Valerie Weber: Mich freut es sehr, dass Tom Buhrow Anfang des Jahres den Ausbau des Regionalen als eines seiner Themen vorgestellt hat, die er als ARD-Vorsitzender vorantreiben will. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass das zur DNA der ARD gehört. Die Regionalität ist unser Alleinstellungsmerkmal, wir sind in den Regionen Deutschland verwurzelt. Das Radio bedient das seit Jahrzehnten. Mehr regionalen Impact auch in den aktuellen Magazinen im Ersten sehe ich da weder in Konkurrenz zum Angebot der Dritten noch zu den föderalen journalistischen Angeboten der Radios. Dass nun in diesen beiden Septemberwochen 17 Radiowellen aller neun Landesrundfunkanstalten den Start der verlängerten "Tagesthemen" mit mehr als 400 Spots begleiten, um die Zuschauer darauf aufmerksam zu machen, hat mich beeindruckt.
Wieso eigentlich? Dass die ARD stark in der Regionalität ist, ist nicht neu. Und dass die Lokalwellen bei der Bewerbung mitmachen, ist doch auch selbstverständlich. Wäre doch komisch, wenn es nicht so wäre, oder? Mussten Sie da als Vorsitzende der Audio-Programm-Konferenz der ARD wirklich viel Überzeugungsarbeit leisten?
Dass sich alle in einer Sache einig sind, ist nicht immer unsere Stärke, aber in der Vielfalt liegt auch die große Herausforderung des Föderalismus. Die Abstimmungen sind deutlich komplexer, das ZDF zum Beispiel hat es da einfacher. Aber unsere Kraft liegt in der tiefen regionalen Verwurzelung im Land: Die ARD hat 18 Landesfunkhäuser und 70 regionale Studios. Wenn wir uns vernetzen, haben wir eine unglaubliche Power. Und wir wollen den Zuschauerinnen und Zuschauern verschiedene Perspektiven auf ein Thema vermitteln. Das machen wir auch im "Morgenmagazin" oder dem "Mittagsmagazin", wir sind ja jetzt nicht nur in den "Tagesthemen" fünf Minuten regional. Aber dass die vielfarbige regionale Welt nun auch in dem blauen Produkt "Tagesthemen" mehr Platz bekommt, ist ein Gewinn.
Ist die ARD zu weit weg von den Menschen im Land?
Natürlich nicht, aber wenn wir postulieren "Wir sind deins", dann müssen wir uns die Frage stellen, wie wir klug unterstreichen, dass wir ein Teil der Gesellschaft sind. Man kann das meines Erachtens noch deutlicher als bislang machen, indem man die journalistische Kompetenz in der Region besonders hervorhebt. Die Menschen haben sich zudem während Corona stärker vernetzt, und nun stellt sich die Frage, wie wir uns mit dem Publikum vernetzen. Die These ist: Wir werden uns weg entwickeln vom reinen Dienstleister von Information, Unterhaltung und Kultur hin zu einem Gestalter von Resonanzräumen.
Ein Gestalter von Resonanzräumen?
Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass wir als Medienmarke nur produzieren. Wir senden, senden, senden und vergessen darüber manchmal, auch zu empfangen. Radio war eine der frühesten Communities, und Partizipation sollte für alle Medienmacher nicht nur ein Wort sein. Wir wollen uns vernetzen, indem uns Menschen auch Recherchethemen vorschlagen können und wir Feedback zu unseren Beiträgen wiederum einbauen. In dieser Vernetzung liegt eine große Kraft für die Zukunft. Dazu haben wir beeindruckende Zahlen aus der Region: Eine unserer erfolgreichsten Marken im Netz sind die Regionalstudios mit der Summe ihrer Facebook-Auftritte. Die "Lokalzeit" des WDR kommt zusammen auf fast eine Million Follower. Zum Vergleich: Die "Sportschau" liegt auf Facebook bei 760.000, 1Live hat 710.000.
Aber diese ganze Diskussion um Vernetzung und Interaktion mit den Zuschauern bzw. Zuhörern und Lesern im Land ist doch schon mindestens zehn Jahre alt. Warum kommen Sie erst jetzt darauf?
(lacht) Ja, aber auch wenn wir inzwischen alle crossmedial sein möchten, gibt es immer doch die, die vor allem senden wollen und es gibt die mit einem verstärkt digitalen Ansatz, die auch mehr empfangen. Das muss zusammenwachsen. Bevor neue Formate gestartet werden, muss man das Publikum mitnehmen und schauen, wo die Bedürfnisse der Menschen sind.
Und das machen Sie jetzt?
Die letzten Monate gab es dafür viele großartige Beispiele in der ARD. Der "Drosten-Podcast" vom NDR, bei dem ein Wissenschaftler Fragen beantwortet, war eins davon. Ein anderes vom WDR: In der Anfangsphase der Corona-Pandemie bestand wegen der sich dauernd ändernden Richtwerte und Verordnungen große Unsicherheit. Wir konnten zunächst nur erahnen, welches gerade die aktuellsten Fragen sind, die die Menschen beschäftigen. Das haben wir geändert und über Nacht eine Publikumsredaktion eingerichtet. Dahinter saß ein Callcenter, das zehntausende Mails daraufhin ausgewertet hat, welche Fragestellungen im Vordergrund stehen. Dann haben wir die Experten aus der Wissenschaftsredaktion diese Fragen beantworten lassen – und zwar jede Stunde in den Radio-Nachrichten und in "WDR aktuell" im Fernsehen. An dieser Stelle haben wir auch bewusst mit dem üblichen Aufbau einer Nachrichtensendung gebrochen. Wir haben das Expertenwissen also mit Zuschauerfragen verbunden. Künftig wird man das vermutlich leichter mit KI assistieren als mit Callcentern, aber ich bin fest davon überzeugt, dass jetzt in den Medien das Zeitalter der Experten kommen wird – und nicht das der Allrounder.
Dass sich alle in einer Sache einig sind, ist nicht immer unsere Stärke.
Sie haben Facebook angesprochen. Ist es nicht ein Problem, wenn man sich so abhängig macht von Plattformen externer Anbieter?
Die ARD hat in ihrer Multiplattformstrategie den Anspruch, dort zu sein, wo das Publikum ist. Man sollte aber genau beobachten, was auf diesen Plattformen passiert. Über TikTok wird derzeit ja viel diskutiert. Wenn wir dort in irgendeiner Weise zensiert werden, brechen wir unsere Zelte sofort ab. Momentan ist es aber noch so, dass die Feldversuche von "Tagesschau" oder auch 1Live beeindruckend sind. Wir erreichen dort viele junge Menschen. Grundsätzlich muss man sich immer anschauen, mit welchem Angebot man auf welche Plattform geht. Derzeit ist etwa Facebook der perfekte Kanal, um Regionalität auf einer Drittplattform anzubieten. Gescheitert sind wir mit bestimmten regionalen Angeboten bei Youtube, da haben wir Lehrgeld bezahlt.
Inwiefern?
Im Rahmen einer transparenten Fehlerkultur kann ich da nur über die Learnings in meiner Direktion im WDR sprechen. Wir haben in den ersten Wochen der Pandemie alle unserer Corona-Angebote der "Lokalzeit" testweise auf einem Channel bei Youtube ausgespielt. Dafür gab es aber kein Bedürfnis. Das war nicht geeignet, um die Menschen regional zu erreichen. Dort funktionieren andere Ideen, die wir im nächsten Jahr starten wollen. Das testen wir derzeit und entwickeln es zusammen mit dem Publikum. So haben wir Resonanz, bevor wir es offiziell launchen. Eines dieser Projekte ist "Man Müsste Mal", damit wollen wir junge Menschen um die 20 Jahre ansprechen. Unsere Reporter testen, wie es ist, wenn die Mietpreise steigen, ganz im Auto zu leben oder ob man fit genug ist für die Feuerwehr. Aus diesen Versuchen lernen wir, was auf Youtube die Zukunft sein kann.
Wer steht hinter "Man Müsste Mal" und anderen Digital-Formaten?
Das sind keine gleichbleibenden Gruppen, die sich immer wieder neue Angebote ausdenken. Wir versuchen, im Sinne eines "Intrapreneurships" kleine Startups im Haus zu gründen – interdisziplinäre Gruppen außerhalb des großen WDR-Gefüges, die dann Erfahrungen nach dem Prinzip "trial and error" machen. So wie unsere digitale Strategieeinheit fürs Regionale.
Ich hoffe, dass die Verlängerung in den "Tagesthemen" nur ein erster Schritt ist, den wir jetzt machen.
Sie sind seit einigen Monaten nicht mehr WDR-Hörfunkdirektorin, sondern Direktorin für NRW, Wissen und Kultur. Neben dem Radio verantworten Sie damit auch die regionalen TV-Nachrichten. Wieso macht eine ausgewiesene Radio-Expertin plötzlich eigentlich Fernsehen?
Wir wollten uns nach Inhalten sortieren und eben nicht nach Ausspielwegen. Das Wichtigste, was Führungskräfte heute können müssen, ist, die Teams zu befähigen und zu motivieren, miteinander zu arbeiten. Es geht immer um Inhalte, Kompetenzzentren und Ausspielwege. Alle greifen gleichzeitig auf einen Inhalte-Pool zu. In dieser Matrix zu priorisieren, benötigt sehr viel Moderation. Die Aufgabe von Jörg Schönenborn als Programmdirektor Information, Fiktion und Unterhaltung und mir war es, die richtigen Führungskräfte an die richtigen Stellen zu setzen, die dann wiederum die Ausspielwegs-Verantwortlichen in einen moderativen Prozess bringen und dann nicht weiter die Grenze zwischen den zwei Direktionen ziehen. Wichtig ist, dass wir einheitliche Führungskriterien und Leitplanken aufgestellt haben, wie diese Matrix funktionieren soll. Alles was mit der Heimat und Hintergrund zu tun hat, liegt tendenziell bei mir. Und alles was mit nationaler Ausstrahlung und Aktualität zu tun hat, verantwortet Jörg Schönenborn.
Allerdings haben Sie jetzt das regionale und das überregionale Fernsehen getrennt. Inwiefern macht das Sinn?
Darum geht es nicht – es ging darum, in der Programmdirektion von Jörg Schönenborn die Zuständigkeit für den Bereich Information mit der Zulieferung fürs Erste zu bündeln. In meiner Direktion wurden die Kompetenzen der Landesstudios sowie die Fachredaktionen für Wissen, Wirtschaft und Kultur gebündelt. Grundsätzlich gibt es weiterhin eine enge Zusammenarbeit und einen ständigen Austausch der Bereiche. Uns ging es bei der Neuordnung der Programmdirektionen darum, nach Ressorts zu sortieren und diese crossmedial aufzustellen. Das Regionale ist mit der Lokalzeit ein gutes Beispiel: Die erfolgreiche Fernseh-Lokalzeit haben wir zu einer crossmedialen Marke ausgebaut – im Fernsehen, im Radio und im Netz.
Wie lief es für die regionalen Magazine und Nachrichten im WDR während Corona?
Im WDR Fernsehen haben wir einen enormen Zulauf zu unseren regionalen Magazinen erlebt. Die "Lokalzeit" hat derzeit ein historisches Allzeithoch und liegt in diesem Jahr bei 29,1 Prozent Marktanteil. Das Regionale ist auch der Schlüssel, um junges Publikum zu erreichen. Wir haben an keiner Stelle mehr junge Zuschauer zwischen 35 und 55 Jahre als bei der "Lokalzeit". Die "Aktuelle Stunde" profitiert davon auch.
Aber gerade bei der "Aktuellen Stunde" geht es ja viel auch um Nationales und Internationales. Da wird das Regionale zurückgedrängt und fängt irgendwann ab der Mitte der Sendung an.
Das kann man so nicht sagen. Die "Aktuelle Stunde" hat schon immer versucht, das, was am Tag passiert ist, aus NRW-Sicht zu schildern. Das sind nicht immer regionale Themen, das war noch nie so. Da gibt es natürlich auch internationale Themen. Die Redaktion hat den Anspruch, eine NRW-Perspektive auf dieses Thema einzubringen. Und ich finde, das machen die Kollegen sehr gut.
Können Sie sich eigentlich noch mehr Regionalität in den Nachrichtensendungen des Ersten vorstellen?
Ich hoffe, dass die Verlängerung in den "Tagesthemen" nur ein erster Schritt ist, den wir jetzt machen. Mein persönlicher Wunsch wäre, dass wir unsere Regionalkompetenz in Zukunft noch stärker ausspielen. Wenn wir ein bisschen mehr vom Leben der Menschen und der Kultur in den Regionen in solche stark politisch geprägten Sendungen einbringen, ist das Versprechen, dass wir "deins" sind, emotional besser spürbar.
Frau Weber, vielen Dank für das Gespräch.