Herr Bratzler, wie will der SWR den Spagat schaffen, im Dritten Fernsehprogramm ein Angebot für Beitragszahler aller Altersgruppen zu bieten?
Im Dritten Programm kann man diesen Spagat überhaupt nicht hinbekommen. Es wäre vermessen zu glauben, die Altersgruppe unter 40 Jahren mit einem linearen Programm zu erreichen. Diese Hoffnung habe ich nicht. Deshalb brauchen wir unterschiedliche Formate auf unterschiedlichen Plattformen für unterschiedlichen Altersgruppen. Das ist unsere Herausforderung. Wir fokussieren im linearen Dritten Programm auf die ältere Zielgruppe, die wir schon haben, und künftig auch stärker auf die noch erreichbare mittlere Zielgruppe zwischen 40 und 60, die zwar auch schon On Demand nutzt, aber auch lineares Programm schätzt. Und dann entwickeln wir mit Hochdruck, weil wir enormen Nachholbedarf haben, vornehmlich digitale Formate für die jüngeren Zielgruppen. Das bedeutet eine klare Umverteilung von Ressourcen und Aufwand von den älteren Zielgruppen zu den jüngeren.
Fürs Digitale zu produzieren und dem Publikum zu folgen ist doch sicher ein enormer Kulturwechsel für Fernsehmacher, die gewohnt waren, dass das Publikum zum Sender kommt…
Stimmt, das ist ein Umdenken, das aber schon seit Jahren stattfindet. Die Erkenntnis, dass wir publikumsorientierter denken und produzieren müssen, ist ja nicht ganz neu. Die Zeit einer linearen Fernsehwelt mit begrenztem Angebot und damit garantierter Aufmerksamkeit ist schon länger vorbei. Wir müssen aber immer noch besser werden darin zu verstehen, welchen Mehrwert verschiedene Zielgruppen im SWR sehen, was sie von uns erwarten. Zu dem Umdenken gehört auch die Bereitschaft, nicht nur zu senden, sondern auch zu empfangen. Das ist ein Prozess, der im SWR schon unter dem ehemaligen Intendanten Peter Boudgoust gestartet ist, wir sind ja für die ARD zusammen mit dem ZDF verantwortlich für das Jugendangebot Funk. Mit Kai Gniffke und einer in Teilen neuen Geschäftsleitung hat der Umbau zu einem digitalen Medienhaus nochmal an Fahrt aufgenommen.
Was heißt konkret „an Fahrt aufgenommen“?
Wir haben Ziele definiert und auch Produktionsmittel dafür bereitgestellt. Wir haben Redaktionen dazu ermuntert, Ideen für digitale Projekte zu pitchen und dann auch umzusetzen. Das hat einen richtigen Ruck ausgelöst im SWR im vergangenen Jahr. Insgesamt werden derzeit mehr als 50 digitale Formate entwickelt, die im Haus oder gemeinsam mit Produktionsfirmen entstanden sind. Dabei lernen wir ganz viel, probieren aus. Wir sind mutiger als früher und werden deshalb auch regelmäßig scheitern. Das in Kauf zu nehmen und damit Angst abzulegen, fällt dem einen leichter, dem anderen schwerer. Aber der Prozess läuft.
"Die Idee zählt, nicht der Sendeplatz."
Wenn Sie von „digitalen Projekten“ sprechen, meinen Sie Formatideen, die online veröffentlicht werden?
Das sind Formate, die erstmal nicht mit Blick auf das lineare Programm entwickelt und umgesetzt werden. Die also zum Beispiel nicht mit Sendeplätzen im Sinn oder benötigten Minutenlängen gedacht werden. „Sport erklärt“ ist ein Format für YouTube, wir haben die „Öko-Checker“ und entwickeln gerade beispielsweise ein Geschichtsformat für Instagram und junge Newsformate. Wir haben auch ein sehr interessantes Elterncoaching-Format in der Pilotierung. All das wird mutmaßlich nicht im linearen SWR-Programm laufen. Andere Ideen werden vielleicht auch linear ausgewertet im Nachgang, aber wichtig ist für alles, das wir neu denken: Die Idee zählt, nicht der Sendeplatz und die Frage, ob wir damit möglichst viele Zuschauerinnen und Zuschauer unseres Stammpublikums erreichen. Schön, wenn uns das auch gelingt, es ist aber nicht die Voraussetzung.
Die ARD hat, insbesondere unter Führung von Ulrich Wilhelm, immer wieder die Abhängigkeit von privatwirtschaftlichen Online-Plattformen aus dem Silicon Valley oder China beklagt - gleichzeitig nutzt man diese Angebote. Wie geht das zusammen?
Darüber wird sehr viel diskutiert, weil man sich in die Abhängigkeit von internationalen Konzernen und deren Algorithmen begibt, nur bleibt uns keine andere Wahl: Wir müssen dort hin, wo das Publikum ist, und jüngere Zielgruppen erreichen wir über die eigenen Plattformen kaum. Das ist aber wichtig, weil auch jüngere Menschen im Land uns mitfinanzieren und wir ihnen Angebote machen sollten, um die Akzeptanz und Relevanz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auch in diesen Altersgruppen zu stärken. Wichtig ist, dass unsere Inhalte auf allen Plattformen einen klaren Absender haben und wir so auch Nutzerinnen und Nutzer auf unsere eigenen Erstplattformen holen, also die ARD Mediathek oder die ARD Audiothek.
Und einer dieser jungen Köpfe für die digitalen Formate ist jetzt also Thomas Gottschalk?
(lacht) Nein, wobei Thomas Gottschalk tatsächlich einer der wenigen großen Namen ist, die es schaffen, generationenübergreifend Aufmerksamkeit zu generieren und Menschen zusammenzubringen. Deswegen haben wir uns im SWR auch sehr gefreut als Thomas Gottschalk, der inzwischen ja auch seinen Lebensmittelpunkt in Baden-Baden hat, signalisierte, mehr mit uns machen zu wollen. Bei SWR3 ist er ja schon länger zu hören, was auch bei der jungen Hörerschaft übrigens gut funktioniert. Jetzt holen wir ihn auch wieder vor die Kamera und arbeiten mit ihm an zwei neuen Formaten der großen Fernsehunterhaltung, die wir trotz unserer neuen Ambitionen ja nicht komplett kappen wollen.
Was können Sie uns zu diesen Formaten sagen?
Thomas Gottschalk macht bekanntlich nur noch Dinge, auf die er große Lust hat und bei denen Konzepte und Partner überzeugen. Deswegen freuen wir uns sehr, gleich zwei Projekte mit ihm zu realisieren. Wir werden fürs Erste eine Jahresendshow produzieren, die dieses im doppelten Sinne sehr ausgefallene Jahr 2020 noch einmal Revue passieren lässt. Diese Idee ist zusammen mit dem ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber entstanden. Das ist kein klassischer Jahresrückblick, so viel kann ich versprechen. Viel mehr eine heiter-besinnliche Show, die aus unserer Sicht super zu Thomas Gottschalk passt, und zur Weihnachtszeit dann um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen sein wird. Und im kommenden Jahr planen wir, zunächst einmal vorgesehen fürs SWR Fernsehen und die ARD Mediathek, eine Reihe unter dem Titel „Nochmal 18!“, in der Gottschalk mit jüngeren und älteren Prominenten und Normalos nochmal ihren 18. Geburtstag nachfeiert und zurückblickt auf eben diese Jahre. Das ist sehr musikgetriebenes Timetainment, das mehrere Generationen erreichen kann und in Baden-Baden produziert wird.
Aber wir sprachen ja eben über die neuen digitalen Formate für jüngere Zielgruppen. Kommen wir darauf nochmal zurück…
Genau, Thomas Gottschalk ist nicht der einzige für uns neue Kopf, mit dem der SWR zusammenarbeitet. Mit Blick auf die einangs erwähnten digitalen Formate entwickeln wir Ideen mit vielen Talenten. Mit Özcan Cosar, einem bekannten Comedian mit einer großen Fangemeinde in den sozialen Netzwerken, entwickeln wir eine crossmediale Comedy unter dem Arbeitstitel „Cosar – Alles außer Hochdeutsch“, die schon im November online geht - und in dem Fall auch im linearen Programm zu sehen sein wird. Wir pilotieren mit Friederike Kempter, gut bekannt aus dem Münster-„Tatort“, ein Format für die ARD-Mediathek, in dem sie ungewöhnliche Frauen mit außergewöhnlichen Lebenswegen besucht. Arbeitstitel: „Friederike klopft an“. Das alles fügt sich ein in eine Reihe mit Formaten wie dem schon laufenden „Leeroys Momente“, mit denen wir mehr Vielfalt in Geschichten und Personen abbilden wollen.
Stichwort Diversität.
Ja, Diversität ist ein Riesenthema, bei dem uns der Nachholbedarf bewusst ist. Wir können die Breite der Gesellschaft nur erreichen, wenn wir sie auch zeigen. Wir haben viel vor. Im Rahmen der nächsten ARD-Themenwoche werden wir ein zweiwöchiges Sozialexperiment veranstalten: „#stromlos“ begleitet eine Familie, die zwei Wochen ohne Strom lebt, über diverse Ausspielwege hinweg. Unter dem Arbeitstitel „Doku Next Genration“ haben wir eine ganze von Dokumentationen beauftragt, die sich in Thema und Umsetzung an jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer richten sollen. Mit Philip Walulis arbeiten wir bekanntermaßen an einer LateNight und, was wir bisher noch nicht angekündigt haben, es wird eine Kinder-Edition von „Verstehen Sie Spaß?“ unter dem Arbeitstitel „VSS Kids“ geben, mit zwei Jugendlichen als Moderatoren und Pranks von Kindern und Jugendlichen. Produziert für den „Verstehen Sie Spaß?“-YouTube-Kanal.
Wenn man erklärtermaßen viele Gruppen ansprechen will, begibt man sich ja bewusst in kleinere Teilzielgruppen und schaut nicht mehr nur auf die größtmögliche Gruppe. Diversität auch als Ausstiegschance aus dem Quoten-Rennen?
Da sprechen Sie einen entscheidenden Punkt an. Es ist unsere Aufgabe, die Gesellschaft möglichst umfassend zu erreichen. Wir haben für den SWR das Ziel definiert, dass jeden Tag mindestens die Hälfte der Unter-40Jährigen und mindestens zwei Drittel der 40- bis 60jährigen in unserem Sendegebiet ein SWR-Angebot nutzen. Wo sie das tun und was sie nutzen, ist sekundär. Das Medienverhalten jüngerer Menschen lässt sich nicht mehr allein an der Quote festmachen. Wie groß die lineare Reichweite des SWR Fernsehen ist, kann mir nicht egal sein. Aber es dominiert nicht die Strategie. Ich trete nicht in den aus meiner Sicht etwas albernen Wettbewerb ein, welches Dritte Programm der ARD jetzt im Ranking der jährlichen Durchschnittsquote wo steht - weil das nicht unsere Wettbewerber sind.
Sondern?
Ich muss eine Antwort darauf finden, wie wir jüngeren Menschen ein Gegenangebot zu Netflix, Amazon und Co. machen können, und nicht, wie ich im linearen 0,3 Prozent Marktanteil dazu gewinnen kann. Die Messung von Erfolg gerade nach öffentlich-rechtlicher Bewertung wird zweifelsohne komplexer, weil wir Online-Erfolge mitberücksichtigen müssen. Aber wir alle stehen da ja vor der Herausforderung, Reichweite auf unterschiedlichen Ausspielwegen sinnvoll addieren zu können, um ein aussagekräftiges Gesamtbild zu bekommen.
"Es geht um eine massive Umverteilung vom Linearen ins Nonlineare."
Wenn Sie mehr im Nonlinearen ausgeben wollen und von den vielen neuen Projekten sprechen, dann kommen wir nicht drumherum darüber zu sprechen, wo Sie denn im SWR-Programm sparen wollen…
Vor der Antwort drücke ich mich gar nicht. Der SWR hat einen zehnjährigen Einspar- und Umbauprozess hinter sich, der einige Einschnitte mit sich brachte. Dieser Prozess eröffnet uns jetzt, auch im Unterschied zu manch anderer ARD-Anstalt, die Möglichkeit, in den digitalen Umbau beherzt zu investieren und in umfassender Form zu pilotieren und auszuprobieren. Wir gehen aber noch weiter und haben das Ziel ausgegeben, den Sendeaufwand fürs lineare SWR Fernsehen bis 2024 um ein Drittel zu reduzieren. Es geht also um eine massive Umverteilung vom Linearen ins Nonlineare, um nicht nur mal ein Feuerwerk zu veranstalten, sondern nachhaltig Budgets anders zu nutzen.
Das ist sehr diplomatisch formuliert. Deshalb nochmal die Nachfrage: Wo genau spart man denn im linearen Programm?
Wir wollen natürlich kein Schwarzbild senden und auch unser Stammpublikum weiter gut bedienen. Es gibt unterschiedliche Maßnahmen, die wir ergreifen. Der Produktionsaufwand für regelmäßige Formate soll reduziert werden, zum Beispiel durch Umstellung auf sogenannte „Main- Stage-Studios“ in Mainz und Stuttgart und perspektivisch auch in Baden-Baden, in denen wir dann jeweils eine Vielzahl von Formaten mit kleinerer Crew als bisher produzieren können. Dann wollen wir stärker kooperieren und gemeinsam mit anderen ARD-Anstalten arbeitsteiliger arbeiten. Aber wir werden auch Formate einstellen, insbesondere solche, die weder zum öffentlich-rechtlichen USP gehören noch neue Zielgruppen für uns erschließen. Welche Formate das konkret sein werden, kann ich Ihnen aber jetzt noch nicht sagen, weil wir dafür gerade die genauen Kriterien entwickeln. In der Kernzone zwischen 18 und 23 Uhr wollen wir aber so attraktiv wie möglich bleiben .
Bei so viel Faszination für OnDemand-Angebote: Worin besteht eigentlich noch generell der Vorteil eines linearen Programms?
Die Stärke des Linearen liegt gerade für die Öffentlich-Rechtlichen in der Möglichkeit, unser Publikum mit unterschiedlichen Themen in Berührung zu bringen, weil sich beispielsweise an Unterhaltung Information anschließt und wir so Programme zugänglich machen, die vielleicht nicht gezielt in einer Mediathek ausgesucht worden wären. Wir wollen die aktuelle lineare Reichweite daher natürlich auch ungefähr halten, aber ich verschenke die Energie nicht in dem Ziel, den WDR oder NDR überholen zu wollen. Denn das wird uns nicht retten. Und würde nur dazu führen, weiter Fernsehen zu machen, das nur einen Teil der Gesellschaft im Blick hat und eben nicht die Breite widerspiegelt.
Herr Bratzler, herzlichen Dank für das Gespräch.