Herr Schneider, kann man sich darüber freuen, wenn es heißt, Streamingdienste sind Gewinner dieser Pandemie?

Bei einer Pandemie von diesem Ausmaß ist niemand Gewinner. Ich würde vielleicht eher sagen: Wir hatten das Glück, keinen großen Schaden genommen zu haben. Wie alle Unternehmen, die Content für die diversen Screens liefern, konnten wir eine gesteigerte Nutzung registrieren. Neben großem Informationsbedürfnis hatten die Menschen eben auch ein höheres Bedürfnis nach Unterhaltung und Abwechslung, weil andere Formen der Freizeitgestaltung nicht möglich waren oder noch immer nicht sind. Wir haben unser Angebot gerade im Lockdown nochmal gezielt auf die Bedürfnisse unserer Kunden angepasst und uns beispielsweise gezielt für Familien engagiert: Wir haben z.B. mit einer Free-VoD-Initiative Kinderserien und –filme kostenfrei zugänglich gemacht und mehr als tausend Stunden Schul-Videos lizenziert, um das Home Schooling zu unterstützen.



Der Effekt hat mit der Lockerung der Corona-Restriktionen aber bereits wieder abgenommen. Glauben Sie, dass Sie einen Effekt aus dieser Zeit mitnehmen können?

Ich denke schon. Im europäischen Vergleich hinkt Deutschland bei der Durchdringung von Broadband-Haushalten hinterher. Die vergangenen Monate dürften diesen Ausbau-Prozess etwas beschleunigt haben, weil schnellere Verbindungen zuhause aus vielen Gründen dringender wurden. Wobei uns die Daten zeigen, dass der Schub in anderen Ländern, in denen der Corona-Lockdown noch viel härter war, nochmal größer ausgefallen ist. Italien, Spanien, Frankreich - sogar Großbritannien. Gucken deshalb künftig alle nur noch on demand? Nein, nicht immer, aber immer öfter. Aber es gab natürlich bei uns viele Neukunden, die Streaming durch die Umstände für sich entdeckt haben und der Start von Disney+ mit der großen Werbekampagne hat da sicher nochmal Aufmerksamkeit aufs Streaming gelenkt.

Inwiefern hat die Corona-Pandemie aktuelle Projekte von Prime Video unterbrochen?

Unser nächstes deutsches Serien-Highlight, das Amazon Original „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ war gerade abgedreht, Projekte wie „Schweinsteiger: Memories“ oder „Der Beischläfer“ schon fertig oder in den allerletzten Zügen. Wir mussten keine Produktion stoppen, aber ein paar zukünftige Sachen haben sich etwas verschoben. Wir hatten Glück im Unglück.

Dann blicken wir nach vorne: Was sind denn die kommenden Projekte bei Prime Video?

Das erste Highlight für unsere Kunden in Deutschland, ab 22. August, ist die neue Staffel von  „Lucifer“, danach kommt am 4. September die zweite Staffel der Amazon Original Serie „The Boys“, am 25. September dann „Deutschland89“, die dritte und finale Staffel. Das wird ein spannendes Finale, weil die Geschichte in einem Jahr zum Abschluss kommt, an das sich ja viele noch erinnern können. Die Staffel wird auch spannend für alle, die „Deutschland83“ und „Deutschland86“ noch nicht gesehen haben, wobei ich jedem natürlich empfehle, das noch rechtzeitig nachzuholen. Und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ kommt im 1. Quartal 2021, ich habe erste Bilder gesehen und freue mich sehr drauf. Das wäre der Blick auf die großen Originals über die wir bisher schon gesprochen haben.

Über Christoph Schneider

  • Christoph Schneider ist Geschäftsführer von Amazon Prime Video Deutschland/Österreich. Bevor er 2012 zu Amazon wechselte, verantwortete er seit 2010 für ProSiebenSat.1 den damaligen SVoD-Dienst Maxdome. Zuvor hatte Schneider verschiedene Führungsaufgaben bei Hubert Burda Media und der Kirch-Gruppe inne. Er liebt Wein, besaß einst sogar ein Weingut in Südtirol. Redet über Wein auch viel offener als über Abonnentenzahlen.

Und was ist mit denen, über die Sie bislang noch nicht gesprochen haben?

Ich habe Ihre Frage erwartet. Und möchte über drei neue Produktionen sprechen. Eine davon kommt bereits Ende September auf den Service. Wir wollen weitermachen mit Dokumentationen im Stile von „Schweinsteiger: Memories“ und haben den deutschen Opern-Star Jonas Kaufmann, einen der weltbesten Tenöre, portraitieren dürfen. Er hat uns für „Jonas Kaufmann – Ein Weltstar ganz privat“ Tür und Tor geöffnet und Einblicke gewährt, die nicht nur für Opern-Fans sehr interessant sind.

Ein spezielles Thema. Wie kamen Sie zu der Entscheidung bzw. dem Projekt?

Exklusive Portraits von interessanten Persönlichkeiten, die einzigartige Einblicke geben, interessieren uns schon länger – und auch unsere Kunden, die „Schweinsteiger: Memories“ zu einem durchschlagenden Erfolg gemacht haben. Die Dokumentation war eine unserer erfolgreichsten Eigenproduktionen der letzten Jahre und hat besonders viele neue Kunden von Prime Video überzeugt. Die Produzenten Alexander-Klaus Stecher und Tim Werner von Mainstream Media kamen mit der Idee und ihrem persönlichen Kontakt zu Jonas Kaufmann auf uns zu und wir waren sofort begeistert. Jonas Kaufmann ist ein Weltstar mit großen Engagements rund um den Globus und hat für solche Projekte normalerweise gar keine Zeit. Wegen der Corona-Situation war er zuletzt - wie wir alle - weniger unterwegs als normalerweise. Wir konnten die Gelegenheit nutzen. „Jonas Kaufmann – Ein Weltstar ganz privat“ zeigt dabei die Bandbreite von Produktionen, die wir bieten wollen. Ein weiteres neues Thema kommt aus dem Sportbereich: Nach „Inside Borussia Dortmund“, der Dokumentation hinter den Kulissen einer Weltklasse-Fußballmannschaft, widmen wir uns demnächst der zweitbeliebtesten Mannschaftssportart der Deutschen, nämlich Handball! Wir haben das Team von SG Flensburg Handewitt über die aktuelle Saison begleitet, einen der Topvereine im deutschen und europäischen Handballsport. Wir sind dabei so nahe an der Mannschaft, wie ein Kamerateam überhaupt sein kann.

"Vom Image der Streamingdienste als ausschließliches Angebot für Early-Adopter und Young Males sind wir ja schon lange weg"

Auch ein sehr spitzes Thema natürlich. Ich würde vermuten: Damit plakatiert man jetzt nicht Deutschland zu, um Neukunden zu gewinnen.

Eher nicht. Aber die Geschmäcker sind verschieden und vom Image der Streamingdienste als ausschließliches Angebot für Early-Adopter und Young Males sind wir ja schon lange weg. Wir sind mit Prime Video im Mainstream unterwegs. Aber den Durchschnittskunden gibt es nicht. Wir können und wollen nicht immer nur auf die Mitte schielen, Vielfalt ist die Devise. Wir produzieren die großen Blockbuster wie „The Boys“, „Good Omens“ oder „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ genauso wie Inhalte für bestimmte Zielgruppen. „Everyones favourite TV show“ ist die Strategie. Nicht alle müssen das gleiche mögen, aber jeder etwas für sich finden können. Darauf zahlen diese beiden neuen Projekte ein. Außerdem: Prime Video ist einer von vielen Bestandteilen von Prime.

…das wie viele Kunden in Deutschland hat?

Prime hat über 150 Millionen Kunden weltweit, Zahlen für einzelne Territorien veröffentlichen wir nicht. Prime Video ist neben Musik-Streaming, Versandvorteilen und vielem mehr ein wichtiger Vorteil von Prime und unser Ziel ist es, zum Wert von Prime für unsere Kunden wesentlich beizutragen. Dabei gilt es für uns auch, schon bestehende Prime-Kunden für unser Streamingangebot zu begeistern. Wir sind dabei in Deutschland schon sehr gut unterwegs, aber sind noch nicht bei 100 Prozent und das ist natürlich das hehre Ziel. Dass 100 Prozent der Prime-Kunden auch Prime Video nutzen. Vielfalt im Programm hilft uns dabei.

Bei wie viel Prozent der konvertierten Prime-Kunden liegen Sie denn?

(lacht) Konkrete Zahlen kann ich Ihnen nicht nennen, nur so viel: Deutschland gehört hier weltweit zur absoluten Spitze.

Würden Sie endlich einmal Zahlen veröffentlichen, würde sich möglicherweise ergeben, dass Sie nach aktiven Nutzern mehr Mainstreamer sind als TVNow…

Bei den verschiedensten unabhängigen Nutzerbefragungen sehen Sie immer dasselbe Bild: Es gibt die beiden großen Streamer Prime Video und Netflix. Danach folgt mit großem Abstand der Rest. Von allen in Deutschland verfügbaren Streaming-Services erreicht Prime Video sicher den sogenannten Mainstream am besten.

Zurück zu Ihrer Ankündigung. Sie sprachen von drei neuen Produktionen. Da fehlt jetzt noch eine…

Wir werden ein neues Format vorstellen, dass bei TV-Fans sicher noch Erinnerungen wecken wird. Wir freuen uns sehr auf „Binge Reloaded“. Früher wurde geswitcht, heute wird gebingt. Die Comedy-Show widmet sich TV-Sendungen genauso wie den großen Streamingerfolgen, nicht nur von uns. Wir haben dafür einen tollen Cast gewonnen aus vertrauten Köpfen und neuen Kolleginnen und Kollegen, die in die Rollen der verschiedensten Medienfiguren schlüpfen. Michael Kessler und Martin Klempnow, die früher beim Format „Switch Reloaded“ beteiligt waren, sind dabei. Dazu freuen wir uns auf Tahnee Schaffarczyk, Antonia von Romatowski, Joyce Ilg, Jan van Weyde, Paul Sedlmeier und Christian Schiffer.

Wann soll „Binge Reloaded“ starten?

Wahrscheinlich noch in diesem Jahr.

Werden bei dem Format dann alle Folgen auf einmal veröffentlicht oder wird es wöchentlich laufen?

Das haben wir noch nicht final ausdiskutiert. Das Format heißt natürlich „Binge reloaded“, da liegt es nahe, alle Folgen auf einmal zur Verfügung zu stellen. Aber wir schauen uns da noch das Für und Wider an.

Wir hatten gerade schon mal das Thema Sport angeschnitten. Da liegt eine Frage auf der Hand: Einmal Bundesliga und zurück. Welche Strategie steckte hinter dem kurzen Bundesliga-Ausflug von Ihnen?

Die Bundesliga-Spiele im Sommer waren eine Möglichkeit, die sich kurzfristig ergeben hat. Bislang konnten Prime-Kunden Bundesligaspiele über den Eurosport Player sehen, aber nachdem Eurosport aus der Übertragung ausgestiegen war, konnten unsere Kunden nicht mehr das sehen, was sie erwarten. Wir haben das Gespräch mit der DFL gesucht und es ergab sich daraus die Gelegenheit, die verbliebenen Spiele aus dem „Eurosport-Paket“ direkt bei Prime Video zu zeigen. Das war eine ziemlich außergewöhnliche Situation. Der Fokus bei Live-Sport liegt für uns aber ganz klar auf der UEFA Champions League, für die sich Amazon attraktive Rechte ab der Saison 2021/22 bis 2023/24 gesichert hat. Neben den Highlights aller Dienstags-Spiele, welche es nur bei uns bereits am selben Abend geben wird, wird exklusiv auf Amazon jeweils das Spitzenspiel des Dienstags zu sehen sein. Da werden die Top-Partien unserer deutschen Vertreter dabei sein. Das ist sicher das attraktivste Sportrecht, das es derzeit im Fußball außerhalb von WM und EM gibt. Wir wollen den Kunden ein einzigartiges Streamingerlebnis liefern, sowohl was die redaktionelle Berichterstattung angeht, als auch die verfügbare Bildqualität sowie zusätzliche Features. Es ist noch ein wenig hin, aber die Vorfreude ist bereits jetzt groß.

Hatten Sie demnach gar kein Interesse an den in diesem Sommer ausgeschriebenen Bundesliga-Rechten?

Der Fokus lag und liegt für uns ganz klar auf der UEFA Champions League, die Bundesligaübertragungen im Frühjahr waren ein unerwarteter Sonderfall. Ich würde Live-Sportrechte an der Bundesliga strategisch für Amazon nie ausschließen, aber jetzt konzentrieren wir uns auf die UEFA Champions League und dann wird man sehen, wie die Situation sich in den kommenden Jahren entwickelt.

Stichwort live: Über die Prime Video-App lassen sich jetzt auch lineare Fernsehprogramme streamen. Welche Strategie steckt eigentlich dahinter?

Das gehört zu dem übergeordneten Ziel, Kunden ein möglichst umfassendes und unkompliziertes Seherlebnis anzubieten. Unsere Kunden können direkt aus der App Programme sehen, die derzeit live im deutschen Free-TV laufen, und ersparen es sich so, von Oberfläche zu Oberfläche springen zu müssen. Die öffentlich-rechtlichen Sender lassen sich nach Aktivierung des Live-TV-Channels jetzt kostenfrei bequem in unserer App nutzen. Für die Öffentlich-Rechtlichen ist die Zusammenarbeit auch eine Möglichkeit wieder Nutzer anzusprechen, die sie sonst vielleicht nicht mehr erreichen würden. Das bringt Vorteile für alle Seiten.

"Es gäbe einen Filmstau, wenn alle vorliegenden Filme erst bei großflächigen Kino-Öffnungen aufgeholt werden würden"

Wir erleben in diesen Wochen auch eine Grundsatzdebatte zur Zukunft des Kinos und immer mehr Kinofilme, die direkt in VoD-Auswertung gehen. Mal TVoD, mal SVoD. Gibt es da Gespräche mit deutschen Verleihern?

Die Grundhaltung bleibt: Wir sind pro Kino, wollen das Erlebnis nicht ersetzen und den Kino-Release grundsätzlich nicht in Frage stellen. Wenn wir aber gefragt werden, helfen wir gerne. Wir sind jederzeit bereit, Partnern auf der Lizenzgeber-Seite und Produktionsfirmen zu helfen, die mit dem Rücken zur Wand stehen und sagen „Ich kann jetzt zwar wieder ins Kino, aber verdiene da ja kaum einen Euro“. Es geht ja nicht zuletzt auch darum, das Filmangebot zu entzerren. Es gäbe einen Filmstau, wenn alle vorliegenden Filme erst bei großflächigen Kino-Öffnungen aufgeholt werden würden. Die Gespräche sind nicht immer einfach: Zum Beispiel geht es da um die Frage der Filmförderung, weil geförderte Filme per se erstmal ins Kino kommen müssten. Das hält natürlich manchen Produzenten zurück, weil er bei einem Deal mit uns die Förderung zurückzahlen müsste, was gerade jetzt nicht machbar ist. Oder die Filme würden bei uns so teuer, dass es für uns aus Kundensicht keinen Sinn macht. Aber wir finden häufig Lösungen und haben bereits ein wachsendes Angebot an Kinofilmen als TVoD-Angebot im „Heimkino“, wie wir es nennen. Wir haben auch schon den ein oder anderen Film direkt im SVoD lizenziert. Und wir sind in weiteren Gesprächen.
 
Herr Schneider, herzlichen Dank für das Gespräch