Ohne Zweifel: Dieser Mann ist herausragende TV-Geschichte. Ein Denkmal, wie jeder amtierende Senderchef anerkennen muss. Und wie das nunmal so läuft mit Legenden: Angesichts ihrer Verdienste um die Entwicklung eines ganzen Mediums lässt man ihnen auch mal was durchgehen, für das Branchennoviz:innen vermutlich weggejagt und gevierteilt würden.

Nein, hier ist nicht die Rede vom Kölner Godfather der kompetitiven Unterhaltungsshow, der nächstes Wochenende sein sorgsam geplantes Comeback im TV-Ring zu absolvieren gedenkt.

Sondern von der anderen Bewegtbild-Ikone: dem Mann, dessen kreative Schöpfungskraft dem deutschen Privatfernsehen der 90er Jahre reihenweise Erfolge bescherte, mit denen die Sender provozieren, anecken und aufhorchen lassen konnten, um daraus Einschaltimpulse für Millionen zu fabrizieren. Niemand Geringeres als der Niederländer Johannes Hendrikus Hubert "John" de Mol Jr.

Show-Schöpfungen am laufenden Band

Insbesondere RTL konnte sich einst am laufenden Band bei den de-Mol'schen Formatschöpfungen bedienen, die dieser im heimischen Fernsehen vorexerzierte, um sie dann mit Busladungen an Studiopublikum aus dem nahe gelegenen Köln voor de Duitse televisie nachzustellen und von der niederländischen Medienproduktionsmetropole Hilversum schließlich in alle Welt zu verkaufen.

Markenzeichen der Ideen war es oftmals, bis dahin übliche Grenzen des Mediums auszuloten – und gerade so weit zu übertreten, dass sie durch den dazu gedichteten Minikskandal endgültig zum Must-see-Event wurden.

Menschen, die live im Fernsehen heiraten, das gab es so nur bei de Mols Schwester Linda in der "Traumhochzeit". Bei "Nur die Liebe zählt" assistierte Kai Pflaume verschämten Singles bei der groß inszenierten Spontanakquise von Partner:innen fürs Leben. Als "Glücksritter" mussten sich Kandidat:innen bei Ulla Kock am Brink für den schnöden Mammon bis an den Rand der Erschöpfung verausgaben. Bis "Big Brother" im Jahr 2000 schließlich die Grenzen des im Fernsehen Möglichen neu schockdefinierte – mit tatkräftiger Unterstützung der Mahner:innen aus Politik und Gesellschaft.

Mit "Newtopia" auf Abwegen

Mit "Domino Day" und "Deal or no Deal" erfand de Mol zugleich Klassiker der harmlosen Familienunterhaltung. Bis ihm 2010 mit seiner Firma Talpa (Lateinisch für Maulwurf = niederländisch: "mol") der bislang letzte ganz große Hit gelang: die Neuerfindung der Castingshow mit "The Voice", das bis heute ein Erfolg ist (wenn auch mit nicht mehr im selben Maße wie einst).

Grundlegend falsch lag de Mol in seiner bisherigen Karriere aber auch: Die Siedler:innen-Reality "Utopia" geriet insbesondere wegen des Fiaskos in der deutschsprachigen Variante bei Sat.1 (als "Newtopia") zum totalen Fiasko. Und in knapp zwei Wochen jährt sich zum 20. Mal der Tag, an dem ProSieben es für eine gute Idee hielt, de Mol als niederländischen Donald Trump in einer eigenen Reality-Reihe darüber richten zu lassen, wer in der boomenden TV-Branche "Den besten Job der Welt" bekommen sollte: als de Mols neuer "Creative Director" mit üppigem Salär.

Die Einschaltquoten waren so mies, dass "Hire or Fire" bereits weg vom Bildschirm war, bevor Wettbewerber RTL mit "Big Boss" seine eigene Spielart der "Apprentice"-Idee (mit Reiner Calmund und Roland Tichy) auf den Schirm bringen konnte. (Andere haben das Business-Format-Genre später besser hingekriegt.)

Mastermind der Formatindustrie

Aber selbst diese Flops haben de Mols Ruf keinen nachhaltigen Schaden beizubringen gewusst. Im Gegenteil: Als Mastermind der Formatindustrie ist er nach wie vor hoch angesehen. Obwohl in der vielfach als "Kreativschmiede" gewürdigten Ideenwerkstatt unter seiner Ägide augenscheinlich nicht mehr so wahnsinnig viel geschmiedet, dafür aber umso mehr geleimt wird – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Haltbarkeit der Resultate.

Im Abspann großer Primetime Shows steht noch immer in prominent platzierten Lettern: "Nach einer Idee von John de Mol". Doch was einst eine Art Siegel war, ist heute so manches Mal ein Grund, sich zu wundern. Denn viele der Formatideen scheinen die Lizenzgebühren, die dafür gezahlt werden, kaum noch wert.

Provokation und Grenzüberschreitung liefern die Niederländer:innen schon lange nicht mehr, stattdessen oftmals variationsfreie Harmlosigkeiten, bei denen schon die (englischen) Vermarktungstitel einigermaßen entlarvend sind: Shows wie "The Floor", "The Tribute" und "The Quiz with Balls" beschreiben nahezu vollumfänglich, was die Zuschauer:innen zu erwarten haben.

Kein Twist, nirgends

Alle drei sind mit ihrer – durchaus einleuchtenden – Grundidee auch im deutschen Fernsehen gelandet. Und zwar, obwohl es ihnen an zentralen Elementen fehlt, die Unterhaltungsfernsehen im Jahr 2024 potenziell hitverdächtig machen.

Es gibt kaum Spannungsmomente, keine Überraschungen, fast nie unvorhersehbaren Wendungen – nichts, das sich in all der Schematisierung als Twist deuten ließe. Stattdessen leiert alles vor sich hin, bis irgendwann der Abspann läuft. Das tut niemandem weh. Es verschenkt aber auch ungeheures Potenzial.

Da ist zum Beispiel "The Tribute" in Sat.1, bei dem Moderator Matthias Opdenhövel (der bei seinem aktuellen Arbeitgeber ein John-de-Mol-Abo hat) Bands ansagt, die Titel bekannter Musikgrößen covern: von Robbie William über Bon Jovi und Roxette bis Peter Maffay und Rod Stewart.

In jeder Sendung bewerten eine Jury und das Studiopublikum die Auftritte, am Ende fliegt eine Band raus – und nächstes Mal geht alles von vorne los. Bis drei übrig bleiben, die ein Live-Konzert spielen dürfen, für welches das Publikum echte 45-Euro-Eintrittstickets erwerben soll, um sie Mitte Oktober nochmal in der Ruhr Congresshalle Bochum zu hören.

Nicht schon wieder "Gänsehautentzündung"

Nichts daran ist schlimm, im Gegenteil: Die Jury, in der mit Star-Schlagzeuger Bertram Engel selbst eine Art Legende der deutschen Gegenwartsmusik sitzt, der Kollegen noch vom Sessel aus zu coachen versteht, ist sogar ganz prima gecastet (zur DWDL.de-TV-Kritik).

Aber das lässt sich kaum dem eigentlichen Format anrechnen, das nie die im Studio vorexerzierte Euphorie zu spiegeln versteht. Jeder Titel ist irgendwie "einer meiner Lieblingssongs" oder sorgt für "Gänsehautentzündung bei mir", sagt Opdenhövel, der sich sichtlich anstrengt, für Abwechslung zu sorgen und dafür auch mal ins Publikum stürmt, obwohl sich seine Moderationen auch locker aus dem "Masked Singer"-Archiv KI-generieren ließen.

Die allermeisten Show-Elemente sind so naheliegend wie belanglos: Es gibt einen Green Room, in dem alle Talente der Show gemeinsam auf ihren jeweiligen Aufritt warten; und eine "Stairway to Heaven" getaufte LED-Treppe, auf der die jeweils vergebene Punktzahl visualisiert wird. Im Hintergrund simulieren ein paar virtuelle Ventilatoren den Industrie-Charme einer echten Veranstaltungshalle, obwohl hier alles auf maximale TV-Studiokompatibilität getrimmt ist. Und am Ende hat's dann für irgendwen "leider nicht gereicht" – tschüssi, bis zur nächsten Woche.

Aufwandspauschale fürs Studiositzen

Dabei wäre es ein Leichtes, sämtliche Publikumsvotings erst am Schluss denen der Jury zuzurechnen, um wenigstens für einen minimalen Überraschungsmoment zu sorgen. Aber für soviel Mühe darf man von "The Tribute" leider nicht erwarten.

Und noch einen Unterschied gibt's zu früher: Für die 24-Stunden-Bus-(Tor)Tour von Köln nach Hilversum kriegt das Studiopublikum inzwischen laut Ticketausgabe eine "Aufwandspauschale von 50€ pro Person" überwiesen ("Wir bitten vor Ort um Stillschweigen") und darf für die Rückfahrt "kostenlose Verpflegung (Lunchpaket)" erwarten. Die Branche muss beten, ihrem Publikum nie Mindestlohn zahlen zu müssen.

Auch nur auf den ersten Blick spektakulärer wirkt die von Sat.1 in der ersten Jahreshälfte gezeigte Quizshow "The Floor", in der 100 Kandidat:innen auf einem LED-Boden in Feldern mit ihren Spezialgebieten stehen, in denen sie sich gegen benachbarte Herausforderer:innen durchsetzen müssen, bis ein Gewinner übrig bleibt.

Dafür brauchte es sechs anderthalbstündige Ausgaben und unzählige Miniduelle, zwischen denen (erneut) Matthias Opdenhövel mit einem bildschirmgewordenen Zufallsgenerator plauderte: "Floor, triff deine Wahl!" – damit als nächstes die Bankkauffrau gegen den Bio-Wissenschaftler antreten konnte.

Allein im menschenleeren Studio

Obwohl die Show "The Floor" heißt, passiert das Wesentliche darin – wie bereits kritisiert – außerhalb desselben: am Ratepult davor (zur DWDL.de TV-Kritik). Variationen der Spielsituation gab es bis zum Staffelende exakt: keine. Und zum Finale stand der Gewinner sichtlich geflasht von der ihm in Aussicht gestellten Geldzuwendung als einziger verbliebener Kandidat in einem sonst völlig menschenleeren Studio, dessen goldgefärbter Boden Feuerwerk vortäuschte, während Opdenhövel mit seinem Einzelklatschen einen gruseligen Hall erzeugte und sich mittels Pflichtblick in die Deckenkamera verabschiedete.

Und ich bin unsicher, was ich irrer finde: Dass erfahrene Formatentwickler:innen sowas zulassen können (zumindest in der Sat.1-Variante; in irgendeiner anderen sitzt da Publikum); oder dass ein Sender dafür auch noch Geld zahlt. Egal, die Quoten reichten aus, um eine Fortsetzung zu rechtfertigen.

Anders vermutlich als beim "Quiz with Balls!", in dessen deutscher Variante – "Splash! Das Promi-Pool-Quiz" – zuerst das druffige Wortspiel verloren ging. Und dann die Hoffnung auf abwechslungsreiches Entertainment.

Promis beim Zuwasserlassen

In zwei offensichtlich am Stück weg aufgezeichneten Episoden mussten 40 Mehr-oder-weniger-Prominente gemeinsam Multiple-Choice-Fragen beackern, um bei falsch gegebenen Antworten von riesigen gelben Kugeln in einen Pool geschubst zu werden: Heißt der Zufluss der Fulda in Osthessen wirklich Schlitz?; welche Frauen besingt Louis Bega in "Mambo No. 5"?; wer kennt sich mit den "Giftpflanzen des Jahres" aus?

In superbillig anmutender Fake-Palmen-Atmosphäre, gegen die das Studiodesign von "Tutti Frutti" als hochwertig in Erinnerung bleiben muss, sagte die mit Gummikrokodil werfende Moderatorin Sophia Thomalla in der "1, 2 oder 3?"-Trash-Variante ständig: "Steht er richtig – oder macht er Splash?" Dazwischen konnte man Bruce Darnell, Evelyn Burdecki und diversen Bachelors in Mehrfachzeitlupe beim unfreiwilligen Zuwasserlassen zusehen. Mehr war da nicht (zur DWDL.de-TV-Kritik), aber: "created by John de Mol".

Trotz des vor längerem vereinbarten First-Look-Deals ließ man bei Seven.One zumindest diesen Formatkelch an sich vorüber ziehen, hinein ins Sommerprogramm der damit auch nicht glücklich gewordenen Konkurrenz von RTL.

Der beste Job der Welt

Und natürlich kann das jetzt immer so weiter gehen.

Oder John de Mol lehnt sich angesichts seiner unstrittigen Leistungen fürs internationale Fernsehen mal zurück und genießt seine Milliarden, während die kooperierenden Sender die dadurch frei werdenen Budgets investieren, um eigene Formatschmieden zu bauen, die diesen Titel auch verdienen, junge Talente zu verpflichten und kreative Wagnisse einzugehen, wie sie das Medium heute mehr denn je vertragen könnte.

Denn eins ist ja wohl klar: Beim Showideen-Ausdenken fürs Fernsehen handelt es sich immer noch um "Den besten Job der Welt".

Und damit: zurück nach Köln.

“The Tribute – Die Show der Musiklegenden“ läuft freitags um 20.15 Uhr in Sat.1. Der John-de-Mol-Hit "The Voice of Germany" startet am 26. September bei ProSieben in die 14. Staffel.

Korrektur: "Splash" wurde von Sophia Thomalla moderiert, nicht Laura Wontorra. Entschuldigung! Danke an Jan!