Herr di Lorenzo, als „3nach9“ vor 50 Jahren gestartet ist - auch als Sie dann vor 35 Jahren an Bord gekommen sind - gab es weit weniger medialen Wettbewerb, geschweige denn Talkshows. Was hebt die Sendung heute ab von all den anderen?
Das müssten eigentlich Profis wie Sie beantworten. „3nach9“ wurde und wird zum einen, wie alle Talkformate, von den Moderatorinnen und Moderatoren geprägt. Außerdem spielen die Ausführlichkeit der Gespräche und die Auswahl der Gäste eine wichtige Rolle. Ich glaube, uns gelingt da immer wieder eine Mischung, die uns von anderen unterscheidet.
Haben Sie darauf Einfluss? Oder setzt sich Giovanni Di Lorenzo, der es bei der „Zeit“ selbst in der Hand hat, hier sozusagen ins gemachte Nest?
Bei der Vorbereitung der Sendung haben Judith und ich eigentlich nichts zu melden, insbesondere nicht bei der Gästeauswahl und der Einladungspolitik. Das ist auch gut so, sonst käme ich in einen permanenten Interessenkonflikt. Wir sind ja auch nicht angestellt bei Radio Bremen – sondern freie Mitarbeiter. Dieser Zustand hält in meinem Fall jetzt schon seit 35 Jahren an. Bis heute empfinde ich das als eine glückliche Liaison.
Was bedeutet Ihnen die Moderation von „3nach9“ im Kontrast zur Chefredaktion der „Zeit“?
Es ist ein monatlicher Ausflug aus meinem Redaktionsalltag bei der „Zeit“. Jobst Plog – langjähriger NDR-Intendant – hat es einmal so ausgedrückt: „3nach9 ist Giovannis Spielwiese“. Das war aber in keiner Weise despektierlich oder verniedlichend gemeint. Hinter der Sendung steckt ja die harte Arbeit eines großen Teams. Mir macht dieser Ausflug auch deshalb viel Freude, weil die mediale Rezeption so ganz anders ist als bei der „Zeit“: Du moderierst eine Fernsehsendung, gehst am nächsten Morgen in den Supermarkt und wirst darauf angesprochen. Diese Unmittelbarkeit empfinde ich nach wie vor als große Bereicherung.
Was kann das Medium TV besser als die gedruckte Zeitung - und umgekehrt?
(überlegt) Es gibt mindestens zwei große Unterschiede. Einerseits bei der Interviewtechnik – und andererseits bei der Wirkung, die man erreichen kann. Bei einem Zeitungsinterview sitzt da, wenn ich als Journalist Glück habe, eine Person, die sich anderthalb oder zwei, manchmal sogar drei Stunden Zeit nimmt. Da kann ich entsprechend lange lauern, um zu einem bestimmten Thema einen besonderen Satz zu bekommen. Im Nachhinein kann ich den Text wiederum kürzen, mehr Tempo reinbringen und schneller auf den Punkt kommen. Bei „3nach9“ habe ich, wenn es hochkommt, 20 Minuten mit einem Gast. Entweder du entlockst ihm in der Zeit etwas – oder du versemmelst das Gespräch.
Wann ist ein Gespräch für Sie versemmelt?
Wenn Du dem Gast nichts Aufschlussreiches entlockst.
Und was ist der zweite große Unterschied?
Nach meiner Beobachtung kann das Fernsehen sehr viel besser Antwort geben auf eine elementare Alltagsfrage. Nämlich: Wie ist derjenige oder diejenige eigentlich so? Die Menschen interessiert das oft mehr als das, was jemand inhaltlich zu sagen hat. Die Talkshow ist in erster Linie ein Eindrucksmedium.
Ich würde noch die Autorisierung ergänzen: Im Fernsehen ist gesagt, gesagt. Da droht im Nachhinein nichts verloren zu gehen.
Völlig richtig! Wir schneiden aus der Sendung nichts raus. Insofern sind unsere Gespräche bei „3nach9“ ziemlich authentische Begegnungen. Allerdings haben wir es natürlich oft mit absoluten Medienprofis zu tun, die irgendetwas verkaufen wollen. Da ist dann unser Ehrgeiz, dass sie etwas sagen, von dem sie vielleicht im Vorfeld gar nicht geplant hatten, es der Öffentlichkeit zu verraten.
Anders als vor 35 oder gar 50 Jahren tragen wir alle heue eine Kamera in unseren Hosentaschen mit uns herum. Kamera-Erfahrung ist weit verbreitet. Produzieren sich Gäste heute mehr als früher?
Nach meiner Beobachtung ist das nicht der Hauptunterschied zu früher…
Ich bin ganz Ohr….
Der Hauptunterschied ist, dass die Leute früher keine Angst vor einem Shitstorm hatten. Dass ein Satz sie praktisch Kopf und Kragen kosten kann. Was ebenfalls komplett verschwunden ist: der Typus Gast, der in der Sendung wie ein Schlot raucht oder auch dem Wein zuspricht. All das wird ja heute mit beobachtet – und da sind unsere Gäste alle sehr, sehr vorsichtig geworden. Früher haben wir oft das totale Gegenteil erlebt, besonders bei Menschen aus der Münchner Filmbranche. Wir haben damals ja noch am späten Abend live gesendet – teils kamen die Gäste richtig abgewrackt an, verschwanden kurz vor Sendebeginn auf der Toilette und saßen Minuten später, leicht schwitzend, aber vor Kraft strotzend, im Studio. Diese auffällige Persönlichkeitswandlung habe ich schon lange nicht mehr beobachtet.
"Wenn du mit der ersten Frage daneben langst, sind schon mal fünf kostbare Minuten weg – und damit schlimmstenfalls auch ein Teil der Zuschauer."
Heute versendet sich nichts mehr. Also mal von solchen plötzlichen Persönlichkeitswandlungen abgesehen: Ist es schade um die Unbesorgtheit der Gäste?
Schöne, wahrhaftige Momente sind nach wie vor möglich.
Was trumpft bei Ihnen: Die sorgsam vorbereiteten Fragen oder das laufende Gespräch, was vielleicht in eine ganz andere Richtung driftet als gedacht?
Ich würde immer für die spontane Reaktion plädieren. Dass man sich als Moderator auf das einlässt, was der Gast sagt – und auf die Stimmung im Raum. So halte ich es auch bei meinen Gesprächen für die „Zeit“. Ich gehe in alle Gespräche sehr gut vorbereitet rein, habe aber nie einen Fragenkatalog. Ich entscheide auch spontan, welche Einstiegsfrage ich stelle. Beim Fernsehen ist allerdings der Druck größer: Wenn du mit der ersten Frage daneben langst, sind schon mal fünf kostbare Minuten weg – und damit schlimmstenfalls auch ein Teil der Zuschauer.
Und wenn der Gast dann in seiner Antwort thematisch völlig davon galoppiert, wird es umso schwieriger…
Da ist Spontanität gefragt.
Als Chefredakteur der „Zeit“ erwartet man von Ihnen kritische Fragen. Wie sehr müssen Sie sich zurückhalten, bei einer Talkshow jetzt niemanden in die Ecke zu treiben, um die positive gesellige Atmosphäre nicht zu trüben?
Was wir bei „3nach9“ machen, kann man nicht mit den Interviews von Caren Miosga oder Maybrit Illner vergleichen. Wir sind ein Unterhaltungsformat, keine Informationssendung. Und natürlich würde ich Gespräche für die „Zeit“ auch anders führen. Wir können bei „3nach9“ schon mal politisch werden, aber dann geht es auch wieder darum, was jemand zu Hause am liebsten kocht. Das habe ich zum Beispiel den Kanzler gefragt, als er neulich da war. Weil es für mich zu dem Bild eines Menschen dazugehört, der Macht hat. Wir beschränken uns auch bewusst nicht auf bestimmte Themen, sondern springen hin und her, fragen nach allem, was uns interessant erscheint. Ich glaube, das ist Teil der Erfolgsformel von „3nach9“.
Und im Zweifel nicht zu sehr nachhaken?
Nachhaken ist nie verkehrt – aber oft ist es besser, das Gespräch einfach laufen zu lassen. Es ist Freitagabend, die Leute haben in der Woche schon genug schlechte Nachrichten bekommen. Wir wollen anregen und unsere Zuschauer mit Menschen und Themen konfrontieren, die sie möglicherweise bisher nicht kennen. Aber wir bleiben ein unterhaltendes Format.
Da ist er dann wieder, der „Ausflug“ vom Chefredakteur-sein bei der „Zeit“…
Ja, denn bei „3nach9“ müssen wir nicht politisches Agenda-Setting betreiben. Was wir leisten können – und auch immer wieder tun –, ist, Persönlichkeiten zu entdecken. Manche Gäste sind bei uns zum allerersten Mal in einer Talkshow und erleben durch den Auftritt einen großen Push.
Sie sagten, sie haben keine Fragenkataloge. Und doch kennt es jeder Journalist, jede Journalistin: Dieser Frust, wenn man am Ende doch nicht dazu kam, diese eine Frage zu stellen, die man sich überlegt hattte…
Oh, davon kann ich mich auch nach 35 Jahren „3nach9“ nicht freimachen. Die Nacht nach der Sendung ist in der Regel eine schlechte, weil all die Fragen hochkommen, die man nicht gestellt hat. Die nicht ergriffenen Gelegenheiten, wo man das Gespräch in eine andere Richtung hätte drehen können. Das rotiert dann schon im Kopf.
Wieso laufen eigentlich alle Talkformate der Dritten fast zeitgleich am Freitagabend? Ist das im Sinne des Publikums?
Ich bin kein Intendant bei der ARD, insofern kann ich Ihnen das nicht beantworten. Aber auch wenn der Markt so fragmentiert ist, sind alle Formate doch erfolgreich. Wir haben in der Geschichte von „3nach9“ jedenfalls selten so gute Quoten gehabt wie in den letzten zwei Jahren.
Wenn Sie dann die Gästeliste der nächsten Sendung bekommen. Welche Konstellationen finden Sie besonders spannend?
Natürlich fällt mir ein Gespräch mit Friedrich Merz oder Olaf Scholz – die beide in diesem Jahr bei uns zu Gast waren – leichter als das mit einer Influencerin oder einer Dressurreiterin. Die Unterhaltung mit solchen Gästen wiederum beherrscht Judith (Rakers, Anm. d. Red.) meisterlich. Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Aber manchmal gibt es Gäste, bei denen Judith und ich gleichermaßen sagen: lieber nicht.
Man muss also nicht mit jedem reden?
Nein, muss man nicht. Einer der wenigen Fälle in der Geschichte von „3nach9“, bei dem ich erfolgreich mein Veto gegen die Entscheidung der Redaktion eingelegt habe, war vor vielen Jahren Jörg Haider. Natürlich sollte er unter der Prämisse eingeladen werden, dass wir ihn mit unseren kritischen Fragen demaskieren könnten. Ich habe widersprochen und gesagt, dass uns das in einer Unterhaltungssendung unter keinen Umständen gelingen wird. Ich hätte ihm in den Nacken springen können, das Einzige, was passiert wäre: Die Zuschauer hätten hinterher gefragt, wieso wurde dieser Gast so schlecht behandelt?
Wie würden Sie es mit der Politikerinnen und Poltikern der AfD halten?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass rechtspopulistische Politiker vom Fernsehen nicht ignoriert werden können. Wenn wir das tun – weil wir fürchten, ihnen eine große Bühne zu geben, auf der sie dann alles sagen können, ohne dass wir die Mittel hätten, um etwas dagegen zu halten –, dann tragen wir nur zu deren Mythisierung bei. Wir leisten einem Gefühl von Unbesiegbarkeit Vorschub – und das finde ich falsch.
Gilt das auch für „3nach9“?
Wie gesagt, eine Unterhaltungssendung ist für die Auseinandersetzung mit Populisten der falsche Ort. Aber der jahrelang weit verbreitete Versuch, sie auch in politischen Sendungen nicht stattzufinden zu lassen, hat ja ganz offensichtlich nicht dazu geführt, dass die AfD an Prozenten verloren hätte. Ich fand übrigens auch das viel kritisierte Thüringer TV-Duell überhaupt nicht misslungen. Im Gegenteil, ich bekam da den Eindruck, dass auch ein Höcke sehr wohl besiegbar ist.
Letzte Frage: Wenn Sie für eine „3nach9“-Runde noch einmal eine Gruppe von Menschen zusammenbringen könnten, die nicht mehr unter uns weilen, welche Persönlichkeiten würden in dieser Sendung sitzen?
Schöne Frage, lassen Sie mich überlegen. Ich würde sehr, sehr gerne noch einmal Peter Ustinov holen, der uns einen der schönsten Momente in der Geschichte von „3nach9“ beschert hat. Und ich würde mir wünschen, noch einmal Willy Brandt mit Brigitte Seebacher-Brandt bei uns zu haben. Weil ich Brandt in jeder Hinsicht vermisse. Gerne hätte ich auch Helmut Dietl da. Und sehr gerne würde ich noch einmal mit Caterina Valente sprechen. Wenn ich schon träumen darf.
Herr Di Lorenzo, herzlichen Dank für das Gespräch.