Herr Karnick, Herr Frickel. Sie engagieren sich seit Jahrzehnten in der AG Dokumentarfilm (AG DOK). Vor einigen Tagen haben Sie vor dem Hessischen Rundfunk protestiert, was läuft beim Sender aus Ihrer Sicht falsch?
Hannes Karnick: Für Dokumentarfilmer ist Hessen schon immer ein Standortnachteil gewesen. Der HR ist der einzige ARD-Sender, der eine sehr strikte Eigenproduktionspolitik fährt. 97 Prozent aller Produktionen des HR stammen direkt aus dem Haus. Freie Dokumentarfilmer oder Nachwuchsfilmer kommen so überhaupt nicht zum Zuge. Das ist kein Zufall, sondern die erklärte Politik des Hauses, die auch vom Rundfunkrat abgesegnet ist. Für uns Dokumentarfilmer ist das existenzbedrohend, gerade jetzt in der Coronakrise.
Sie fordern mehr Aufträge für freie Dokufilmer. Stoßen Sie beim HR auf taube Ohren?
Karnick: So ist es, ich spreche das Thema seit Jahrzehnten an. Seit einiger Zeit suchen auch junge Filmemacher verstärkt den Dialog mit dem HR, was mich sehr freut. Konkrete Ergebnisse gibt es aber keine.
Thomas Frickel: Bei unserer Aktion vor dem HR haben wir auch auf die EU-Fernsehrichtlinie hingewiesen, die den Sendern vorschreibt, mindestens zehn Prozent ihres Programms von unabhängigen Produzenten bestücken zu lassen. Wir zweifeln sehr daran, dass der HR diese Forderung erfüllt. Die Richtlinie ist auch ein Instrument zur Sicherung von Vielfalt. Auch davon ist im HR-Fernsehen nicht viel zu erkennen. Schon vor Jahren hat ein Journalist der "Funkkorrespondenz" einmal das Programm analysiert und "1001 Sendung, die ein Hesse gesehen haben und einfach lieben muss" aufgelistet. Dort findet man dann Titel, wie "50 Dinge, die ein Hesse getan haben muss!", "Die 100 besten Hessenwitze" oder "Die unglaublichsten Tiere der Hessen". Der HR schmort mit den Themen, die er den Menschen anbietet, immer im eigenen Saft. Was anderes scheint den Leuten im Sender offensichtlich nicht einzufallen. Alles wird nach dem gleichen Muster gestrickt und wird dann auch immer wieder kopiert und wiederholt. Deshalb ist das Programm so dröge und vorhersehbar.
Dass der HR aber ein regionales Programm anbietet und sich auf Inhalte aus seinem Sendegebiet konzentriert, kann man ihm nicht vorwerfen, oder?
Frickel: Dass regionale Themen ein Programmschwerpunkt sind, ist richtig und gut. Zum Problem wird es dann, wenn der Sender nichts anderes mehr zulässt. Das ist übrigens ein Konzept, das alle ARD-Anstalten erfasst hat. Die meisten Dritten Programme wurden so getrimmt, dass alles, was nicht regional ist, rausfliegt. Formate wie "Lecker aufs Land" finden Sie beim SWR und leicht modifiziert bei allen anderen Sendern. Ex-Bundespräsident Joachim Gauck hat bei einer Grimme-Preis-Verleihung mal gesagt, dass immer mehr vom immer gleichen nicht das Rezept für Qualität sein kann. Da hat er recht. Wir fordern von einem öffentlich-rechtlichen Programm, dass es gewisse Qualitätsstandards einlöst und allen Gruppen innerhalb unserer Gesellschaft etwas anbietet. Stattdessen präsentiert der HR selbst in seinen Ratgeber-Sendungen und Wissenschaftsmagazine einen "production value", der einem manchmal die Schuhe auszieht. Das Geld fehlt vorne und hinten, und das sieht man dem Programm leider auch an. Auch von daher wäre die Öffnung hin zur freien Produktionsszene von Vorteil: Freie Produktionsfirmen könnten im Zweifel sogar günstiger produzieren.
Karnick: Auch regionale Themen müssen im Dokumentarischen über sich hinaus weisen. Natürlich kann man bestimmte Beispiele aus Hessen zeigen, aber es muss auch immer eine Relevanz für ein Publikum außerhalb des Bundeslandes haben. Und wenn es dann auch noch repertoire-fähig sein soll, muss es intellektuell etwas auslösen, was über den konkreten Anlass hinaus geht. Es stimmt, dass es die Entwicklung in vielen Sendern gibt. Beim WDR und MDR sind die Auswirkungen nicht so sichtbar, weil die Sender so groß sind, dass es neben dem Regionalen noch einiges mehr gibt. Aber beim HR ist das gesamte Programm gnadenlos auf diese einfachen regionalen Themen getrimmt.
Sie haben gesagt, durch freie Dokumentarfilmer könnte es für den HR auch günstiger werden. Ist das kein Argument, mit dem man den Sender überzeugen kann?
Frickel: Es wäre zum Beispiel ein Leichtes, mit relativ wenig Geld Lizenzen einzukaufen. Auch das würde den freien Produzenten helfen. Mit Unterstützung der Hessischen Filmförderung entstehen ja immer wieder frei produzierte Filme aus Hessen, die für Aufsehen sorgen. Durch die Richtlinien der alten Filmförderung hatte der HR früher die Möglichkeit, solche Filme einmalig zu zeigen. Das hat man auch gemacht, wenngleich meist mitten in der Nacht um halb drei. Inzwischen geht das nicht mehr. Wenn heute Dokumentarfilme im HR laufen, sind das meist Übernahmen von anderen ARD-Anstalten, die nichts kosten. Und selbst wenn man den Quotendruck berücksichtigt, den es bei einem öffentlich finanzierten Sender ja eigentlich gar nicht geben sollte, ist es nun wirklich nicht zu viel verlangt, einmal in der Woche einen Sendeplatz für Dokumentarfilme freizuräumen. Meinetwegen auch erst um 22 Uhr. Andere ARD-Sender schaffen das ja auch.
Karnick: Vor allem für die jungen Filmemacher ist es schwer, sich zu etablieren oder eine Firma aufzubauen. Wir sitzen in Darmstadt und haben in 40 Jahren keinen einzigen Film für oder mit dem HR gemacht. Da geht es vielen anderen Kollegen auch so.
Wie hoch ist der Eigenproduktionsanteil bei den anderen ARD-Anstalten?
Karnick: Da kann man den MDR mit dem HR vergleichen. Der MDR ist rund ein Drittel größer und gibt sechs Prozent seiner Gebühreneinnahmen für Auftragsproduktionen nach außen, beim HR sind es nicht einmal 0,2 Prozent. Insgesamt, also inklusive Lizenzen, ist das Missverhältnis ebenso groß. Der MDR gibt rund 67 Millionen Euro im Jahr auf den Produktionsmarkt, beim HR sind es insgesamt 3,7 Millionen. Das sind die Zahlen aus dem ARD-Produzentenbericht 2017. Zwischen den Sendern liegen Welten. Alleine von der Größe her müsste der HR rund 40 Millionen Euro in den Produktionsmarkt stecken. Aber es wären ja schon alle froh, wenn sich der Sender mit ein oder zwei Millionen beteiligen würde. Einfach, damit es einen Einstieg gibt. Wir konnten aber in allen Jahren nie ein Zeichen der Kooperation erkennen.
Der HR argumentiert, dass man die Inhalte auch in seinen Magazinen weiternutzen kann, wenn man sie selbst herstellt. Ist das ein valides Argument?
Frickel: Natürlich nicht, man kann auch Material von freien Filmproduzenten nutzen und das wird auch gern gemacht. Zumal die Verträge, worüber wir auch unglücklich sind, solche Verwendungen meist erlauben. Aber die Querverwertung geht noch viel weiter. Filme, die für Arte in Auftrag gegeben werden, müssen meist auch so konzipiert werden, dass sie einen regionalen Bezug haben und im Dritten Programm verwertet werden können. Dazu gibt es zum Teil sogar schriftliche Anweisungen, Alles muss hin- und her verschoben werden können. Das ist eigentlich ein Skandal, denn Arte ist ja ein Programm, das gerade nicht provinziell, sondern weltläufig gedacht ist und das die Möglichkeit hätte, das zu kompensieren, was in den Dritten Programmen weggefallen ist.
Wie groß ist Ihre Hoffnung, beim HR noch etwas zu bewegen?
Karnick: Ich hoffe, dass die jungen Filmemacher in Hessen künftig auf offenere Ohren stoßen. Denn die sind wirklich darauf angewiesen. Der HR hat sich nie mit eigenen Mitteln an der Filmförderung beteiligt, sondern immer nur Überschüsse von der LPR Hessen, die man zurückerhalten hat, an die Filmförderung durchgereicht. Das war durch die Politik aber ohnehin zweckgebunden. Das sind heute 770.000 Euro. Wir wollen, dass sich der HR noch einmal mindestens mit der gleichen Summe beteiligt. Das wäre in diesem Zusammenhang ein Pappenstiel.
Durch Corona sind auch in der Dokufilmbranche Drehs gestoppt oder unterbrochen worden, Reisen ist nicht so möglich wie früher. Auf der anderen Seite steigt der Bedarf nach Beobachtung dieser speziellen Umstände. Wie ist es um die Branche bestellt?
Frickel: Auf jeden Fall ist die gesamte Filmbranche stark betroffen, wenngleich es da sicher interne Unterschiede gibt. Besonders schwer ist es für fiktionale Produktionen oder auch für die Kinos, während der Dokumentarfilm traditionell etwas flexibler ist. Natürlich mussten auch im Dokumentarfilmbereich Projekte verschoben und Reisen abgesagt werden. Ich will da gar nichts schönreden, zumal andere die Situation besser einschätzen können als ich.
Karnick: Ganz viele Kollegen haben Arbeitsstipendien in Anspruch nehmen müssen. Sie haben keine Einnahmen mehr und die Ausgaben laufen natürlich weiter. Das ist materiell ganz schwierig und ich kenne niemanden, dem es finanziell gut geht. Die Lage in der Branche ist schwierig. Noch fehlt außerdem ein Ausfallfonds für TV-Produktionen. Auch wenn daran gearbeitet wird, gilt der wohl nicht für Filme, die im Ausland entstehen. Das wird auch viele Dokumentarfilmer betreffen.
Frickel: Eines muss man in diesem Zusammenhang allerdings auch sagen: Corona setzt auch kreative Energien frei. Die dokumentarische Begleitung der Wirklichkeit ist gerade in einer solchen Zeit wichtiger denn je, und deshalb haben viele Kolleginnen und Kollegen diese gesellschaftliche Ausnahmesituation ganz spontan und auf eigene Kosten auf Film festgehalten. Wir hoffen, dass daraus ein großes und spannendes Gemeinschafts-Projekt entsteht.
Für Dokumentarfilmer ist Hessen schon immer ein Standortnachteil gewesen.
Hannes Karnick
Wenn man die Krise mal ausklammert, habe ich das Gefühl, dass die Wertschätzung für Dokumentarfilme und ihre Macher in den letzten Jahren gestiegen ist. Sehen Sie das auch so und liegt das vielleicht an den Streamingdiensten, wo solche Produktionen global verfügbar gemacht werden und hier und da ja auch einen Hype auslösen?
Frickel: Das hat sicher damit zu tun, dass es in diesem Bereich zum ersten Mal so etwas wie eine Wettbewerbssituation und einen "Markt" gibt. Man muss aber auch sagen, dass das jetzt nicht das Eldorado für Leute ist, die Dokumentarfilme machen. Bei Netflix & Co. bekommen nur ganz wenige aus der Branche die Möglichkeit, etwas zu produzieren. Die Wertschätzung des Dokumentarfilms hat aber auch damit zu tun, dass die Politik, aber auch wir von der AG DOK, immer wieder auf die gesellschaftliche Bedeutung des Dokufilms hinweisen. Die ARD präsentiert seit einigen Jahren unter dem Label "Top of the Docs" all das, was sie im Dokumentarischen leisten. Das ist eine Reaktion auf die nicht enden wollenden Vorwürfe, dass da mehr möglich sein müsste.
Mehr ist immer möglich. Und meistens wollen auch andere Bereiche "mehr". Gerade von ARD und ZDF.
Frickel: Es ist ja so: Der Trend geht hin zu formatiertem Fernsehen. Also Dinge, die nach einem bestimmten Schema produziert werden. Bei einigen Sendern denken sich Redakteure etwas am Schreibtisch aus und die Filmemacher sollen dann nur noch die Belegbilder dazu beschaffen. Das ist eine Extremform und es gibt sicher noch viele Schattierungen dazwischen. Aber dokumentarisches Arbeiten funktioniert anders. Man geht in Situationen rein und schaut dann, wie sich das entwickelt. Diese Neugier auf das Fremde, das Neue, Unbekannte, Unverstandene, die Bereitschaft, einfach nur zuzusehen und zuzuhören, das ergebnisoffene Herangehen und die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen ist gerade heute, wo es immer mehr Lagerbildung gibt, wichtig für den gesellschaftlichen Diskurs. Dokumentarfilmer können damit auch die politische Debatte vorantreiben. Und deshalb ist es so schade, dass diese Form des Dokumentarismus kaum mehr im Fernsehen stattfinden. Aber natürlich kostet das Geld und dauert lange. Zum Vergleich: Geht man nach Minutenpreisen, wird in der ARD selbst für den Wetterbericht mehr ausgegeben als für Dokumentarfilme.
Karnick: Bei den Projekten, die mit dem Fernsehen produziert werden, bringen die Sender meist nur sehr wenig Geld ein. Der Rest wird auf anderen Wegen finanziert, sei es über Filmförderungen oder anderen Quellen. Ein abendfüllender 90-minütiger Dokumentarfilm braucht zwischen 250.000 und einer halben Million Euro. Das kann bis zu einer Million Euro gehen. Nennenswerte Summen vom Fernsehen direkt kommen nur in ganz wenigen Ausnahmefällen zustande.
Der HR schmort mit den Themen, die er den Menschen anbietet, immer im eigenen Saft.
Thomas Frickel
Seit Jahren wird über Anzahl von Dokumentarfilmen bei ARD und ZDF debattiert, auch über die Sendeplätze. Haben Sie das Gefühl, die Senderverantwortlichen hören Ihnen zu?
Frickel: Vor Jahren ist eine politische Diskussion angestoßen worden, die auch noch nicht abgeschlossen ist. Wir haben in diese Debatte ein verfassungsrechtliches Gutachten von Prof. Hubertus Gersdorf eingebracht. Seine These lautet: Die Verpflichtung, Information zu zeigen, gilt vor allem für die Hauptprogramme. Und es wäre möglich, die Beauftragung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks so zu schärfen, damit es dort mehr Dokumentarisches gibt. Das würde nicht mit der Rundfunkfreiheit kollidieren. Und natürlich würden wir uns so etwas wünschen. Innerhalb der Sender dreht sich diese Diskussion im Kreis und deshalb hoffen wir auf die Politiker und die Rundfunkräte.
Trotz aller Widrigkeiten: An welchen Projekten arbeiten Sie derzeit?
Frickel: Wenn man sein ganzes Leben lang Filme gemacht hat, gibt es immer Ideen, die man umsetzen will. Ich habe ja meist Kino-Dokumentarfilme gemacht, da ist die Phase der Entwicklung und Finanzierung sehr lang. Ein oder zwei Ideen habe ich, kann da aber leider noch nichts genaueres sagen. Ich habe im Februar außerdem nach 34 Jahren den Vorsitz der AG DOK abgegeben und da mag man es mir gönnen, dass ich bei der aktiven Filmarbeit eine Zeit lang erst mal nichts tue.
Karnick: Mir geht es da gerade ähnlich. Es gibt viele Ideen und ich bin auch dabei, eigene Bestände aufzuarbeiten. Das heißt sortieren und digitalisieren. Es stellen sich interessanterweise immer wieder Fragen im Zusammenhang mit Filmen, die es schon längere Zeit gibt. Da sind wir wieder bei der Funktion des Dokumentarfilms: Wenn es um ein bestimmtes Ereignis geht, werden die Filme nicht alt. Das ist immer ein Zeichen für einen guten Film.
Herr Frickel, Sie haben bereits Ihren Abschied als Vorsitzender der AG DOK Anfang des Jahres angesprochen. Wie schwer ist Ihnen das loslassen gefallen? Sie engagieren sich ja trotzdem noch oft und laut.
Frickel: Natürlich engagiere ich mich. Ein richtiges Loslassen war es nicht wirklich. Ich habe mich aus der ersten Reihe zurückgezogen und das war richtig. Wenn man das so lange gemacht hat wie ich, gibt es Ermüdungserscheinungen und ritualisierte Abläufe, denen ein neuer Anfang gut tut. 40 Jahre existiert der Verband jetzt und ich finde, dass dieses Jubiläum eine gute Möglichkeit für diesen Neuanfang war. Das ist aber kein Abschied von der AG DOK, ich berate natürlich den Vorstand weiterhin und habe mich etwa um die Koordination der Jubiläumsthemen und um die große "Let´s DOK"-Kampagne gekümmert.
Herr Frickel, Herr Karnick - vielen Dank für das Gespräch.