Frau Strobl, Programmstörungen sind ja eher nicht gerne gesehen, bei Ihnen war es vor einigen Wochen aber eine freiwillige Entscheidung, dass Carolin Kebekus an einem Sonntagabend um 20:15 Uhr plötzlich anstelle des "Tatorts" zu sehen war und über Kinder sprach. Mit etwas Abstand betrachtet: Was hat das der ARD gebracht?
In erster Linie hat es eine große Aufmerksamkeit für das Thema Kinder und Kinderrechte gebracht. Ich finde es sehr bemerkenswert, dass wir mit einem Thema, das sonst nicht oft im Mittelpunkt steht, nicht nur weit über sechs Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer im linearen Programm und mehr als vier Millionen Videoviews in den sozialen Medien erreichen, sondern auch eine breite Debatte auslösen. Endlich ist mal wieder über Kinder in Deutschland diskutiert worden, noch dazu in einer positiven Form und mit einem gewissen Humor. Dass wir einen im Mittelpunkt des Publikumsinteresses stehenden Sendeplatz nutzen konnten, um ein solches Thema anzustoßen, ist wunderbar.
Es bleibt also nicht bei einer einmaligen Störung?
Wir weichen inzwischen viel häufiger aus aktuellen Anlässen von unserem Programmschema ab - sei es in Form von "Brennpunkten" oder, wie kürzlich nach den Ereignissen von Solingen, in einem längeren, vertiefenden Stück nach den "Tagesthemen". Daneben finde ich es wichtig, dass wir uns abseits der Tagesaktualität auch für Themen, die wichtig sind, immer mal wieder die Zeit nehmen. Man darf es mit solchen Programmstörern aber sicher nicht übertreiben. Ich kann Ihnen daher nicht sagen, wann wir das nächste Mal so etwas machen und vor allem in welcher Form. Aber dass wir es wieder machen werden, davon können Sie ausgehen.
Möglich war der Erfolg aber nur, weil die Sendung linear lief, oder? Eine einfache Kachel in der Mediathek wäre wahrscheinlich verpufft.
Dieses Lagerfeuer, das wir mit der "Tagesschau", dem "Tatort", Live-Sport und großen, fiktionalen Highlights entfachen, ist sicher aktuell vor allem im linearen Programm möglich. Aber wir müssen additiv denken und neben dem linearen Fernsehen auch unsere Social-Media-Kanäle und die Mediathek nutzen. Nur dieser Dreiklang der Ausspielwege ermöglicht uns eine breite Publikumsdurchdringung.
Wenn die Bedeutung des Streaming immer größer wird, welche Rolle spielt dann eigentlich noch das Denken in klassischen Sendeplätzen?
Das Erste Deutsche Fernsehen ist weiterhin eing roßer Schatz. Im Sommer war unser Sender, natürlich getrieben vom Sport, so reichweitenstark wie seit zehn Jahren im Juli nicht mehr. Aber uns muss klar sein, dass wir die Veränderungen in der Mediennutzung damit nicht aufhalten können. Manchmal wünschte ich mir, dass selbst bei denen, die sich mit Medien beschäftigen, noch besser durchdringt, dass wir durch die Mediathek die Möglichkeit haben, uns komplementär aufzustellen. Für mich ist die Kuratierung eines Formats in der Mediathek ganz oben auf der Startseite genauso relevant wie ein Sendeplatz um 20:15 Uhr im Ersten. Wir müssen anfangen, die Qualität eines Programms am Inhalt und nicht am linearen Sendeplatz zu messen. Mag sein, dass das Lineare im Moment noch reichweitenstärker ist, aber im Digitalen sprechen wir Menschen unter 50 an, die wir auf den klassischen Wegen immer schwieriger erreichen. Für das, was wir hier in den vergangenen drei Jahren für die ARD Mediathek erreicht haben, können wir uns auch innerhalb der ARD durchaus häufiger mal auf die Schulter klopfen.
Was meinen Sie?
Wir sind so lange zurecht für die unausgereifte Suchfunktion und die schlechte Nutzerführung in der Mediathek kritisiert worden. Aber inzwischen kann sich das echt sehen lassen. Oder nehmen Sie unseren Multistreamplayer, durch den es bei den Olympischen Spielen möglich war, die Sportrechte in ihrer ganzen Vielfalt auszubreiten. Durch bis zu zehn Livestreams, die gleichzeitig und sehr nutzerfreundlich genutzt werden konnten, haben wir die Spiele so breit dargestellt wie nie zuvor. Das ist etwas Einmaliges in der Welt, und ich frage mich manchmal, warum wir das nicht lauter sagen, denn so etwas haben nicht einmal internationale Tech-Konzerne auf die Beine gestellt. Und obwohl wir eine hohe Nutzlast hatten, wie sie vor wenigen Jahren nicht denkbar gewesen wäre, ist bei uns technisch nichts zusammengebrochen. Das können andere nicht von sich behaupten, wenn sie mal ein vergleichbares EM-Achtelfinale übertragen.
"Es leuchtet mir nicht ein, weshalb wir ebenso wie unsere privaten deutschen Konkurrenten weitere Begrenzungen erfahren, während zum Beispiel TikTok ungehindert allen zur Verfügung steht und nicht reguliert wird."
Nur der Name "Mediathek" ist nicht wirklich sexy, oder?
Natürlich ist die Mediathek, ebenso wie die Audiothek, ein Begriff, der nicht unbedingt ein Lebensgefühl zum Ausdruck bringt. Aber ehrlich gesagt halte ich es für völlig egal, wie die Plattform heißt. Die Menschen wollen ein Markenversprechen - und das ist die ARD, die für Qualität, Seriosität und inzwischen auch für gutes Streaming steht. Nicht umsonst haben wir mittlerweile das reichweitenstärkste Streamingangebot aller Fernsehsender.
Gleichzeitig diskutiert die Politik gerade über die Zukunft von ARD und ZDF, die Debatte um den Reformstaatsvertrag ist in vollem Gange. Was sind Ihre Erwartungen?
Es ist immer richtig, auf Zuständigkeiten zu achten und im Moment liegt der Ball ja eindeutig bei den Bundesländern beziehungsweise der Rundfunkkommission. Ich für meinen Teil finde davon unabhängig, dass wir schon viel zu lange nur über Weglassen, Begrenzungen und Strukturen reden. Bei allem Verständnis für finanzielle Debatten wünsche ich mir, dass wir die entsprechenden Spielräume bekommen, um möglichst alle Menschen in unserem Land zu erreichen. Es leuchtet mir nicht ein, weshalb wir ebenso wie unsere privaten deutschen Konkurrenten weitere Begrenzungen erfahren, während zum Beispiel TikTok ungehindert allen zur Verfügung steht und nicht reguliert wird. Lasst uns unser Programm in den Mittelpunkt stellen und uns daran messen, wie mutig wir bei den notwendigen programmlichen Veränderungen sind und welchen Teil wir im Sinne unseres Auftrags zur gelebten Demokratie beitragen können.
Vor einigen Wochen haben Sie die Debatten-Sendung "Die 100" gesendet. Nach der Ausstrahlung sah sich ein Teilnehmer im Netz wüsten Beschimpfungen ausgesetzt. Ist es aus Ihrer Sicht schwerer geworden, kontroversen Meinungen im Fernsehen abzubilden?
Das glaube ich ehrlich gesagt gar nicht. Und ich finde auch, dass wir nicht durch jede Welle bei Social Media gleich verzagt sein sollten. "Die 100" ist ein Versuch, dem politischen Diskurs einen neuen Impuls zu geben, um abseits unserer politischen Talksendungen neue Zielgruppen unter 50 anzusprechen. Wir haben mit "Caren Miosga", "Maischberger" und "Hart aber fair" tolle Formate. Aber das reicht heute eben aufgrund der veränderten Sehgewohnheiten nicht, um damit alle zu erreichen. "Die 100" ist eine Variante, die wir auch weiter ausprobieren wollen. Mich fasziniert es zu sehen, wie Menschen mit Themen umgehen, wenn sie mit bestimmten Informationen konfrontiert werden. Ändert sich ihre Haltung? Bleiben sie dabei? Auf diese Weise können wir vielleicht neue Impulse für den politischen Diskurs geben.
Auch mit Louis Klamroth wollen Sie verstärkt junge Menschen erreichen. Gleichzeitig werden Sie die Zahl der "Hart aber fair"-Folgen im kommenden Jahr um ein Drittel kürzen. Wie passt das zusammen?
Louis Klamroth und die Kollegen vom WDR und von Florida Factual haben bei "Hart aber fair" einen tollen Job gemacht. Sie haben spürbar an der Sendung gearbeitet, haben "Hart aber fair to go" entwickelt und die Abrufzahlen in der Mediathek signifikant gesteigert. Das ist jetzt Louis' Sendung, und das finde ich großartig. Von dieser Basis ausgehend wollen wir nun zusammen mit ihm Formate entwickeln, um eben genau diesen politischen Diskurs in eine jüngere Zielgruppe zu tragen. Aktuell befinden wir uns mitten in der Konzeptentwicklung und wollen 2025 nicht nur ein neues Format, sondern mehrere Ideen ausprobieren. Alle mit einem klaren Fokus auf die Mediathek. Wer, wenn nicht Louis Klamroth, Florida Factual und der WDR sollte das hinbekommen?
Aber wenn es zehn Folgen weniger von "Hart aber fair" geben soll, dann müssen Sie diesen Sendeplatz im Ersten anderweitig füllen. Was schwebt Ihnen vor?
Dass wir neue Formate für die Mediathek ausprobieren, heißt ja nicht, dass sie nicht auch auf einem linearen Sendeplatz ausgestrahlt werden können, aber der Erfolg bemisst sich erstmal daran, ob wir damit neue Menschen für politische Themen bei uns erreichen. Nächstes Jahr um die Zeit werden wir hoffentlich ein Format gefunden haben, das hier überzeugt. Klar ist, dass wir den Montagabend im kommenden Jahr unterschiedlich gestalten werden. Nur eins bleibt dabei gleich: Er wird sich ausschließlich und ganz intensiv der Information widmen - in vielen verschiedenen Spielarten.
"Wir sind jetzt schon viel weiter, als ich es jemals gedacht hätte."
Lassen Sie uns konkreter werden. Mit welchen Akzenten soll die ARD in den nächsten Monaten auffallen?
Wir müssen weiter Mut haben, Dinge auszuprobieren - auch wenn nicht alles sofort funktioniert. Wir sind jetzt schon viel weiter, als ich es jemals gedacht hätte. Denken Sie nur an "Die Zweiflers", eine Serie, die nicht nur knapp drei Millionen Abrufe in der Mediathek hatte, sondern auch in Cannes und mehrfach mit dem Fernsehpreis ausgezeichnet wurde. Oder denken Sie an "Oderbruch", womit wir einen echten Trend gesetzt haben. Auf einmal gibt es in Deutschland Vampirserien, auch im ZDF,bei Netflix und Joyn. Wir haben mit der Serie elf Millionen Abrufe in der Mediathek generiert und 600.000 Menschen dazu gebracht, sich bei uns zu registrieren, um die Serie schauen zu können. Auch mit "Testo" hatten wir über acht Millionen Abrufe, weit über 50 Prozent davon aus der Zielgruppe 14-49. Damit machen wir ebenso weiter wie mit "Asbest", den "Zweiflers" und "Almania 3". Gerade sind unsere jungen Serien "Made in Germany" und "Schwarze Früchte" gestartet, demnächst folgt unsere Serie "30 Tage Lust". Sie alle bedienen eine Programmfarbe, wie man sie bei uns vor ein paar Jahren noch nicht gesehen hat.
Was ist abseits dieser jungen Serien geplant?
An Weihnachten werden wir "Ronja Räubertochter" zeigen. Das Projekt steht beispielhaft für große, internationale Kooperationen, die wir eingehen müssen, um weiterhin State-of-the-Art erzählen zu können. Das ist großes Kino im Fernsehen und Streaming. Daneben freue ich mich auf "Bach - Eine Weihnachtsgeschichte" mit Devid Striesow und Verena Altenberger schon allein deshalb, weil ich Umsetzung von Musik im Fernsehen immer interessant finde und diese außergewöhnlich ist. Außerdem steht 2025 die fünfte und finale Staffel von "Babylon Berlin" an. Aber wir feiern auch den 60. Geburtstag von Hape Kerkeling und werden unsere "Being"-Dokus weiter ausbauen. Unsere Entwicklung im Dokumentarischen bereitet mir große Freude. Hier wird im nächsten Jahr unser Doku-Drama über den Stammheim-Prozess sicher für Aufsehen sorgen. Und in der Unterhaltung werden wir auch noch spannende Neuigkeiten bereithalten. (schmunzelt)
Wirkt das Tagesprogramm bei all diesen großen Projekten manchmal etwas lästig?
Nein, überhaupt nicht.
Da haben Sie in den vergangenen Wochen und Monaten viel probiert und sind nun doch wieder bei den Telenovelas gelandet. Wurmt Sie das?
Nein, im Gegenteil. Ich freue mich, dass es durch kreative Lösungen im Finanzhaushalt, vor allem auch der Degeto, und durch kluge Verhandlungen mit den Produzentinnen und Produzenten gelungen ist, diese Formate bei uns zu halten, weil sie von vielen Menschen sehr geliebt werden. "Sturm der Liebe" und "Rote Rosen" haben auch in der Mediathek eine treue Fangemeinde. Gleichzeitig entbinden uns die Fortsetzungen aber nicht davon, auch weiterhin neue Programme zu suchen.
Ist durch die Verlängerung der beiden Telenovelas künftig überhaupt noch Budget für den 16-Uhr-Sendeplatz im Ersten vorhanden?
Tatsächlich besitzt dieser Sendeplatz bei der Entwicklung von neuen Formaten derzeit nicht mehr die ganz große Priorität, weil unsere Mittel für das Tagesprogramm endlich sind - auch, um uns im Gegenzug neue Formate für jüngere Zielgruppen leisten zu können. Wir werden aber auch 2025 auf dem 16-Uhr-Sendeplatz Programm ausprobieren.
Frau Strobl, vielen Dank für das Gespräch.