Herr Schönenborn, Sie sind seit 20 Jahren als ARD-Wahlmoderator tätig. Wie kam es eigentlich dazu?
Meine damalige Chefredakteurin Marion von Haaren hat mich damals vorgeschlagen. Ulrich Deppendorf, der den Job lange gemacht hatte, ging als Leiter des Hauptstadtstudios nach Berlin und war damit an Wahlabenden anderweitig beschäftigt. Das war schon ein bisschen wie ein Jugendtraum, der in Erfüllung ging. Seit ich mich für Politik interessierte, hatte ich mit Bewunderung die Wahlabende verfolgt. Ich fand es großartig, plötzlich selbst an dieser Stelle stehen zu können.
Was ist für die Aufgabe wichtiger: Das Interesse an der Politik oder an Zahlen?
Das Wichtigste ist, keine Angst vor Zahlen zu haben. Zahlen sind ja nur ein Hilfsmittel, um politische Verhältnisse und Stimmungen auszudrücken. Natürlich muss man damit umgehen können, aber im Kern ist das eine durch und durch journalistische Aufgabe. Mein Job ist es, Fragen zu entwickeln, von denen wir ausgehen, dass sie später für die Analyse wichtig sein können. Wenn der Input nicht stimmt, wird es schwierig, vernünftig zu analysieren.
Was macht eine gelungene Frage aus?
Dass sie scharf trennt; dass sie zum Beispiel Parteiwähler voneinander abgrenzt. Wenn ich Formulierungen finde, bei denen 90 oder 95 Prozent der AfD-Wähler zustimmen, dann weiß ich, dass ich für dieses sehr diffuse Spektrum eine Erklärung gefunden habe. Und wenn bei den anderen Parteien die Zustimmung sehr gering ist, dann trennt das deutlich und ist eine Erklärung dafür, weshalb bestimmte Menschen eine bestimmte Partei wählen.
Die Zahl der Umfragen hat in den vergangenen Jahren nicht nur gefühlt zugenommen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Es gibt viel Umfrage-Müll, das muss man ganz deutlich sagen. Solche Wellen haben wir allerdings häufiger gehabt. Anfang der 2000er gab es mit dem Umzug nach Berlin schon einmal eine wundersame Umfragenvermehrung. Neu ist aber, dass man solche Umfragen im Internet mit geringstem Aufwand generieren kann, auch wenn Online eine Repräsentativität praktisch nicht herzustellen ist. Insofern gibt es heute viele Umfragen, die keinen Nachrichtenwert besitzen und daher Nullnummern sind.
Markus Feldenkirchens Buch "Die Schulz-Story" hat im vorigen Jahr recht eindrucksvoll gezeigt, wie sehr die Politik auf kleinste Veränderungen der Umfragewerte reagiert. Macht sich die Tagespolitik zu stark abhängig davon?
Politik ist viel orientierungsbedürftiger als früher. Noch vor 20 Jahren wurde Politik aus Lagern heraus gemacht, die durch Grundhaltungen definiert waren. Die Entwicklung der letzten Jahre, die viel mit Globalisierung zu tun hat, hat die Parteien der Mitte jedoch relativ verwechselbar gemacht. Wenn die Welt diffuser wird, ist es eben schwer, eine einfache Lösung zu präsentieren. Ich werfe den Parteien gar nicht vor, dass sie nicht versprechen können, wie es in eine bessere Zukunft geht. Aber für Politiker ist, gerade wenn sie inhaltlich verunsichert sind, deshalb die Versuchung viel größer zu glauben, dass ein Punkt mehr in der Umfrage das bestätigt, was sie letzte Woche gesagt haben.
"Politik ist viel orientierungsbedürftiger als früher."
Jörg Schönenborn
Beeinflussen Umfragen im Gegenzug auch die spätere Wahl – gerade, wenn sogar noch zwei Wochen vor dem Urnengang letzte Ergebnisse präsentiert werden?
Selbstverständlich beeinflussen Umfragen Wahlergebnisse, denn die Wählerinnen und Wähler wollen sich orientieren. Man wählt nicht nur aus Gewohnheit und Überzeugung, sondern hat auch eine taktische Absicht, um bestimmte Mehrheiten möglich zu machen. Deshalb werden Umfragen als Orientierung genutzt. Weil sich das nicht vermeiden lässt, kämpfe ich seit 20 Jahren dafür, auch innerhalb der ARD, dass wir zehn Tage vorher das letzte Mal in den Wald rufen. Meiner Ansicht nach reicht das für Wählerinnen und Wähler, um sich eine Meinung zu bilden. Umfragen sind ohnehin keine Vorhersagen auf das Wahlergebnis.
Welchen Wert hat dieser Kampf, wenn in den Tagen danach noch ganz viele Umfragen anderer Sender und Institute folgen?
Ich glaube schon, dass es dazu beiträgt, dass sowohl die Öffentlichkeit als auch die politisch Handelnden Qualitätsunterschiede sehen. Es gibt Umfragen, die eine bessere Adresse sind als andere, und es gibt Institute und Medien, die bestimmte Fragen gar nicht erst stellen würden. Insofern lohnt es sich schon, sich davon abzuheben. Davon abgesehen muss ich mich am Ende fragen, ob ich etwas verantworten möchte, das ich nicht für sinnvoll halte.
Welche Fragen trauen sich andere Medien nicht?
Sie können leicht zu Ergebnissen kommen, die bei genauerem Hinsehen nicht plausibel sind. Am Sonntag wird beispielsweise diskutiert werden, ob die Spitzenkandidaten Timmermanns und Weber die Europawahl mitentschieden haben. Die meisten Deutschen wissen aber gar nicht, wer die Spitzenkandidaten sind – und von denen, die es wissen, haben die meisten, wenn sie ehrlich sind, kein sicheres Urteil darüber. Was weiß man schon als Durchschnittsinteressierter über Herrn Timmermanns? Deswegen haben wir uns dazu entschieden, einen Filter vorzuschalten, indem wir die Menschen fragen, ob sie sich in den letzten Wochen im Wahlkampf ein Urteil haben bilden können. Wenn nicht, dann befragen wir sie nicht weiter zu den Personen. Und wenn doch gehen wir in die Tiefe. Das kostet mehr Umfragezeit und ist teurer, aber ich möchte nicht, dass wir viele zu einer Antwort verleiten, die in Wahrheit gar keine Grundlage hat.
Was kostet das denn überhaupt?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen, aber eine Standardfrage, die nach guter Systematik erhoben wird, die nicht zu lang ist und nicht zu viele Kategorien hat, liegt in der Größenordnung von 1000 Euro.