Es ist Sonntagabend. Sie betreten ein Restaurant, das Sie seit Jahren nicht mehr besucht haben. Die Einrichtung? Fast unverändert. Die Speisekarte? Die gleiche wie damals. Der Kellner begrüßt Sie mit routiniertem Lächeln: "Willkommen zurück! Dasselbe wie immer?" Und Sie überlegen: War das wirklich die richtige Entscheidung?
Ungefähr so muss sich das Fernsehpublikum derzeit fühlen, wenn ihm die Privatsender ein altbekanntes TV-Rezept nach dem nächsten auftischen: eine Kelle "Deutschland sucht den Superstar", Nachschlag von "Voice of Germany", und das alles garniert mit einer Neuauflage der "Kochprofis" und "Raue, der Restaurantretter".
Doch während die zuletzt Genannten (manchmal bis zur Verzweiflung) versuchen, angestaubte Restaurants in die Gegenwart zu holen und zu neuem Glanz zu verhelfen, versagt das Fernsehen gleich in zweifacher Hinsicht bei dieser Aufgabe.
Das Comeback als Insolvenzverschleppung
Über viele Jahre waren Castingshows und Restaurantretter-Formate tragende Säulen des privaten TV-Entertainments. Schon seit längerem allerdings geht die Zahl der Gäste zurück: die Quoten sinken, und das, was die Sender zu bieten haben, scheint nur noch eingeschränkt den Geschmack der Massen zu treffen. Auf der Bühne genau wie in der Küche.
Das ist auch deshalb nicht ohne Ironie, weil die Branchen, denen die Formate entstammen (Musikindustrie und Gastronomie), beide im Kern von Kreativität, Innovation und dem Bewusstsein leben, ihre Produkte stetig selbst erneuern zu müssen, um interessant zu bleiben. Bis ins deutsche Fernsehen hat sich das leider nicht herumgesprochen.
Sowohl "DSDS" als auch "TVoG" sind für die Sender zwar immer noch stabile Erfolge, die über viele Wochen ein verlässliches Stammpublikum binden. Von der 20-Prozent-Marke, die in früheren Jahren mühelos gerissen wurde, sind die Formate aber längst Welten entfernt und pendeln sich so langsam bei der Hälfte ein. Dass ein Teil der Fans auf die Streaming-Plattformen ausweicht, um neue Folgen dort anzusehen, ist da nur ein schwacher Trost.
Das von RTLzwei gewünschte "Comeback am Herd" der (personell eindampften) "Kochprofis" geriet derweil angesichts des mauen Zuspruchs eher zur Insolvenzverschleppung; und die Begeisterung, die Kollege Tim Raue als RTL-"Restaurantretter" im Sommer mit seiner zweiten Staffel erntete, war auch eher lauwarm.
64, 81, zweiundneunzigenhalb!
Das liegt nicht daran, dass die Produktionen an Professionalität eingebüßt hätten – im Gegenteil: Nach wie vor werden die Shows ihren (sehr unterschiedlichen) Ansprüchen gerecht, auf die bekannte Art zu unterhalten. Als "DSDS" und "TVoG" am vergangenen Mittwoch erstmals parallel zueinander liefen, tat das keinem von beiden besonders weh, weil die Zielgruppen so unterschiedlich sind. Und die "Kochprofis" lieferten zu ihrer Rückkehr direkt einen hochemotionalen Fall mit störrischem Koch ab, der alle Beteiligten so sehr forderte, wie es das Publikum sonst eigentlich gerne sieht.
Das Problem ist ein anderes: Wie betriebsblind gewordene Problemgastronom:innen sind die Sender in einen Alltagstrott verfallen, in dem mit immer denselben Mitteln immer dieselben Abläufe aufgewärmt werden.
Frische Zutaten und neue Kompositionen sind selten.
Das rächt sich: Der Neugierde-Effekt, auf den RTL mit der Dieter-Bohlen-Rückholaktion zu "DSDS" im vergangenen Jahr setzen konnte, hat sich schon nach einer Staffel wieder erledigt. Neu ist in diesem Jahr bloß, dass die vermeintlichen Talente in wechselnden Kulissen eines großen deutschen Freizeitparks vorsingen, und erstmals keine Altersgrenze für Bewerber:innen mehr existiert: "Ich bin 64 Jahre jung", prahlte der eine. Der nächste: 81! Und schließlich: "zweiundneunzigeinhalb"! Der Rest ist wie immer. Bohlen teilt aus, wenn auch nicht mehr so übel wie früher: "Du hast aber eine komische Stimme", "Das hat mit Musik relativ wenig zu tun", "Du kannst ja noch nichtmal gar nix". Und neben Kumpel Pietro Lombardi sitzen in diesem Jahr zwei Damen in der Jury, die zum Start der Auftaktfolge nicht mal mehr vorgestellt wurden (Beatrice Egli & Loredana, gern geschehen).
Bloß nicht mehr das Stammpublikum irritieren
Bei "The Voice of Germany" sind Samu Haber, Yvonne Catterfeld und Mark Forster sieben Jahre nach ihrem letzten Aufeinandertreffen an gleicher Stelle wieder vereint: "Es ist das Comeback der Legenden – willkommen zuhause!" Alle können noch genauso gut miteinander frotzeln wie früher, während es um gute Stimmen, tolle Charaktere und respektvollen Umgang geht. Kamerakran hoch, Spotlight an!
Bei den einen schmettern Musicaldarsteller Titel aus dem "Phantom der Oper", eine Weingut-Geschäftsführerin aus der Pfalz rockt mit Guano Apes und die Jury umarmt genderfluide Kandidaten auf Identitätssuche; bei den anderen hat die aus "Make Love, Fake Love" bekannte Content Creatorin Angst, dass ihr bei der Performance "die Boobies rausfallen", Heavy-Metal-Fan Hansgeorg singt "Midnight Lady" gar nicht mal so gut und Verwaltungsfachangestellten-Azubine Jasmin aus Kiel überzeugt vor Wasserrutschenhintergrund mit Aylivas "Hässlich".
Dass RTL zwischendurch zum "Songquiz auf der Achterbahn" lädt, und die "Voice"-Coaches sich nunmehr gegenseitig für Talente blocken können, ist der verzweifelte Versuch, für Abwechslung zu sorgen – aber keinesfalls so viel, dass das Stammpublikum irritiert sein könnte.
Echte Erneuerung statt hektischem Nachwürzen
Bei den Restaurantretter-Formaten ist es noch schlimmer: Abgesehen davon, dass inzwischen jeder seine eigene Innenarchitektin mitbringt, um die Atmosphäre des ausgewählten Ladens aufzumöbeln, ist die Grundkonstellation gänzlich variationsfrei: Immerzu ist die Speisekarte zu groß, der Wareneinsatz zu hoch, der Koch zu launisch und die Pilzrahmsoße mit Geschmacksverstärker gepanscht. Mit kleinen, liebevollen Details lässt sich vielleicht in der Gaststube etwas mehr Gemütlichkeit schaffen. Aber fürs Fernsehen reicht das nicht (mehr): Echte Erneuerung innerhalb der Formatkonstellation gibt es keine, bloß hektisches Nachwürzen.
Das könnte auch an der Angst der Sender liegen, sich mit zu weitreichenden Änderungen zu verzetteln. Als "DSDS" mit runderneuerter Jury unter der Leitung von Florian Silbreisen für eine Staffel ernsthafter und seriöser werden wollte, fehlte dem Format plötzlich die Kernkompetenz des Kuriosen; und als "Raue der Restaurantretter" einen Ausflug in die Sterneküche wagte, passte das vielleicht zu den Interessen seines Host – nicht aber zur Bodenständigkeit des Gastroretterformats, das das Publikum schätzt.
Die schlechte Nachricht ist: Es wird trotzdem nicht reichen, das Interesse an den beiden Genres alleine mit oberflächliche Änderungen wieder zu steigern. Um neue Zuschauer:innen zu gewinnen (und alte zurückzuholen), werden die Sendungen unweigerlich Risiken eingehen und von Zeit zu Zeit auch grundlegend Neues wagen müssen.
Fusion-Rettung und "Undercover Auditions"
Und jetzt die gute Nachricht: Es gibt reichlich Möglichkeiten, sich dafür inspirieren zu lassen.
Zum Beispiel von den in der Gastronomie erfolgreichen Fusion-Konzepten, die unterschiedliche Küchen miteinander verbinden: Warum sollten nicht auch mal Restaurantretter und Kochprofis senderübergreifend ihre Kräfte bündelten, um statt einzelner Restaurants ganze Stadtviertel kulinarisch auf Vordermann zu bringen? Das bekannte Makeover-Konzept bliebe erhalten, gleichwohl könnte ein neuer Fokus auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge gelenkt werden.
Und wissen Sie noch, als RTL vor fast zwanzig Jahren den Ehrgeiz hatte, Promis innerhalb kürzester Zeit gemeinsam mit Christian Rach ein Restaurant auf Sterneniveau stemmen zu lassen, bei dem Gäste täglich live aus "Teufels Küche" berichteten, wie weit das Ziel noch entfernt ist? Profis wieder für ein TV-Experiment mit Live-Charakter zusammenzubringen, würde die Stärke des Linearen heute mehr denn je ausspielen.
Die Musikshows könnten derweil mit "Undercover Auditions" glänzen: Juror:innen suchen inkognito an öffentlichen Orten nach Talenten. Wer sie mit einer spontanen Performance überzeugt, bekommt eine Wildcard für die Show. Das gäbe auch Kandidaten eine Chance, die sich vielleicht nie für ein klassisches Casting bewerben würden. Und Dieter Bohlen mal nicht hinterm Jurypult festzutackern, sondern die Geburtstagsfete des nächsten potenziellen "Superstars" sprengen zu lassen, hätte auch was.
Für ein Neues Formatbibel-Testament!
Noch krasser wäre: Anstatt stimmlich problematische Bewerber:innen bei "DSDS" nur zur Belustigung mitzuschleppen, ließe sich mit echtem Ehrgeiz ausprobieren, ob man sie mit separatem Training und Motivation doch über sich hinaus- und in den Wettbewerb hineinwachsen lassen kann – eine Art stimmliches Coming-of-Age-Drama.
All das würde den Formaten neues Leben einhauchen, ohne ihre Grundidee komplett über den Haufen zu werfen – und genau darum muss es gehen: Sich nicht stur an in die Jahre gekommene Formatbibeln zum klammern, sondern das Bewährte so mit Überraschungsmomenten zu verbinden, dass daraus neues Potenzial entsteht: ein Neues TV-Testament!
Ob das Publikum dann wieder mehr Appetit auf die Genre-Klassiker bekommt, ist damit zwar noch lange nicht ausgemacht. Dieses Risiko werden die Verantwortlichen aber wohl oder übel eingehen müssen, wenn sie auf Dauer mehr liefern wollen als fade Entertainmentkost. Nur wer sein Rezept für gutes Fernsehen stetig verfeinert, hat auch in Zukunft ein volles Haus.
Und damit: zurück nach Köln.
RTL zeigt "DSDS" mittwochs und samstags um 20.15 Uhr, "The Voice of Germany" läuft zur selben Zeit donnerstags und freitags bei ProSieben und in Sat.1.