Herr Beckmann, der Juli war für das NDR Fernsehen der stärkste Monat seit sehr langer Zeit – mit 8,5 Prozent Marktanteil im Sendegebiet. Was hat für den Erfolg gesorgt?

Die meisten großen Sender starten neue Formate in den zuschauerstarken Monaten. Im NDR Fernsehen machen wir gezielt das Gegenteil: Wir probieren gerade im Sommer verstärkt neue Formate aus. Da ist die Konkurrenz kleiner. Wir sind immer gut damit gefahren – und zum Glück macht's uns in der Intensität keiner nach. (lacht) In diesem Jahr haben glücklicherweise auf Anhieb alle Produktionen gut funktioniert, so dass wir auf den erfolgreichsten Sommer seit sieben Jahren blicken und im Norden sogar RTL und Sat.1 überholen konnten. Der Medizin-Talk mit Dr. Wimmer hat sofort funktioniert, übrigens auch bei den jüngeren Zuschauerinnen und Zuschauern, und mit "Traumhäuser des Nordens" haben wir auch einen Nerv getroffen. Traditionell sind auch unsere Unterhaltungsformate sehr stark, wie die immer neuen Rekorde von "Kaum zu glauben" oder die tolle Rückkehr von "Hätten Sie's gewusst?" mit Jörg Pilawa belegen. Und nicht zu vergessen: die regionale Information, die in diesem Jahr auf besonders großes Interesse stößt.

Eine Auswirkung von Corona?

Ja, während der Corona-Krise suchen die Zuschauerinnen und Zuschauer verstärkt nach verlässlicher Information. Und dafür sind die öffentlich-rechtlichen Sender die erste Adresse. Gerade in der regionalen Information ist die ARD einzigartig – das können im Fernsehen in dieser Form nur die Dritten Programme liefern. In Zeiten, in denen es besonders wichtig ist, über konkrete Entwicklungen in der unmittelbaren Umgebung - der Stadt, dem Bundesland - Bescheid zu wissen, können wir einen Vorteil ausspielen, den andere nicht haben. Information aus der Region ist die Kernkompetenz für alle Dritten Programme – übrigens, über alle Zielgruppen hinweg.

Wenn Sie neue Zielgruppen erreichen wollen, dann geht es ein Stück weit auch darum, die bisherigen Zuschauer nicht zu verlieren. Wie sieht Ihre Strategie aus?

Die öffentlich-rechtlichen Sender sind mit den bundesweiten Vollprogrammen und den Dritten sehr stark verankert. Wenn Sie sich den letzten Monat im Norden anschauen: ZDF, Das Erste, NDR Fernsehen belegen Platz eins, zwei und drei in der Zuschauergunst. Das muss ich nicht steigern. Gerade deshalb bin ich der Auffassung, dass wir ein größeres Risiko eingehen können. Wir brauchen dort, wo wir bestimmte Zielgruppen nicht im gleichen Umfang wie andere erreichen, deutlich mehr Engagement. Wie Sie wissen, muss der NDR ein umfangreiches Kürzungspaket abarbeiten. Dennoch haben wir entschieden, erhebliche Mittel umzuschichten, um gerade jüngere Zielgruppen wieder verstärkt zu erreichen. Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass für das Programm im NDR Fernsehen weniger Mittel zur Verfügung stehen werden. Das kann uns schwächen. Wir nehmen das bewusst in Kauf.

"Wir haben nach Genres gesucht, die in unserem Angebot unterrepräsentiert sind oder ganz fehlen."

Über die Einsparungen wurde bereits viel gesprochen. Wo schmerzt es Sie besonders, den Rotstift ansetzen zu müssen?

Das ist wie die Frage nach dem Kind, das man am liebsten hat, die lässt sich nicht beantworten. Wenn wir mehr wiederholen müssen, ist das nichts, was mir als Programmdirektor gefällt. Aber die Nutzung wird in Zukunft eben nicht mehr nur vom linearen Programm bestimmt sein. Lineare Programme - ob Radio oder Fernsehen - bleiben auf lange Sicht die wichtigsten tragenden Säulen für die öffentlich-rechtlichen Sender. Doch ausschließlich das Lineare zu betrachten, hieße, sich auf einen immer kleiner werdenden Markt auszurichten. Wenn ich nur im Blick habe, wie sich die kommerziellen Sender entwickeln, dann laufe ich Gefahr, die falsche Tür zu bewachen. Die größere Konkurrenz scheinen zukünftig eher die non-linearen Streamingdienste zu sein. Deren Angebote müssen wir deutlich stärker in den Fokus nehmen als RTL oder Sat.1, mit denen wir vielleicht mehr als bisher sogar Partnerschaften eingehen könnten.

Schon vor einem Jahr haben Sie mehr Investitionen in Mediatheken-Inhalte angekündigt. Wo stehen Sie heute?

Wir haben versprochen, innerhalb kurzer Zeit 20 Millionen Euro für Serien zur Verfügung zu stellen, die anders sind als die Produktionen, die wir für unser lineares Hauptprogramm brauchen. Wir haben bewusst Stoffe ausgewählt mit horizontaler Dramaturgie und spitzeren Zielgruppen. Wir haben nach Genres gesucht, die in unserem Angebot unterrepräsentiert sind oder ganz fehlen: zum Beispiel Science-Fiction, Mystery oder Action. In der Fiktion schichten wir massiv um, von linearem auch auf non-linearen Erfolg. Nehmen Sie zum Beispiel unsere Wim-Wenders-Werkschau, die wir gerade sehr prominent in der ARD-Mediathek platziert haben. Das ist die größte Werkschau eines Regisseurs, die wir jemals hatten. Kompakt und übersichtlich präsentiert. Ein Kulturangebot, das zur ARD passt. Und weil inzwischen nicht mehr jeder ARD-Sender eine eigene Mediathek betreibt, können wir ganz anders als bisher für solch tolle Angebote werben. Da wir dazu auch noch die ARD-Radioprogramme einbinden können, können Sie sicher sein: Wenn die ARD wirklich will, dass etwas bekannt wird, bekommt es wirklich jeder mit. 

Vor allem, wenn ein Jungspund wie Thomas Gottschalk für die ARD-Audiothek wirbt? 

(lacht) Das haben Sie jetzt gesagt. Wir freuen uns über jeden, der weitersagt, wie gut die ARD- Audiothek inzwischen ist!

Wie soll's jetzt weitergehen?

Mit der größten Serieninitiative des NDR seit zehn Jahren. Der NDR wird in den kommenden Monaten acht neue Serien in die ARD-Mediathek bringen – mit dem breitesten Portfolio, das man sich vorstellen kann. Das beinhaltet Koproduktionen, Auftragsproduktionen und internationale Einkäufe gleichermaßen. Die Genres reichen von Mystery bis True Crime. Am Anfang legen wir den Fokus noch etwas stärker auf eingekaufte Serien, weil wir so schneller sein können. Perspektivisch werden wir uns jedoch deutlich mehr darum bemühen, internationale Partner in unsere Produktionen einzubinden. Die Konkurrenz im Streaming-Bereich agiert international. Daher wäre es hoch sinnvoll, aufwendige Produktionen mehr noch als bisher in Kooperation mit öffentlich-rechtlichen Sendern aus anderen Ländern herzustellen. 

Welche Formate sind bereits spruchreif?

Da ist beispielsweise die neue NDR-Comedy "Da is' ja nix" mit Eva Mattes, Johanna Christine Gehlen und Sebastian Bezzel in den Hauptrollen zu nennen. Es geht um ein Gaunerpärchen, das versucht, im Norden Fuß zu fassen – und zwar in der Nähe der norddeutschen Deiche. Vom Humorverständnis ist es eine Mischung von "Tatortreiniger" und "Büttenwarder". Dieses Format kann auch im linearen Programm erfolgreich sein. Aber wir haben uns bewusst entschieden, horizontal zu erzählen, um die Serie für die ARD-Mediathek attraktiver zu machen. Das ist aber nicht das einzige skurrile Format. 

Nein?

Im Rahmen der "Nordlichter" haben wir eine neue Initiative gestartet. Gemeinsam mit den norddeutschen Filmförderungen (Nordmedia, Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein) wollen wir Talenten eine Chance geben. Mehrere Autorinnen und Autoren sollten gemeinsam eine Serie schreiben und herausgekommen ist "Big Dating". Die Geschichte handelt von einer App, die Menschen zusammenführen soll. Eine Art Dating-App, mit dem Unterschied, dass die App die Nutzer verändert. Eine wirklich außergewöhnliche Geschichte. Noch skurriler ist "Magnus", eine Mischung aus Horror, Comedy und Crime, die die Macher von "Lillyhammer" für den norwegischen Sender NRK gemacht haben. Es geht um einen abgedrehten Detective, in dessen Revier Außerirdische Verbrechen begehen, was ihm natürlich keiner abnimmt. Wenn etwas möglichst weit weg ist von unserem bisherigen Angebot, dann ist es diese Serie. Wir wollen herausfinden, wie weit wir den Bogen spannen können – und hier ist er besonders weit gespannt. (lacht) 

Was ist noch geplant?

Sehr ungewöhnlich ist "Die Erben der Nacht", eine Mystery-Vampirserie, die sich an ein junges Publikum richtet. Das ist eine unserer internationalen Koproduktionen, deren Production-Value fast schon Kino-Standard hat. Ebenfalls neu ist „The Split“, eine Art britisches "Suits" über Anwältinnen und Anwälte, die sich auf Scheidungen spezialisieren und selbst ein turbulentes Privatleben führen. Auch von der BBC kommt "Traces" über eine junge Frau, die Forensikerin geworden ist, um den Mord an ihrer Mutter aufzuklären. Darüber hinaus haben wir die belgische Serie "Over Water" eingekauft, in der es um einen ehemaligen TV-Star geht, der auf die schiefe Bahn gerät. Ganz besonders freue ich mich aber auch über ein echtes Programm-Highlight, das nicht nur für die Mediathek, sondern auch ein Höhepunkt in der Wintersaison im Ersten sein wird.

Worum geht’s dabei?

In drei Mal 90 Minuten - beziehungsweise sechs Mal 45 - erzählt "Das Geheimnis des Totenwaldes" mit Matthias Brandt in der Hauptrolle die Geschichte des ehemaligen Chefs des Hamburger Landeskriminalamts. Dessen Schwester ist 1989 entführt worden ist. Im 25. Jahr der Ermittlungen sind wir eingestiegen, um die Suche nach der Schwester zu begleiten. Das Besondere: Parallel zur Entwicklung des Drehbuchs wurde der Mord an der Schwester aufgeklärt - und wir waren dabei. Wir können daher nicht nur den Dreiteiler - frei nach wahren Begebenheiten - zeigen, sondern auch die begleitende True-Crime-Doku über den vielleicht größten Serienmord in der Geschichte Norddeutschlands.

"Warten Sie mal ab, was da sonst noch von der ganzen ARD kommt."

Wie definieren Sie denn in Zukunft den Erfolg?

Wir wissen, dass Marktanteile heute nur die halbe Wahrheit sind. Die Frage, wie man einen Erfolg bewertet, wird immer komplexer. Einige Dokumentationen haben vielleicht nur wenige Zuschauer im NDR Fernsehen. Bei YouTube oder in der ARD-Mediathek hat die gleiche Sendung über ein Jahr gesehen mehrere Millionen Abrufe. Dort erreichen wir vielleicht sogar andere Zuschauer. Das ist doch ein voller Erfolg. Für Fernsehmacherinnen und -macher eine echte Umstellung: Nicht mehr die morgendliche Quote zählt, der Nachweis von Erfolg kann unter Umständen lange auf sich warten lassen. Für mich ist eines ganz wichtig: Es muss uns völlig egal sein, auf welchen Wegen wir unsere Nutzerinnen und Nutzer erreichen. Die Menschen müssen nur wissen, dass wir der Absender sind. Und: Wir müssen deutlich mehr die jüngeren Zielgruppen für uns begeistern. 

Wie bewerten Sie die Chancen, dass das gelingen wird?

Ganz ehrlich: Ich bin sicher! Wir haben die jungen Wellen, den Kika, Funk! Wir organisieren Serien für die nicht-lineare Nutzung, wir passen unsere internen Strukturen an und schichten Mittel um. Das, worüber wir heute sprechen, mit der größten Serienoffensive seit zehn Jahren, ist ja nur das Angebot des Norddeutschen Rundfunks. Warten Sie mal ab, was da sonst noch von der ganzen ARD kommt. 

Ohne dass ich Ihnen den Job wegnehmen möchte, aber der NDR unterteilt die Programmdirektionen noch immer sehr klassisch ins Fernsehen und Hörfunk. Wie zeitgemäß ist das noch?

Wichtig ist doch, was am Ende herauskommt. Jeder Ausspielweg hat seine eigenen Gesetze und braucht eine besondere Expertise. Und nicht jeder kann alles. Aber wir müssen alles so weit es geht miteinander verzahnen. Gemeinsame Planung und Recherche, klare Zielgruppenanalyse und daraus folgend neue Schwerpunkte, agiles Lernen und Arbeiten, Umgang mit neuen Technologien und Plattformen – all das kann man nach meiner Auffassung nicht einzelnen Direktionen zuordnen, das sind Aufgaben für einen ganzen Sender, Aufgaben, die keine Direktionsgrenzen dulden. Wir haben schon viel erreicht, das darf man nicht vergessen. Wir mussten den NDR nicht auf den Kopf stellen, um mit Prof. Christian Drosten den erfolgreichsten Podcast der Republik anzubieten. Unsere "Tatort"-Podcasts in der ARD Audiothek sind ein gutes Beispiel für die enge Verbindung zwischen Hörfunk und Fernsehen auch in der Fiktion – da sind wir weiter als viele andere. Aber auch die Erkenntnis, in Breaking-News-Situationen enger mit unseren Hörfunk-Korrespondentinnen und Korrespondenten zusammen zu arbeiten. Hörfunk ist meist schneller als Fernsehen. Da sehe ich auch mit Blick auf unseren Sender Tagesschau24 noch viel Potenzial.

Groß war stets auch die Verbindung zwischen dem Ersten und dem NDR. Da war jahrelang von "Das Erste first" die Rede. Gilt dieses Motto auch noch vor dem Hintergrund der aktuellen Sparmaßnahmen? 

Das Motto gilt nach wie vor. Wir gehören sicher zu den Leistungsträgern im Ersten: Vorabend, Unterhaltung, ARD aktuell – das bleiben tragende Säulen. Wir können allerdings nicht mehr ganz so viel beisteuern wie in den vergangenen Jahren, in denen wir uns überproportional engagiert haben. Dafür fehlen uns schlicht die Mittel. Wenn Sie 300 Millionen Euro in vier Jahren kürzen müssen, dann wissen Sie, dass dies nicht ohne Einsparungen am Fernsehprogramm geht. Da wir als NDR in der ARD gerade im Bereich der Unterhaltung sehr viel übererfüllt haben, ist es eben so, dass jetzt andere Sender ein Stückchen mehr Verantwortung übernehmen müssen. 

Herr Beckmann, vielen Dank für das Gespräch.