Herr Kufus, vor zehn Jahren haben Sie sich mit "24h Berlin" eine Stadt vorgenommen, inzwischen sind Sie bei einem ganzen Kontinent gelandet. Neigen Sie zu Größenwahn?
Da kann ich Sie beruhigen. Wir wussten, worauf wir uns einlassen, und konnten von unseren Vorerfahrungen mit "24h Berlin", "24h Jerusalem" und "24h Bayern" profitieren. Ich will aber nicht verhehlen, dass es ein ziemlicher Ritt war. Wir haben am 15. Juni 2018 zeitgleich mit 48 Teams in 26 Ländern gedreht, dabei sind 700 Stunden Drehmaterial entstanden. Bis dieses Material überhaupt aufbereitet war, dauerte es drei Monate. Von Mitte September bis Mitte März haben wir dann geschnitten. Für 24 Stunden Film mit aufwändiger Montage und hochwertiger Grafik war das sehr knapp bemessen.
Das klingt nach einem logistischen Alptraum.
Als wir vor zehn Jahren mit Berlin anfingen, war es ja das allererste Mal. Das war von viel Pioniergeist und Experimentierfreude geprägt. Weil die Technik noch nicht so weit war wie heute, hatten wir ganz andere logistische Herausforderungen. Kuriere mussten ständig die vollen Discs aus den Kameras abholen, in die Firma bringen und leere Discs an die Drehorte ausliefern. Solche Probleme mit Datenkapazitäten gibt es heute nicht mehr. Dafür brauchten wir diesmal in 28 verschiedenen Ländern Regisseure, denen wir vertrauen konnten, obwohl wir nicht unbedingt ihre Sprache verstanden. Da mussten wir uns auf vertrauenswürdige Mittelsmänner verlassen, die uns Empfehlungen gegeben haben. Um das Material für den Schnitt handhabbar zu machen, mussten wir erst alles übersetzen lassen.
Wie haben Sie denn die Protagonisten für "24h Europe – The Next Generation" gefunden?
Anders als zuvor wollten wir uns diesmal stärker auf einzelne Personen konzentrieren und weniger sprunghaft erzählen. Es sollten ausschließlich junge Leute zwischen 18 und 30 sein, die das Europa der Zukunft auf ihren Schultern tragen. Wir sind semi-wissenschaftlich vorgegangen und haben uns zunächst die gesellschaftlichen Megatrends angeschaut, die aus politisch-soziologischen Studien hervorgehen. Zu den großen Themen, die diese jungen Menschen umtreiben, zählen Arbeitslosigkeit, Mobilität, Migration, Separatismus oder neu definierte Geschlechterrollen. Passend zu diesen Themen und den jeweils relevanten Milieus haben wir dann gezielt nach geeigneten Protagonisten gesucht. Wir hatten sehr genaue Vorstellungen. Wir wollten etwa einen jungen Arbeitslosen in Griechenland oder eine Italienerin, die unter der Woche in London Karriere macht und am Wochenende heimfliegt. Auch die Abbildung verschiedener politischer Milieus war uns wichtig. Überall in Europa trifft man heute populistische und reaktionäre Ideologien bei vielen Jugendlichen an. Das wollten wir nicht aussparen.
Wenn Sie so minutiös geplant haben, blieb vermutlich weniger Raum für zufällige Begegnungen als bei den Vorläuferprojekten.
Das ist richtig. Wenn man in 28 Ländern gleichzeitig dreht, kann man nicht allzu viel dem Zufall überlassen. Allerdings haben wir um unsere Protagonisten herum dennoch überraschende Begegnungen und Gespräche erlebt. Der junge Grieche, den ich gerade erwähnte, lebte noch zu Hause bei seinen Eltern. Da er sich die ganze Zeit mit seiner Mutter gestritten hat, wurde die natürlich zu einer wichtigen Nebenfigur. In Italien haben wir mit rechtsradikalen Anhängern der Lega Nord gedreht. Die trafen im Park auf einen älteren Mann, der sich vor laufender Kamera richtig mit ihnen angelegt und über die demokratischen Verhältnisse des Landes diskutiert hat.
Sie bilden die Geschehnisse eines Tages dokumentarisch ab. Wollen Sie damit auch eine Botschaft rüberbringen?
Wir machen ganz bewusst ein politisches Statement: So sieht unser heutiges Europa aus der Perspektive der jungen Leute aus. An den verschiedenen Positionen kann sich dann jeder Zuschauer selbst verorten. Wir urteilen im Film nicht darüber, was richtig oder falsch ist. Als jemand, der allen Problemen zum Trotz ein überwiegend positives Bild von Europa hat, erschüttert es mich persönlich, wie vielen jungen Menschen die europäische Idee gleichgültig ist. Die Wertschätzung für Europa, die ich aus meiner Generation kenne, hat heute deutlich nachgelassen. In Frieden zu leben, Kriege und Feindschaften überwunden zu haben, ist für die Kinder der 90er keine europäische Errungenschaft, sondern eine Selbstverständlichkeit, weil sie es nie anders erlebt haben. Entsprechend leichtsinnig gehen manche damit um.
Trotzdem machen Sie "24h Europe" nicht zur pro-europäischen Feierstunde.
Pro-europäisch ist das Format durchaus, aber definitiv keine Feierstunde. Dafür ist es viel zu polarisierend. Wir lassen die mitunter radikalen politischen Aussagen eines jungen Salafisten, eines jungen Rechtsextremisten oder eines paramilitärisch geschulten polnischen Mädchens so stehen, wie sie gemacht wurden. Bei der Pressevorführung habe ich einige Journalisten unruhig auf den Stühlen rutschen sehen. Wir haben aber den vollen Rückhalt unserer Sender, ein ungeschöntes Bild von der realen Situation zu zeichnen.
Bereiten Sie sich auf Shitstorms von allen Seiten vor?
Erfahrungen mit heiklen Konfrontationen haben wir 2014 bei "24h Jerusalem" zuhauf gemacht. Alle haben mit Adleraugen darauf geguckt, dass es weder zu pro-israelisch noch zu pro-palästinensisch wird. Wegen eines Boykotts mussten wir damals sogar abbrechen und nochmal von vorn anfangen. Am Ende sind wir keiner politischen Einseitigkeit bezichtigt worden. Das war eine gute Schule. Natürlich kann ich nicht ausschließen, dass ein Zuschauer, der nur mal kurz reinzappt und eine polarisierende Passage erwischt, für den Moment verstört sein mag. Wer aber etwas länger dranbleibt oder mehrmals am Tag zurückkommt, wird auf jeden Fall merken, dass wir uns um eine vielfältige Abbildung unterschiedlichster Stimmen bemühen.
Apropos dranbleiben: Wie stellen Sie sich den idealen Zuschauer vor? Kaum einer wird 24 Stunden nonstop vorm Fernseher verharren.
Am liebsten sind uns die Zuschauer, die den ganzen Tag über immer wieder für ein bis zwei Stunden reinschauen, hängen bleiben und vielleicht sogar eine gewisse Parallele zu ihrer eigenen Wirklichkeit entdecken. Aus zahlreichen Zuschriften zu den Vorläuferprojekten wissen wir, dass sich nicht wenige Menschen gezielt auf den Tag mit uns einrichten. Arte, RBB, BR und SWR setzen damit auch ein klares Ausrufezeichen hinter die Kraft des linearen Live-Fernsehens – eine Kraft, die sich ansonsten, von Sportübertragungen abgesehen, nicht mehr so oft entfaltet.
Haben Sie schon weitere Ideen für "24h" im Hinterkopf?
Im Moment gehen wir am Stock und müssen uns erstmal von "24h Europe" erholen. (lacht) Aber das haben wir schon zwei-, dreimal gesagt und es dann doch wieder gemacht. Konkrete Ideen oder Pläne gibt es allerdings nicht.
Neben Dokumentarfilmen produzieren Sie zunehmend auch hochwertige Fiction, aktuell etwa die Bauhaus-Serie "Die neue Zeit" von Lars Kraume, die im April beim Festival Canneseries ausgezeichnet wurde. Bringt Ihnen "24h" da irgendwelche Synergien?
Der rote Faden liegt in der Kompetenz, fesselnd seriell zu erzählen. Früher haben wir häufiger Doku-Serien produziert, vor allem für Arte. Dieses Genre, das nach wie vor reizvoll sein könnte, wurde von ARD und ZDF leider nicht genügend gepflegt und von den Privaten verhunzt. Mich leitet auch bei unseren fiktionalen Projekten ein dokumentarisches Erkenntnisinteresse. Das gilt für "Die neue Zeit" und das war auch schon bei "Der Staat gegen Fritz Bauer" so. Ich habe in beiden Fällen zu Lars Kraume gesagt: Lass uns die Geschichte so erzählen, wie sie passiert ist. Wenn man faszinierende Real-Life-Figuren entdeckt, muss man nichts dazuerfinden oder verkitschen.
Gibt es nach Cannes schon internationale Verkäufe für "Die neue Zeit" zu vermelden?
Unsere Vertriebskollegen von Beta Film und wir haben sehr großes Interesse zu spüren bekommen, ganz besonders aus Italien, Spanien, Benelux und Österreich. Aber natürlich wollen jetzt alle erstmal die komplette Serie sehen.
Werden Sie Ihre Fiction-Dosis angesichts der enormen internationalen Nachfrage nach High-End-Serien künftig erhöhen?
Wir werden es nicht übertreiben, sondern bei unserem bewährten Rezept bleiben, die Projekte sehr überlegt und wohl dosiert auszuwählen. Unternehmerisch spielt die Fiction aber auch deshalb eine wichtige Rolle, weil die erhöhte Nachfrage hier zu steigenden Budgets geführt hat, während wir im Dokumentarischen einen jahrelangen Preisdruck erlebt haben und dort kaum noch auf die alten Margen kommen. Unser Portfolio ist in etwa halbe-halbe zwischen Doku und Fiction ausbalanciert, dabei soll es bleiben.
Herr Kufus, herzlichen Dank für das Gespräch.
"24h Europe – The Next Generation" startet am Samstag, 4. Mai um 6 Uhr morgens und läuft bis 6 Uhr am Sonntagmorgen – durchgehend bei Arte und im RBB Fernsehen, mit Unterbrechungen im BR Fernsehen und SWR Fernsehen.