die zweite Jahreshälfte 2021, dann im Konzert mit einem weiteren SWR-Film.
Hattendorf: Und zwar "Ich bin dein Mensch", eine pfiffige Liebeskomödie rund um eine Wissenschaftlerin am Pergamon-Museum, die im Rahmen einer Studie drei Wochen lang mit einem auf sie zugeschnittenen humanoiden Roboter zusammenleben soll. Emma Braslavsky hat die Kurzgeschichte geschrieben, Maria Schrader und Jan Schomburg haben auf dieser Grundlage das Drehbuch entwickelt. Anfang September haben wir abgedreht – mit Maria Schrader als Regisseurin, Lisa Blumenberg von der Letterbox als Produzentin und mit Maren Eggert und Dan Stevens in den Hauptrollen. Außerdem freue ich mich sehr, dass die Hörspielredaktion des SWR mit "Das Fenster" von Nis-Momme Stockmann in Kürze einen weiteren Stoff aus unserem Buch als Hörspiel und Podcast realisieren wird.
Herr Granderath, Herr Hattendorf, herzlichen Dank für das Gespräch.
"Exit" läuft am Mittwoch um 20:15 Uhr im Ersten und ist in der ARD-Mediathek abrufbar.