Wie sehen Sie den deutschen Markt für diesen Aufbruch aufgestellt? Ziehen die Sender mit? Ziehen die Zuschauer mit?
Lehmann: Es gibt nicht mehr "die" Sender. Neben die vollfinanzierte Auftragsproduktion ist eine Vielfalt an alternativen Modellen getreten, die mit sämtlichen Schattierungen nationaler und internationaler Ko-Finanzierungen funktionieren. Wenn wir nur mal Turner mit TNT Serie nehmen, dann sehen wir dort ein großes Bedürfnis für neue Wege im Pay-TV-Bereich. Dort entsteht in den nächsten Jahren sicher ein etwas größerer Markt. Für die öffentlich-rechtlichen Sender ist dieser Markt ja gar nicht so neu, nur waren es früher halt eher Zwei- oder Dreiteiler und jetzt eben Miniserien. In Gebhard Henke vom WDR und Bernhard Gleim vom NDR haben wir große Unterstützer für "Die Stadt und die Macht" gewonnen. Dennoch gibt es natürlich auch weiterhin großes Interesse am episodisch erzählten Serienformat. Ich sehe keinen Grund, das eine gegen das andere auszuspielen.
Goetter: Mit Blick auf die Zuschauer sehe ich ebenfalls großes Potenzial – jedenfalls wenn es um die Lust an neuen Stoffen geht. Wenn wir unsere horizontalen Formate ausschließlich auf klassischem Wege im TV anbieten, beschneiden wir dieses Potenzial unnötig. Mit der Sonderprogrammierung von drei Doppelfolgen an drei aufeinander folgenden Tagen kommen wir dem Zuschauer und den geänderten Sehgewohnheiten ein gutes Stück entgegen. Dass sich der Zuschauer im Mediatheken-Zeitalter nicht mehr mit Häppchenfütterung gewinnen lässt, haben wir ja schon gemerkt. Hier liegt sicher noch Verbesserungspotenzial – aber zuallererst müssen die Inhalte stimmen.
Ist die ARD-Version von Bingewatching – sechs Folgen an drei Abenden – wirklich die ideale Programmierung? Oder haben wir den Idealzustand nicht erst dann erreicht, wenn der Sender statt sechs gleich zwölf Folgen beauftragt und diese im Wochenrhythmus programmiert – so wie es bei horizontalen US-Serien wie "Homeland" oder "Breaking Bad" auch üblich ist?
Lehmann: Darüber machen wir uns in der Tat ziemlich viele Gedanken. Im konkreten Fall von "Die Stadt und die Macht" spielt für mich eine wesentliche Rolle, dass die erste Januar-Hälfte die zuschauerstärkste Zeit des ganzen Jahres ist. So wie die Serie jetzt programmiert ist, halte ich es wirklich für ideal: Start an einem Dienstag, dem gelernten Serienabend der ARD; wir hatten über Weihnachten und Neujahr eine starke Plattform für die On-Air-Bewerbung; die Lust der Menschen auf etwas Neues ist Anfang des Jahres überdurchschnittlich groß. Das heißt aber nicht, dass das jetzt die Blaupause für alle weiteren Projekte dieser Art ist. Wir haben ja etwa bei den ersten beiden Staffeln von Regina Zieglers "Weissensee" gesehen, dass auch die klassische lineare Ausstrahlung Woche für Woche prima funktioniert hat. Dafür fehlen in der Regel noch die Sendeplätze, weil zumindest die Öffentlich-Rechtlichen eine ältere Zuschauerstruktur haben und die Verantwortlichen keinen Anlass sehen, hervorragend eingeschaltete Serien herkömmlicher Machart in ihren durchformatierten Sendeschienen über Bord zu werfen.
Auch die enttäuschende lineare Performance von "Deutschland 83" bei RTL hat nicht gerade zur Motivation der Sender beigetragen. Befürchten Sie Auswirkungen auf kommende Diskussionen über neue Projekte?
Goetter: Jeder Produzent wünscht sich Erfolge für neue, mutige Programme und Programmfarben – das ist unser gemeinsamer Markt, wir alle profitieren davon. "Deutschland 83" hat die Dringlichkeit der Überprüfung der Online-Nutzungsmöglichkeiten und des Online-Marketings nochmals unterstrichen und mit seiner öffentlichen Diskussion umfassend auf die immer größere Bedeutung von Online-Programm und -Zugang hingewiesen – jetzt braucht es Reaktionen.
Lehmann: Der Stolz auf das eigene Projekt – wenn man selbst und vielleicht auch die Kritiker es sehr gut finden – reicht auf Dauer natürlich nicht aus, es muss sich am Markt durchsetzen. Für alle Programmmacher wird es einfacher, wenn wir so viele Erfolge wie möglich haben. Umgekehrt wird mit jedem Misserfolg sofort jedes ähnlich gelagerte Projekt in der Warteschleife einer noch kritischeren Betrachtung unterzogen.
"Ich glaube, dass die Mediatheken-Nutzung in Zukunft viel stärker in die Gesamtfinanzierung einfließen muss"
Michael Lehmann, Studio Hamburg Produktion Gruppe
Die Frage ist, wie wir Markterfolg künftig definieren: Machen wir das weiterhin nur von der GfK-Quote abhängig oder kommen wir zu einer langfristigeren Betrachtung, die beispielsweise im Fall von "Die Stadt und die Macht" und Netflix auch eine VoD-Nutzung über mehrere Monate mit einbezieht?
Lehmann: Die Antwort auf diese Frage hängt unmittelbar mit der Frage der Finanzierung solcher Projekte zusammen. Fakt ist, dass wir sie bislang nahezu ausschließlich für das lineare Fernsehen produzieren, weil da nun mal der weitaus größte Budgetanteil herkommt. Wenn wir ein bisschen in die Zukunft schauen, steht für mich außer Zweifel, dass sich auch im Mediatheken-Umfeld Qualität durchsetzen wird. Und Qualität kostet bekanntlich Geld. Dementsprechend glaube ich, dass die Mediatheken-Nutzung in Zukunft viel stärker in die Gesamtfinanzierung einfließen muss, und zwar sowohl im öffentlich-rechtlichen wie im werbefinanzierten Kontext. Das ist allein schon deshalb wichtig, weil die Mediatheken-Nutzung ja dazu führt, dass man Zuschauer erreicht, die sich im linearen Fernsehen nicht mehr wiederfinden. Wenn hoffentlich bald das neue Mega-Panel mit seiner plattformübergreifenden Bewegtbild-Messung die GfK-Quote erweitert, sind wir zumindest schon mal ein Stück näher an einem ganzheitlichen Bild.
Wobei Netflix sich auch damit nicht in die Karten schauen lassen wird. Nehmen Sie eigentlich billigend in Kauf, dass mancher Nutzer die ARD links liegen lässt, weil "Die Stadt und die Macht" ja sofort bei Netflix verfügbar ist?
Lehmann: Das mag für einen vergleichsweise überschaubaren Personenkreis gelten. Meine Erfahrung mit Serien ist allerdings genau andersrum: Je großflächiger eine Serie bereitgestellt wird, desto höher ihr Bekanntheitsgrad. Gelingt es ihr, "talk of the town" zu werden, dann profitieren alle Plattformen gleichermaßen davon. Insofern glaube ich nicht, dass wir uns gegenseitig Zuschauer wegnehmen, sondern dass Aufmerksamkeit und Gesamtreichweite für "Die Stadt und die Macht" unterm Strich steigen werden.
Frau Goetter, Herr Lehmann, herzlichen Dank für das Gespräch.