Vor kurzem hat das Bundeskabinett den 28. September 2025 als Datum für die nächste Bundestagswahl vorgeschlagen. Und bevor der Bundespräsident diese Entscheidung finalisiert, sollten wir kurz diskutieren, ob sich den deutschen TV-Sendern im Sinne des Gemeinwohls vielleicht ein vorheriges Sommerinterview-Moratorium abringen ließe.

Damit sich der ganze Politdebattenschlamassel nächstes Jahr nicht schon ab Juni heißzulaufen beginnt.

Nun hat es zweifellos Tradition, Politiker:innen in ausgeruhter Atmosphäre zu Gesprächen zu bitten, während der Bundestag in der Sommerpause weilt. (Beim ZDF rühmt man sich, dass die Interviews "seit über 36 Jahren fester Bestandteil des ZDF-Sommerprogramms" sind.) Und die Ursprungsidee, ohne den Druck des politischen Alltags zu erörtern, was das Land bewegt, ist ja an sich auch keine schlechte. Doch für Ausgeruhtheiten ist in besagtem TV-Brauchtum schon lange kein Platz mehr.

Er hat "Übergangskoalition" gesagt!?!

Anstatt Grundlegendes zu fokussieren oder vernachlässigte Themen besprechen, die in der öffentlichen Diskussion sonst eher eine untergeordnete Rolle spielen, geht es meist doch bloß um aktuelle Aufreger: die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland, künftige Waffenlieferungen an die Ukraine, die Landtagswahlen im Osten, Bürgergeld, Haushaltsstreit und Ampel-Zoff – das politische Alltagsgeschehen kennt keine Sommerpause.

Und die Sommerinterviews, die von einer breiten Zahl an Sendern praktiziert werden, sind nicht nur bereitwillig Transportvehikel der rastlosen Debatten; sie generieren diese teilweise auch aus sich selbst heraus.

Sommerinterviews 2024 © Das Erste, ZDF/Brand New Media Sommerinterviews laufen seit Juni u.a. im Ersten und im ZDF.

Im "Bericht aus Berlin"-Sommerinterview sollte der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour vor einer Woche im Ersten darauf reagieren, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck zuvor angedeutet hatte, angesichts der schwierigen Ampel-Koalition würden bis zum kommenden Jahr womöglich keine allzu schwierigen Großprojekte mehr angepackt. Woraufhin der Interviewte einräumte, er sehe in der Regierung "einen befremdliche Lust an diesem Streit" – möglicherweise handele es sich bei der derzeitigen Konstellation um eine notwendige "Übergangskoalition nach der Ära Merkel".

58 Prozent der Leute finden irgendwas

Damit war Nouripour nicht nur die Hauptrolle im Schlagzeilengeschehen der kommenden Tage sicher. Seine Einlassung diente auch als Vorlage für die Fragen in den "Newstime"-Sommerinterviews von Sat.1 und ProSieben, wo sich Kanzler Olaf Scholz kurz darauf fragen lassen musste: "Macht Sie das zum Übergangskanzler?" Woraufhin es dessen Antwort abends zurück in die 20.15-Uhr-"Tagesschau" schaffte (mit dem an dieser Stelle sehr ungewöhnlichen Halbsatz: "sagte er bei Sat.1").

Der Nutzen dieses Ping-Pong-Politjournalismus ist in vielerlei Hinsicht fraglich: schon aufgrund seiner ungeheuren Umfragenfixiertheit, wegen der sich Gesprächspartner:innen immerzu zu aktuellen Zahlen irgendwelcher Institute verhalten sollen, die sekündlich die aktuelle Stimmung im Land abzufragen scheinen.

"Laut Infratest-dimap sagen 58 Prozent" irgendwas, uiuiui, das kann Ihnen aber nicht gefallen; und nur noch 23 Prozent sehen Olaf Scholz als guten Bundeskanzler. Frage an den anwesenden Geviertelten: "Sind Sie deshalb eine Belastung für Ihre Partei?" Was genau könnte der Kanzler darauf sagen, aus dem sich ein überraschender Erkenntnisgewinn ziehen ließe?

Schuldeingestehen Sie bitte jetzt!

Um letzteren scheint es zahlreichen Interviewer:innen ohnehin nicht mehr zu gehen. Allzu oft werden bloß Fragerituale zelebriert, die auch außerhalb der Sommermonate schon überstrapaziert sind (deswegen aber ja erst recht nicht wiederholt werden müssten).

Immerzu sollen Spitzen-Politiker:innen persönliche Schuldeingeständinsse für schlechte Umfragewerte oder schwindendes Wähler:innenvertrauen ablegen, als sei das Bejahen der journalistische Lackmustest für persönliche Integrität: "Haben Sie da eine persönliche Verantwortung als jetzt am längsten agierender Parteivorsitzender nach Hans-Dietrich Genscher?", will Wulf Schmiese bei "Berlin direkt" von Christian Lindner wissen. Und ein andermal von Saskia Esken: "Was ist Ihre Schuld daran, als Chefin der SPD?"

Viele der Fragen sind schlicht überflüssig. Die einen, weil sie nicht viel mehr als Stichwortgeberei beinhalten – wenn etwa "Newstime"-Hauptstadtstudioleiter Heiko Paluschka dem CDU-Chef Friedrich Merz den Ball verbal vors Tor legt: "Ist die Ampel noch handlungsfähig oder ist die Ampel am Ende?"

Fragen, auf die es keine Antworten gibt

Bei anderen Fragen sollte den Journalist:innen eigentlich von vornherein klar sein, dass sie darauf keine zufriedenstellende Antwort erhalten werden. "Was müsste denn passieren, damit Sie nicht Kanzlerkandidat der Union werden, Herr Merz?", fragt das "Newstime"-Duo. Und, wenn Sie jetzt schon zum wiederholten Male nicht sagen, wer es werden soll, nochmal von hinten durch die Brust ins Auge, wie Markus Preiß beim "Bericht aus Berlin": "Wäre Markus Söder ein guter Bundespräsident?" Angesichts schlechter Umfragewerte in Thüringen konfrontierte ARD-Kollegin Anna Engelke den Grünen-Chef Nouripour: "Wissen Sie jetzt schon was Sie zu dem schlechten Abschneiden Ihrer Partei sagen werden in zwei Wochen?" Verschwendete Zeit.

Noch ärgerlicher ist nur die ausgeprägte Lust am Apokalyptischen, die bisweilen aus der Opposition – wo man das Land für "praktisch nicht mehr regierungsfähig" und kurz vorm "Offenbarungseid” stehend hält (Merz) – auf die Interviewer:innen überschwappt.

Preiß fragt Olaf Scholz im Ersten nach dem schlechten Europawahl-Ergebnis der SPD: "Erleben wir gerade das Ende der Ära Sozialdemokratie?" Beim Esken-Interview verfrachtet Schmiese im ZDF die Thüringer SPD "in die politische Todeszone nahe der 5%-Hürde" und wähnt die Partei in "desaströsen Zeiten". Mit Lindner hatte er sich zuvor einen Schlagabtausch geliefert: "Haushalt steht noch nicht, Ampel ist in schwerer Not, Wirtschaft an der Kippe, FDP auch." – Woraufhin der FDP-Chef entgegnete: "Das ist jetzt Ihre Zusammenfassung, nicht meine!" – "Aber Sie haben nicht wirklich widersprochen." – "Das kann ich jetzt gerne machen."

Ab ins Watt oder aufs Schiff

All das steht in geradezu kuriosem Kontrast zu den Bemühungen vieler Redaktionen, die Interviews in betont lockerer Atmosphäre anzusetzen und dafür raus aus dem Studio zu gehen, in die Sonne. RTL Nord lud den niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil gerade zur kamerabegleiteten Wattwanderung, um ihn dort zu Borkum-Bohrungen und Büro-Affäre zu befragen – vor allem aber, um dazu zu dichten, bei der SPD "herrscht ja umfragemäßig, wie bei uns heute hier, eher Ebbe" bzw. "anders als hier kommt die Flut da ja nicht von alleine".

Der NDR musste wegen angekündigter Gegenproteste kurzfristig davon Abstand nehmen, den Hamburger AfD-Fraktionschef Dirk Nockemann in der Fußgängerzone zu befragen und setzte ihn stattdessen vor einen Feuermelder in Lokstedt, wo man sich in runtergewohnter Mehrzweckraumatmosphäre ein Viertelstündchen gegenseitig ankeifte.

Und nachdem man den Kanzler im Vorjahr noch zum Spree-Ausflug aufs Solarschiff eingeladen hatte, besann man sich bei "Newstime" in Sat.1 in diesem Jahr dann doch darauf, in die Hochhauszugspitze an den Potsdamer Platz zu wechseln, um großstädtische Seriosität zu demonstrieren.

Mit Alice im Wunderwald

Die weitreichendsten Ambitionen für besondere Intervieworte hegt jedoch das ZDF, auch wenn das gewisse Risiken mit sich bringt. Das Lindner-Sommerinterview vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin war insofern praktisch, als dass Schmiese direkt auf die dort gezeigte Ausstellung rekurrieren konnte ("die heißt 'Zerreißprobe'…"), während die unscharf im Hintergrund umherlaufenden Personenschützer damit ausgelastet waren, mit 360-Grad-Blicken mögliche Gefahrenquellen zu erkennen.

Auf der Wartburg bei Eisenach musste das "Berlin direkt"-Team kurzerhand ins historische Gästehaus ziehen, um dort zumindest bei weit geöffneten Fenstern journalistisch tätig zu werden – anderes ließ das unstete Wetter nicht zu. Zuvor hatte Shakuntala Banerjee, künftige Leiterin der ZDF-Hauptredaktion Politik und Zeitgeschehen, ihre Gesprächspartnerin Alice Weidel von der AfD noch am geografischen Mittelpunkt Sachsens empfangen: mitten im Wald, was schon wieder so gaga war, dass man's auch großartig finden kann, wie das friedliche Vogelgezwitscher im Hintergrund die aggressiv dahingebellten Antworten der Gästin konterkarierten.

(Schwer auszuhalten war das Gespräch trotzdem, zuallererst für Banerjee, die mit gut vorbereiten Fragen, faktenbasierten Repliken und bewundernswerter Ruhe die Eskalationsbereitschaft Weidels souverän auszubremsen versuchte: "Es ist auch nicht immer sehr einfach zu verstehen was Sie wollen.")

Die Berliner Ausflugsschifffahrtsindustrie dankt

Das Erste macht sich's einfacher und stellt – wie jedes Jahr – zwei rote Sessel auf einen Podest vors Marie-Elisabeth-Lüders-Haus im Berliner Regierungsviertel, an dem vor Reichstagskulisse ständig Tourist:innendampfer vorbeischippern, was jedes Sommerinterview auch ein bisschen wie einen Werbeblock für die Berliner Ausflugsschifffahrtsindustrie aussehen lässt. (Immerhin musste man sich in diesem Jahr keine Gedanken machen, dass zwischendurch die Kolleg:innen von Sat.1 durchs Bild fahren.)

Omid Nouripour im ARD Sommerinterview 2024 © Screenshot Das Erste Bitte springen Sie einmal über diese Zahl: Omid Nouripour im ARD-Sommerinterview.

Um dennoch Innovation zu demonstrieren, projiziert das Team nun aber schon seit Wochen alles, was nicht niet- und nagelfest ist, auf die daneben gelegene Betonwand (Zitate anderer Politiker:innen, den aktuellen Thüringen-Trend als Balkendiagramm, die monatlichen Durchschnittskosten eines Pflegeheimplatzes im Vergleich zur Durchschnittsrente) und baut aus Umfragen herausdestillierte riesige Zahlen als Hürden davor, um die Gesprächspartner:innen verbal drüberspringen zu lassen.

Den Osten in die Spree gekippt

Immerhin hat die Redaktion im Laufe der Zeit gemerkt, dass es keine so gute Idee war, auch noch die besprochenen Schwerpunktthemen hinter den Interviewten in die Spree zu kippen, weil beim Kanzler-Gespräch prompt ein Ausflugsschiff durch den hinprojizierten "Osten" fuhr.

Und wahrscheinlich wäre es utopisch, zu verlangen, all diese Albernheiten ausgerechnet vor der bereits ihren Schatten vorauswerfenden Bundestagswahl 2025 auszusetzen – aber bitte, bitte, liebe Sender: Tut uns und dem Sommer einen großen Gefallen und fangt damit doch nächstes Jahr einfach zweieinhalb Monate später an.

Und damit: zurück nach Köln.

Das "Bericht aus Berlin"-Sommerinterview mit Markus Söder läuft man diesem Sonntag um 18 Uhr im Ersten; das der Kolleg:innen von "Berlin direkt" im ZDF mit Frank-Walter Steinmeier um 19.10 Uhr (bitte gleich wegen Moratorium fragen).