Frau Sandhack, Frau Fix. Sie leiten die "Kulturzeit" in 3sat und feiern jetzt 25-jähriges Jubiläum. Wie hat sich die Sendung in dieser Zeit inhaltlich verändert?
Monika Sandhack: Als wir damals auf Sendung gegangen sind, war das ein Wagnis: Kultur live und zur besten Sendezeit, Kultur täglich von montags bis freitags – das hatte es davor noch nicht gegeben und das ist einzigartig geblieben bis heute. Auch die Verbindung von Feuilleton und Fernsehen war neu. Wir waren damit Maßstab und auch Orientierung für viele andere Kultursendungen, die uns nachgefolgt sind. Schon damals haben wir mit einem weiten Begriff von Kultur gearbeitet. Literatur, Theater, Filme, Musik, Architektur kommen bei uns vor, aber auch gesellschaftliche Diskussionen und Debatten im Netz. Das ist bis heute so geblieben. Wir senden ja nach den "heute"-Nachrichten und vor der "Tagesschau". Unsere Beiträge sollen mehr bringen – ergänzen, vertiefen, mehr Hintergründe liefern als die Nachrichten vor oder nach uns. Insofern ist der Kulturbegriff immer auch weit gespannt. Aber ich denke, dass wir im Vergleich zu den Anfängen aktueller geworden sind. Wir haben den Anspruch, dass das Neueste aus Kunst und Kultur zuerst bei uns in der Sendung ist.
Anja Fix: Ich bin ja erst seit fünf Jahren dabei. Aber ich bin da ganz bei Monika Sandhack: Eine Vielzahl der Themen, die "Kulturzeit" abbildet, gab es schon immer. Aber es sind mit Sicherheit in den letzten Jahren einige digitale Themen dazugekommen, die wir uns vorher nicht so angesehen haben. Der Kulturbetrieb im Netz sowie die Stimmen zu gesellschaftlichen Debatten, die man im Internet findet, sind relevanter geworden. Insofern haben wir jüngere Stimmen und Protagonist*innen aus dem Netz neu in die Sendung geholt. Außerdem diskutieren wir immer wieder, wie wir die Zuschauer noch mehr in den Blick nehmen. Wir haben eine große Expertise und Erfahrung in der Redaktion, aber die müssen wir immer wieder für die Zuschauer*innen übersetzen. Das ist eine Herausforderung für unser Storytelling, die Gespräche, die Perspektiven, die wir einnehmen.
Welche Debatten aus dem Netz haben Sie zuletzt in der Sendung besprochen?
Fix: Das aktuellste Beispiel ist Cancel Culture. Das ist natürlich im Feuilleton besprochen worden, war aber zuerst Thema im Netz. Die Empörungswellen zu verschiedenen Themen gibt es heute zuerst in den sozialen Netzwerken und dann schlagen sie sich im Feuilleton nieder. Wir versuchen, irgendwo dazwischen zu landen. Als tagesaktuelles Kulturmagazin wollen wir Themen möglichst nicht erst dann aufgreifen, wenn sie schon im Print gelaufen sind. Gleichzeitig wollen wir aber auch genau hinschauen, wie eine Debatte verläuft. Wir versuchen, nicht atemlos zu sein, aber aktuell über ein Thema zu berichten.
Sandhack: Heute ist es ja so, dass ein Ereignis und die Meldung darüber nahezu parallel stattfinden. Die Zeiten, die Medien sind sehr viel schneller geworden und wir haben mit "Kulturzeit" die Instanz, die Ereignisse des Tages genauer und hintergründiger einzuordnen. Wir bleiben nicht an der Oberfläche, sondern gehen tiefer, suchen eher das Versteckte und die Details.
Diskussionen im Netz sind mitunter sehr hitzig und verpuffen auch schnell wieder. Da ist es manchmal doch sicher nicht ganz einfach zu bewerten, ob mehr hinter einem Shitstorm steckt, oder?
Sandhack: Wir haben hier in Mainzer Redaktion jeden Morgen eine Tagessitzung, in der wir über die aktuellen Themen sprechen, lebhaft diskutieren und manchmal auch streiten. Oft wissen wir vormittags noch gar nicht, wie ein Thema sich über den Tag entwickeln wird. Und manchmal sieht das Ergebnis am Abend anders aus, als wir uns das vorgestellt haben. Was heute dementiert wird, ist morgen oft schon Realität. Es ist nicht einfach für uns, bei dieser rasenden Geschwindigkeit mitzuhalten.
Fix: Es ist eine Herausforderung, aber das ist das Tolle an "Kulturzeit". Wir sind sehr aktuell aufgestellt und diskutieren in der Tagessitzung alle relevanten Themen. Für uns stellt sich dann aber die Frage, an welcher Stelle der Erregungs- oder Nachrichtenkurve wir einem Thema Platz in der Sendung geben. Da sind wir manchmal leider auch zu spät. Das Wertvolle aber ist, dass wir viele Redakteur*innen im Team haben, die Kulturdebatten schon sehr lange verfolgen. Das gibt uns die Erfahrung und Gelassenheit, ein Thema auch mal einen Tag später zu bringen, dann aber mit einem besseren Gesprächsgast, einer anderen Perspektiven. Wir müssen nicht wie die Nachrichten am selben Tag drauf gehen. Das hilft manchmal, wenn eine Erregungsblase 24 Stunden später schon wieder geplatzt ist.
Als tagesaktuelles Kulturmagazin wollen wir Themen möglichst nicht erst dann aufgreifen, wenn sie schon im Print gelaufen sind.
Anja Fix
Die Sendung entsteht in Kooperation zwischen ARD, ZDF, ORF und SRF. Wie kann ich mir die tägliche Arbeit zwischen den Sendern vorstellen?
Sandhack: Wir schalten jeden Morgen zu unseren Kolleg*innen nach Basel und Wien und tauschen uns darüber aus, welche Themen umgesetzt, welche Gäste eingeladen und welche Beiträge aus anderen Kultursendungen übernommen werden. Kolleginnen und Kollegen aus vier TV-Kulturen begegnen sich auf Augenhöhe. Und das, was auf den ersten Blick schwierig erscheint, das Miteinander vier verschiedener Sender, ist Bedingung für unseren Erfolg. Die Zusammenführung dieser vier Programme macht erst unsere Qualität aus.
Fix: Wir profitieren davon, dass "Kulturzeit" die länder- und senderübergreifende Arbeit seit 25 Jahren übt und täglich vollzieht.
Wie unterscheidet sich die Kultur in Deutschland, Österreich und der Schweiz?
Fix: In Österreich gibt es noch das Hohe Amt der Kultur, das schlägt sich auch in einer größeren Berichterstattung in den Nachrichten nieder. Wenn am Burgtheater oder in Salzburg etwas passiert, redet das Land darüber. Das wäre in Deutschland schwer vorstellbar. Dafür haben wir in Deutschland wahrscheinlich die vielfältigste Kulturlandschaft in Europa. Auch in der Schweiz ist die Kultur von Vielfalt geprägt, vor allem durch die Mehrsprachigkeit. Und Kultur ist dort oft gesellschaftliche Debatte, so wie wir sie auch in "Kulturzeit" führen.
Sind Sie manchmal noch überrascht von Debatten oder kulturellen Ereignissen in Österreich oder der Schweiz?
Sandhack: Auch wenn wir ähnliche gesellschaftliche Probleme haben, gibt es immer wieder Dinge, die neu für uns und neu auch für unsere Zuschauer sind. Oft geht es darum, von welcher Perspektive aus bestimmte Entwicklungen betrachtet werden. Der Blick auf Themen in den drei Ländern und drei Kulturen ist ein anderer. Immer wieder lerne ich etwas dazu und lasse mich gerne auch überraschen.
Fix: Wir lernen jede Woche voneinander. Schon allein die Frage, wie die Demokratien und die parlamentarischen Systeme in den drei Ländern aufgestellt sind, ist etwas, das uns öfters beschäftigt. Aber auch die unterschiedlichen Erfahrungen mit rechtsradikalen Parteien, mit Migration oder Diversität. Da gibt es hier in Mainz immer wieder Wissenslücken, die es zu füllen gilt. Insofern ist es gut, wenn die Moderator*innen Nina Brunner aus der Schweiz oder Peter Schneeberger aus Österreich uns bestimmte Dinge aus ihrer Sicht erklären.
Sandhack: Zu unserem Konzept gehört im Übrigen, dass jeder Sender eine Moderatorin bzw. einen Moderator stellt, die sich wöchentlich abwechseln. Das ist schon seit dem Start der Sendung im Oktober 1995 so und das ist nach wie vor sehr wichtig für uns, für den gemeinsamen kreativen Geist von vier Sendern.
Welchen Einfluss hatte Corona auf die Sendung? Sie haben bereits in einem anderen Interview gesagt, dass Sie trotz der vielen Absagen und Schließungen in der Kultur gar keine Probleme hatten, die "Kulturzeit" zu füllen.
Sandhack: Wenn in einer derartigen Krise eine Chance liegt, dann die, dass man endlich sieht, was fehlt, wenn keine Kunst mehr zu erleben ist. Wenn Kinos, Theater und Museen geschlossen bleiben - das hat im Lockdown eine riesige Lücke gerissen. Grund genug für uns, zwei Reihen ins Leben zu rufen: Mit "Kultur trotz(t) Corona" haben wir Künstler*innen eine Bühne geboten, auf der sie sich aus ihrem Home Office heraus - vor Zuschauern - präsentieren konnten. Und im "Corona Tagebuch" haben wir Philosoph*innen um ihre Einschätzungen gebeten, was die Corona-Krise mit uns, mit unserer Gesellschaft, mit unserer Welt macht. Wir haben gemerkt, wie verwundbar wir sind und wie schwer wir auch mit dem Unsichtbaren leben können.
Fix: Im Alltag der Redaktion war Corona ein großer Einschlag. Als am 16. März der Lockdown kam, war überhaupt nicht klar, wie lange wir senden können. Da sind wir ja nicht nur abhängig von der Redaktion, sondern auch von der Studiocrew. Wenn einer das Virus bekommen hätte, wäre die gesamte Redaktion für Tage schachmatt gesetzt worden. Wir haben dann schnell in versetzten Schichten und mit sehr kleinen Teams gearbeitet, die sich physisch nicht begegnet sind. Rückblickend sind wir stolz und froh, dass wir die ganze Zeit gesendet haben. Übrigens mit guter Zuschauerresonanz, der Wunsch nach Kultur und Einordnung war sehr groß. Das haben wir im öffentlich-rechtlichen Fernsehen alle erlebt. Während des Lockdowns konnten unsere Moderator*innen aus Österreich und der Schweiz leider nicht zu uns kommen. Aber wir haben dank des großen Einsatzes von Vivian Perkovic und Cécile Schortmann, und vertretungsweise Ariane Binder, die Wochen trotzdem stemmen können.
Wie ist es um die Kulturszene im Jahr 2020 bestellt? Der Impact von Corona ist ja unbestritten.
Sandhack: Ich glaube, dass das ganze Ausmaß dieser Krise noch gar nicht abzusehen ist. Man weiß zum Beispiel nicht, wie sich die Kinobranche entwickeln und ob es in zwei Jahren Arthouse-Kinos in der jetzigen Form noch geben wird. Auch freie Künstler*innen und Kulturinstitutionen sind stark davon betroffen. Es wird nicht abgehen ohne Insolvenzen. Und die Frage, was hilft, wird uns noch lange beschäftigen.
Fix: Es gibt zwei Realitäten. In der einen erleben wir eine großzügige staatliche Förderung der Kultur. Auf der anderen Seite gibt es dennoch viele Künstler*innen und kleinere Institutionen und Ensembles, die das wahrscheinlich nicht retten wird. Ich rechne damit, dass wir ab der nächsten Spielzeit und vor allem 2021 doch einige Schließungen erleben werden. Aber Corona hat hoffentlich auch gezeigt, der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Kultur ist systemrelevant.
Wir haben gemerkt, wie verwundbar wir sind und wie schwer wir auch mit dem Unsichtbaren leben können.
Monika Sandhack
Die "Kulturzeit" wird jeden Tag live zwischen 19:20 und 20 Uhr gesendet. Viele andere Programme haben nicht so prominente Sendeplätze. Ganz grundsätzlich gefragt: Würden Sie sich mehr Kultur im Fernsehen wünschen?
Sandhack: Die Klage über mehr Kultur im Fernsehen gibt es ja schon lange und natürlich würde ich mir wünschen, dass es auch in den Hauptprogrammen zu früherer Stunde mehr Kultur gibt. Aber wir sind hier bei 3sat sehr gut aufgestellt und können uns nicht beklagen.
Fix: Wir haben ein starkes Commitment zur Kultur bei 3sat. Ich glaube, die Debatte muss sich aber gar nicht mehr so sehr um lineare Sendeplätze drehen, sondern mehr darum, wie gut kulturelle Programme in den Mediatheken der Sender aufzufinden sind. Das beschäftigt auch uns gerade. Wir sind bei der Kulturplattform des ZDF dabei und jetzt plant auch die ARD ein entsprechendes Projekt. Das sind alles Möglichkeiten, um Kulturprogrammen jenseits des linearen Programms einen Raum zu bieten. Und den brauchen sie unbedingt. Seit dem Sommer gibt es die "Kulturzeit" übrigens auch in der Mediathek der ARD.
Was planen Sie on Air zum Jubiläum?
Sandhack: Unser eigentliches Jubiläum ist am 2. Oktober. Wir planen eine Extra-Ausgabe der "Kulturzeit" zum Thema "Zeitenwende". Darin fragen wir, wie sich die Welt und unsere Gesellschaft nach Corona verändert haben. Und wir haben eine "Kulturzeit"-Show im Programm, die am 17. Oktober laufen wird. "Happy Birthday, Kulturzeit", heißt die Sendung. Da veranstalten wir ein Quiz mit einem prominenten Rate-Panel. Dazu gehören Bülent Ceylan, Dieter Meier sowie Sophie Passmann. Weitere Gäste sind Katharina Thalbach, Wladimir Kaminer, Vea Kaiser und Idil Baydar. Im Anschluss an diese Show gibt es eine Dokumentation über Trends auf dem Buchmarkt sowie eine 45-minütige Gesprächsrunde, die während der Frankfurter Buchmesse aufgezeichnet wird.
Fix: Die Quizshow ist für uns ein Wagnis, das hatten wir in 25 Jahren noch nie. Dank 3sat haben wir es jetzt zum Geburtstag die Gelegenheit bekommen, die Primetime am Samstag zu bespielen. Die Idee ist, ein populäres Modell wie eine Quizshow mit "Kulturzeit"-Inhalten zu füllen und damit ein breiteres Publikum zu erreichen. Das ist hoffentlich sehr unterhaltsam für unsere Zuschauer*innen, aber an einigen Stellen wird es auch ernst. Das bleibt auch bei einer Show nicht aus, in diesen schwierigen Zeiten.
Ein großer Aufschlag zum Geburtstag also. Grundsätzlich müssen die Öffentlich-Rechtlichen seit Jahren sparen. Betrifft das auch die "Kulturzeit"?
Fix: Die Einsparungen haben uns auch getroffen und machen uns das Leben nicht leichter. Grundsätzlich haben wir einen stabilen Etat, weil es ein starkes Commitment von 3sat für das Flaggschiff "Kulturzeit" gibt.
Wo liegen die Herausforderungen für die "Kulturzeit" in der Zukunft?
Sandhack: Wir müssen uns als tägliches Fernsehen-Feuilleton, live und zur besten Sendezeit, immer neu behaupten. Als Magazin unverwechselbar bleiben und verstehen, was sich in der Gesellschaft abspielt. Wichtig ist zu erklären, was passiert. Wir haben nicht die Aufgabe, unseren Zuschauern zu sagen, was sie denken sollen – vielmehr wollen wir sie zum Nachdenken anregen. Die Zuschauer haben heute, im Vergleich zu unseren Anfängen, ohnehin viel mehr Macht, weil sie die Auswahl haben. Wir müssen uns in Zukunft noch mehr fragen, für wen wir "Kulturzeit" machen? Das heißt auch, wir müssen mehr jüngere Zuschauer mit unserer Sendung erreichen.
Fix: Wir bauen unsere Präsenz in den Sozialen Netzwerken, vor allem auf Instagram, weiter erfolgreich aus. Jetzt gerade sind wir mit ersten Beiträgen auf YouTube gestartet, um einige Inhalte der "Kulturzeit" auch dort verfügbar zu machen. Wir müssen dorthin, wo die jüngeren Zuschauer*innen sind. Grundsätzlich sind die Säulen des Formats aber auch nach 25 Jahren nach wie vor absolut tragfähig: als länder- und senderübergreifendes, tägliches Kulturformat. Woran wir arbeiten müssen, ist noch mehr Diversität. Da geht es um Köpfe, aber auch um die Perspektiven, mit denen wir erzählen.
Frau Sandhack, Frau Fix. Vielen Dank für das Gespräch!