Was hat Sie bei der Recherche zum Thema am meisten überrascht?
Rotstein: Ich habe mit sieben ehemaligen Schülern von Ron Jones gesprochen die mir jeweils einen komplett anderen Grund genannt haben, warum das System für sie funktioniert. Das Spannende ist, dass man sich selbst in jedem wiederfinden kann. Wir hatten eine Frau, die meinte, dass sie damals einfach zur Gruppe der 1er-Schüler gehören wollte und deshalb mitgemacht hat. Ron Jones hatte nämlich 1er versprochen, wenn sich die Schüler engagieren. Dann gab es den klassischen Mitläufer, jemanden, der es schlicht lustig fand und auch jemanden, der die Macht genoss. Jeder hatte einen anderen Blick auf die Geschehnisse. Eines hatten sie aber gemeinsam: Sie haben es als positive Erfahrung beschrieben, die sie heute nicht missen wollen würden, auch wenn die Erinnerung daran extrem schmerzhaft ist. Sie fühlen sich jedoch heutzutage als bessere und kritischere Menschen, gerade weil sie dieses Experiment so hautnah gelebt haben.
Wie lange mussten Sie Ron Jones bearbeiten, bist er Lust auf diese Produktion hatte?
Rotstein: Das war aus dem Grund eine stetige Herausforderung, da Ron einfach nicht gerne über das Thema spricht. Er schämt sich sehr für das, was er getan hat. Im Endeffekt war er engagiert dabei, aber auch nur, weil er sich der Wirkung der Geschichte bewusst ist und die Botschaft mit in die Welt tragen möchte. Dennoch brauchte jedes Gespräch und jede Nachfrage erneut Überzeugung unsererseits, da er nicht immer verstand, wieso wir immer wieder auf bestimmten Punkten verharrten oder wieso wir schon wieder an gewisse Orte fahren müssen. Er hat gerne mitgemacht, dafür aber mit viel Kraft bezahlt.
Wie war ihr erster Eindruck von Ron Jones und wie war der letzte Eindruck?
Rotstein: Für mich ist er ein absolutes Vorbild. Er hat einen offenherzigen, strahlenden Charakter und ist stets voller Ideen. Gerade weil er dieses Experiment durchgeführt und das Böse in sich gespürt hat, wirkt er heute wie das Gute in Person und sucht es auch immer in seinem Gegenüber.
Ron Jones zusammen mit Regisseur & Autor Emanuel Rotstein
Jones sagt ganz zu Beginn der Dokumentation, dass er es am liebsten nie getan hätte. Wäre der Welt damit ein anschauliches Beispiel dafür flöten gegangen, wie gefährlich Macht sein kann?
Rotstein: Ganz sicher. Nachdem das Buch, die Serie und der Film bereits Millionen von Menschen erreicht haben, werden auch wir allerhand Menschen erreichen, die dem Thema so näher kommen. "Die Welle" ist ein großartiges Beispiel, gerade weil es so universell ist. Sie zeigt Gräuelbilder des Holocausts und gleichzeitig, dass in jedem von uns das Potenzial schlummert, ebenso schreckliche Dinge zu tun.
Das Genre der Dokumentationen wird ein immer beliebteres. Inwiefern müssen sie sich als Macher neu erfinden, um aus der Menge herauszustechen?
Rotstein: Es ist ähnlich wie bei Monopoly – du kannst über Los gehen und es startet von neuem. Mit "The Invisible Line" erreichen wir ein komplett neues Publikum. Was vor Jahren erzählt wurde, kann heute neu erzählt werden, da sich die Zuschauerschaft verändert. In Hinsicht auf das Produktionsniveau muss man dabei natürlich absolut international agieren und ansprechendes Storytelling. Alleine durch all die Streamer und unseren Mutterkonzern A+E Networks werden wir dazu angetrieben, die Latte ständig höher zu legen, da der Anschluss ansonsten verloren wird.
Gansel: Für uns klassische Filmemacher ist es auch eine Chance. Gerade bei der Serie empfand ich es als interessant, wie aus der Not heraus eine Bildsprache entsteht, die absolut frisch daherkommt. Mit "aus der Not heraus" meine ich, wenn mehr als fünf Minuten Sendezeit pro Tag gedreht werden müssen. Budgetär wünscht man sich natürlich immer mehr, auch wenn ich finde, dass es vielen deutschen Geschichten gut bekommt, wenn der Rahmen bereits vorher abgesteckt wird. Gerade bei zeitgenössischen Werken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die einstündige Dokumentation "The Invisible Line - Die Geschichte der Welle" ist am Donnerstag, den 19. Dezember um 20:45 Uhr bei Crime + Investigation zu sehen.