Vergessen Sie True Crime, nieder mit den Castingshows – das deutsche Fernsehen hat ein neues Lieblingsgenre: die politisch-gefühlige Zuhör-Reisereportage! In der geht es ausnahmslos um Themen, die gerade das Land bewegen. Das Land, dem Journalist:innen neuerdings immerzu erst den Herzschlag und dann die Temperatur messen wollen, um festzustellen, in welche Krisen es sich als nächstes hineinfiebert.
Zu Beginn der zurückliegenden Woche hat "Bild"-Vize Paul Ronzheimer sein erstes Reportagestück für Sat.1 vorgelegt, in dem er nun wiederkehrend fragt: "Wie geht's, Deutschland?" Anlässlich der Landtagswahlen in Ostdeutschland hatte zuvor bereits Eva Schulz eine dreiteilige ZDF-Reihe abgeliefert, die zu ergründen versucht: "Deutschland, warum bist du so?" Ebenfalls fürs Zweite sind wechselnde Reporter:innen unterwegs, um zu überprüfen: "Was macht Deutschland richtig Puls?"
Jedes Mal geht's ums Ganze: "die neue Protestkultur" ("wütend, laut, radikal"), darum, "Wie Sachsen zerreißt" oder um den "Rechtsruck im Osten und was er für ganz Deutschland bedeutet."
Und beim Zusehen kriegt man den Eindruck, dass der daueruntersuchte Patient kurz davor steht, endgültig an seiner Multimorbidität zu Grunde zu gehen.
Am Ende bloß Plattitüden
Dabei sind die Reportagen von i&u TV, Drive Beta und Florida Factual nicht nur allesamt sehenswert, sondern auch Ausweis eines ungeheuren Fleißes. Weil sie sich nämlich Zeit nehmen, sehr viele Protagonist:innen mit sehr unterschiedlichen Auffassungen an einer ganzen Reihe von Orten zu Wort kommen zu lassen. Der eigenen Unterschiedlichkeit zum Trotz beschreiben die Reporter:innen dabei nicht nur ähnliche Symptome, sie stolpern auch über dieselben Hürden – und enden allesamt in gutmeinender Ratlosigkeit.
Am Anfang türmt sich aber zunächst ein ganzer Stapel an Fragen auf: "Wofür steht das jetzt, dass wieder mehr Menschen auf die Straße gehen?", will Hayali wissen. "Das politische Klima ist in den letzten Jahren merklich rauher geworden, oder? (…) Wie ist das passiert?", fragt Schulz. Ronzheimer ergänzt: "Wie finden wir wieder zusammen?" Und bietet an: "Ich hinterfrage, möchte verstehen, für Klarheiten sorgen und Lösungen finden – für uns alle." Dann geht's los mit dem dreißig-, fünfundvierzig-, neunzigminütigen Allround-Check, der keine einfache Reportage sein soll, sondern: eine "Reise" durchs Land, hauptsächlich aber die Befindlichkeiten seiner Bevölkerung.
Umso bedauerlicher ist, dass dieser ganze Aufwand am Ende bloß Plattitüden produziert.
Keiner will vor der Kamera reden
"Die Suche nach dem Konsens sollten wir nicht aus den Augen verlieren. Dafür müssen wir im Gespräch bleiben – auch wenn es manchmal wehtut", stellt Hayali fest, nachdem sie mit Landwirt:innen, Lokalpolitiker:innen und Studierenden gesprochen hat. Eva Schulz fasst ihre Eindrücke aus Sachsen zusammen, wo sie AfD-Stadträte, Pfarrer und Demonstrant:innen besucht hat: "Fest steht: Wir müssen reden. Die Frage bleibt: Bis zu welchem Punkt?" Auch Ronzheimer, der den Konflikt mit wütenden Funktionäre:innen und Protestlern nicht scheut (siehe auch DWDL.de-TV-Kritik), bilanziert: "Wir müssen viel mehr miteinander reden und uns ernst nehmen – egal ob im Bundestag oder am Gartenzaun."
Das Kuriose an diesen Plädoyers fürs gemeinsame Gespräch ist: Alle Filme haben zuvor eindrücklich demonstriert, dass das Interesse an einem solchen Austausch oftmals sehr einseitig ist. Und zumindest von denen, die bereits in ihrer Wut auf den Staat, die Regierung, die Flüchtlinge und die Medien festgefahren sind, nicht geteilt wird.
Alle Reporter:innen scheitern – trotz unterschiedlichen Temperamenten und Herangehensweisen – vor laufender Kamera daran, denen zuzuhören, die sich unverstanden fühlen. "Ich sag wie's ist: Ich hab mir auf dieser Demo ohne Ende Absagen eingefangen", erklärt Schulz. "Menschen, die sich am politischen Rand verorten, wollen mit Medien und Journalisten wie uns vom ZDF kaum noch sprechen." (Die, die sich dabei nur nicht filmen lassen wollten, lässt der Film stattdessen bildlos zu Wort kommen – gut gelöst!)
Völlig verloren in der eigenen Blase
Hayali mühte sich vergebens, bei der Demonstration der vom Verfassungsschutz als gesichert extremistisch eingestuften Organisation "Muslim interaktiv" mit Teilnehmenden ins Gespräch zu kommen, nachdem der Veranstalter zuvor bereits erklärt hatte: "Wir empfehlen allen Anwesenden, auf Fragen von Journalisten nicht zu antworten."
Und beim Ersatz-Sommerfest des fast verbotenen "Compact"-Magazins kam Ronzheimer vor lauter Drohungen gegen seine Person – "Ihr kriegt eure Strafe, ihr Medien", "Dann gibt's einen Baum, einen Strick", "Verpiss dich, du hast hier nichts zu suchen" – kaum zu Wort: Miteinander zu reden war da "fast unmöglich", seufzt Ronzheimer einmal. Und später: "Ich hab das Gefühl, dass viele hier in ihrer rechtsextremen Blase völlig verloren sind."
Die Frage ist ohnehin, wie sehr ein um Neutralität bemühter Journalismus dazu verpflichtet ist, immerzu mit denen zu sprechen, die sich längst ganz weit rechtsaußen positioniert haben: dem ehemaligen NPD-Stadtrat, der sich bei den Freien Sachsen engagiert und für öffentliche Auftritte sein verbotenes Wadentattoo abklebt; dem jungen AfD-Lokalpolitiker, der auf Facebook Stimmung gegen alternative Familienbilder macht; dem rechtsextremen Demo-Veranstalter, der im Anschluss ans Interview unverhohlen der gegenüber protestierenden Antifa droht; dem AfD-Spitzenkandidaten aus Gera, der unmissverständlich erklärt: "Ich brauche Sie nicht und ich möchte mich von Ihnen nicht missbrauchen lassen."
Derselbe Gesprächspartner auf demselben Fest
Diese Gesprächsbemühungen mögen getrieben sein von der Hoffnung, dass sich die (Nicht-)Gesprächspartner durch ihr Verhalten und ihre Aussagen selbst entlarven. Allerdings mit dem Kollateralschaden, dass sie dafür bedenklich viel Sendezeit erhalten.
Selbst der – nachvollziehbare und richtige – Impuls, ganz normale Bürger:innen zu befragen, wieso sie sich von den Parolen der Rechten angesprochen fühlen, erschöpft sich bald in Redundanz und Ernüchterung: "Schöne Blumen haben Sie. (…) Und wie blicken Sie auf die AfD?", fragt Ronzheimer durch offene Fenster in Greiz, dem Thüringer Wahlkreis von Björn Höcke. Ein andermal will er wissen: "Was ist passiert, dass es hier so rechts geworden ist?" Dem Ex-SPD-Mitglied, das nun das AfD-Sommerfest plant, versichert er: "Ist ja wichtig, dass man miteinander redet und zuhört." Und spricht auf selbigem nachher ein Ehepaar mit Kind an: "Darf ich Sie kurz fragen: Wir arbeiten für Sat.1, Paul Ronzheimer mein Name. Warum fasziniert Herr Höcke Sie so, dass Sie ein Autogramm wollen?" – "Ich hab schon ein Interview gegeben, weißt du?" – "Aber nicht mir."
Stimmt. Sondern der Kollegin Eva Schulz, die zur selben Zeit für ihren ZDF-Film mit Kamerateam auf demselben Sommerfest unterwegs war und sich von demselben Herrn bereits geduldig einige fadenscheinige Begründungen für seine Wahlentscheidung anhören durfte.
Deutschland, aber vom Tresen aus
Am Ende sind es immer dieselben Reizthemen, die für viele Motivation sind, den "Altparteien" die rote Karte zu zeigen: soziale Ungerechtigkeit und Zuwanderung, "Genderscheiß" und Waffenlieferungen an die Ukraine, ARD-ZDF-Indoktrinationsmythen und die Grünen als gesellschaftliches Grundübel.
Natürlich kann man sich als Reporter:in trotzdem anstrengen, die Leute dort abzuholen, wo sie sind: in der "Kumpelklause", wo Jürgen und Andreas der Eva am Tresen erklären, dass die Jugend hier keine Perspektive mehr sieht; oder im "Reißberg 04", wo der Wirt dem Paul hinterm Zapfhahn sagt, dass der Björn auch schon da war: "An der Theke kommen die Wahrheiten raus." Aber die meisten davon hat man sich irgendwie schon denken können.
Das eigentliche Problem ist: Bei jedem Nachbohren, jeder Bitte um Konkretheit geraten viele Gesprächspartner:innen ins Stottern und Stolpern, viele verallgemeinern, machen dicht, manche leugnen nachprüfbare Fakten, beharren auf ihrer Desinformation. Und zeichnen so das Bild einer Gesellschaft, der die Komplexität der Konflikte unserer Zeit nur noch schwer oder mit sehr großer Anstrengung zu vermitteln ist – falls sie vorher nicht reflexhaft dichtmacht.
Kumpel Klitschko im Ortsgasthof
Im Grunde genommen widerlegen die ehrgeizigen Reportagen den von ihnen geforderten Lösungsansatz so ein Stück weit selbst: Was hilft es, miteinander zu reden, wenn Parolen und Fakten permanent in Konkurrenz zueinander treten?
Dieses Deutschland, dem das Fernsehen ständig den Puls fühlt, ist einfach voller Unversöhnlichkeit und Widersprüche: So wie im sächsischen Waldheim, "auf den ersten Blick superschön und ganz idyllisch", findet Hayali – "aber ganz so entspannt isses hier dann doch nicht", weil Protest auf Gegenprotest trifft. Oder im thüringischen Meiningen, wo Ronzheimer ein "wunderschönes Städtchen – herrlich, paradiesisch" erlebt, in dem aber – ganz genau: Protest auf Gegenprotest trifft.
Klar kann man noch seinen langjährigen Kumpel Wladimir Klitschko in den Ortsgasthof bestellen, damit der den örtlichen Friedensfordernden aus seiner Sicht darlegt, wieso sein Land ohne die Waffenlieferungen des Westens zu existieren aufhören würde, und sich nachher "herzlich für den Austausch bedanken". Aber ob's was geholfen hat? Ich wäre da skeptisch.
Dem journalistischen Urimpuls nachgegeben
Ihre stärksten Momente haben die Deutschland-Fühlreportagen kurioserweise, wenn sie sich eben nicht aufs Zuhören beschränken, sondern dem journalistischen Urimpuls nachgeben: kritische Fragen zu stellen.
Im Interview mit Dunja Hayali ist Palästina-Aktivistin Yasemin Acar sichtlich irritiert davon, als sie erklären soll: "Würden Sie sagen, dass Sie an der ein oder anderen Stelle auch mal übers Ziel hinausgeschossen sind?" Auf ganz andere Art lässt Paul Ronzheimer in Sat.1 nicht locker, um von einem peinlich in die andere Richtung schauenden Björn Höcke zu hören, was der zu dem Urteil des Verfassungsschutzes über ihn sagt ("Herr Höcke, Herr Höcke, Herr Höcke!"), während sich der "Sicherheitsdienst" aggressiv vor ihm aufbaut und der Angesprochene davoneilt (mit den Worten: "Lassen Sie uns in Ruhe hier in Thüringen. Gehen Sie nach Berlin, wo Sie hingehören!")
Das war vielleicht nicht unbedingt mit spitzem Degen gefochten, sondern eher mit der Machete durchgeschlagen – erlaubte Ronzheimer aber die treffende Schlussfolgerung, dass ein AfD-Spitzenpolitiker, der in seiner Rede gerade noch "Hände weg von der Meinungsfreiheit!" forderte, sich derselben nur verpflichtet fühlt, wenn es ihm selbst nutzt. Ronzheimer: "ein Vorgeschmack von dem, was passiert, wenn diese Partei große Macht bekommt."
Bereit für den Therapiebeginn
Die Diagnose scheint eindeutig. Das journalistisch inzwischen gründlich durchgecheckte Land hat erhöhte Temperatur, vielleicht sogar Fieber.
Aber wahrscheinlich reicht's jetzt vorerst mit Reportage-Reisen, die den Status Quo immer wieder aufs Neue ergründen und dokumentieren. Anstatt sich mit dem – zugegebenermaßen noch komplexeren – Sachverhalt zu befassen, was sich konkret dagegen unternehmen ließe. Oder, schon mal in TV-Titelform gegossen: Wie geht's besser, Deutschland?
Und damit: zurück nach Köln.
"Ronzheimer - Wie geht's, Deutschland?" läuft montags um 20.15 Uhr in Sat.1 und bei Joyn; alle drei Reportagen von "Deutschland, warum bist du so?" sind in der ZDF Mediathek zu sehen; dort abrufbar ist auch "Am Puls".