Das wird, jede Wette, ein seltsamer Sonntag für Markus Preiß: Wenn am frühen Abend die Wahllokale geschlossen haben und die ersten Hochrechnungen zur Europawahl eingetrudelt sind, wird er diesmal keine Reaktionen aus dem EU-Parlament einfangen. Sondern neben dem Berliner Reichstag stehen, wo er schlagartig in den neuen Job katapultiert wird, um die "bundespolitische Relevanz" zu analysieren.
Seit nicht mal einer Woche ist der Fernsehjournalist neuer Leiter des ARD-Hauptstadtstudios, das gerade sein 25-jähriges Bestehen feierte. Im Wechsel mit Matthias Deiß und Anna Engelke moderiert er künftig den "Bericht aus Berlin".
Und es wird interessant zu beobachten sein, wie sehr er sich dabei von seiner bisherigen Perspektive leiten lässt, die er über viele Jahre als Korrespondent und Studioleiter in Brüssel eingenommen hat.
Kompetenter EU-Erklärer
In der vergangenen Woche lief im Ersten seine Dokumentation "Europa, die Wahl und wir", für die Preiß von der französischen Provinz über seine thüringische Heimat bis zu einem litauischen Truppenübungsplatz gereist ist, um die Stimmung der Menschen vor der Wahl einzufangen. Und mit Erschrecken feststellen musste, dass das Europa, das er so zu schätzen gelernt hat, in den Köpfen vieler Menschen immer noch eine eher abstrakte Idee geblieben ist.
So sehr es sich auch begrüßen lässt, wenn Preiß nun Gelegenheit hat, die zuletzt arg angestaubt wirkende ARD-Berichterstattung zur Bundespolitik abzufeudeln und mit kritischer Begeisterung zu durchdringen: Für die Zuschauer:innen ist der Weggang des Radrennsport-Fans aus Brüssel ein großer Verlust. Weil Preiß dort nicht nur (endgültig) zum erklärten Befürworter der Europäischen Union geworden ist. Sondern auch zu einem ihrer kompetentesten Erklärer.
Bekräftigt hat er das mit seinem im Februar erschienenen Buch "Angezählt – Warum ein schwaches Deutschland Europa schadet", das erstmal jedem zu empfehlen ist, der besser verstehen will, wie das Europa funktioniert, über das sonst viele vor allem reflexartig schimpfen: viel interessanter – und nachvollziehbarer – als man gemeinhin annimmt.
Der "Zauber von Brüssel"
Es ist aber auch eine Liebeserklärung an den "Zauber von Brüssel", an "Europas heimliche Hauptstadt", "die total unterschätzt ist" und der Preiß sich trotz seines Abschieds (so wie neulich bei "DAS!") sichtbar verbunden fühlt. Und in der er nicht nur ungeahnte Krisen und dramatische Lösungsversuche aus nächster Nähe erlebt hat, sondern im Laufe der Jahre auch die "politische Gewichtszunahme" der EU.
Preiß erklärt, wie sich in Brüssel unmittelbar auswirkt, was die Mitgliederländer innenpolitisch beschäftigt; wie Kurzzeit-Regierungschefs kaum noch Chancen haben, politisch etwas zu bewegen, weil sie schon wieder abgewählt sind, bevor aus einer Idee eine Verordnung oder Richtlinie wird; wie man nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine plötzlich "in Überschallgeschwindigkeit handlungsfähig" war; und warum die Gemeinschaft, wenn sie zukunftsfähig bleiben will, nicht mehr weiter agieren kann als bestünde sie wie einst aus sechs oder zehn Mitgliedern (die sich auch noch alle an ihrem Vetorecht festklammern).
Vor allem aber nutzt Preiß diese Hintergründe, um die veränderte Rolle Deutschlands innerhalb der EU einzuordnen: Von der Zurückhaltung in den Wendejahren über Gerhard Schröders Ellbogeneinsatz und Angela Merkels "Dealmaker"-Politik bis hin zu Olaf Scholz, dessen ungelenkes Agieren in Brüssel wiederholt Thema ist.
Deutschland durch die Brille der anderen
Scholz kenne Zusammenhänge und Details, sei aber "Botschafter der verstaubtesten Klischees, die man in der EU über Deutsche hat: steif, verkniffen, humorlos"; er handele "eigensinnig" und treffe Entscheidungen, die andere EU-Partner vor den Kopf stießen: "Der Kanzler ist kein guter Kommunikator", schreibt Preiß. In den Medien sei er omnipräsent, führe Interviews aber oft "als Abwehrkampf", ohne hinreichend zu erklären, was er vorhat – obwohl genau das gerade von Bedeutung wäre.
Es lässt sich also annehmen, dass Preiß in zwei Wochen gleich der nächste seltsame Sonntag bevorsteht, wenn er bei seinem ersten "Sommerinterview" direkt auf den Kanzler trifft, um ihm all das zu entlocken, was der sonst bloß verschmitzt wegzugrinsen versucht – oder ob der (von ihm so betitelte) "seltsame Herr Scholz" auch den neuen Hauptstadtstudio-Chef abblitzen lässt.
Eine dessen größter Stärken (Preiß, nicht Scholz) ist zweifellos, das Handeln Deutschlands durch die Brille anderer europäischer Akteure zu betrachten – und daraus ungeschönt abzuleiten, wie sich Wahrnehmung und Stellenwert des Landes innerhalb der Gemeinschaft verschieben.
Heruntergespart und zerstritten
Es ist kein angenehmes Zeugnis, das Preiß seinem Heimatland in "Angezählt" ausstellt, im Gegenteil: "Deutschland, das habe ich selbst auf vielen Reisen in der EU erlebt, ist bei Weitem nicht mehr das moderne Land, für das wir es oft halten."
Viele Partner sehen, dass die in Europa schon wegen ihrer geografischen Lage eigentlich "unverzichtbare Nation" wohl auf längere Zeit "mit sich selbst beschäftigt" sei, nachdem das Handeln Russlands die Illusionen der Vergangenheit endgültig zunichte gemacht habe und wegen der Energiekrise kurzzeitig das gesamte Wirtschaftsmodell in Frage stand. Deutschland werde sich "in manchen Bereichen radikal neu ausrichten" müssen, glaubt Preiß: militärisch, um die "heruntergesparte" Bundeswehr zu stärken, die "wie ein Monument jahrzehntelanger Fehleinschätzungen" wirke; aber auch was ihr Rollenverständnis innerhalb der EU angeht, in der registriert würde, wie man bei Innovationsthemen stets zaudere und sich stattdessen über die Ausstattung seiner Heizungskeller "hässlich zerstreitet" (was auch Preiß "erschreckend" fand).
Die Ampel-Regierung kommt bei dieser Analyse nicht gut weg, obwohl Preiß ihr zugesteht, mit ungeheuren innenpolitischen Herausforderungen konfrontiert (gewesen) zu sein. (Und dabei manchmal mit zweierlei Maß misst: Wenn die Bundeswehr einen eigenen Rucksack entwirft, ist das lachhaft – aber bei der Neuanschaffung von benötigten F35-Kampfflugzeugen aus den USA steht der von Preiß eingeforderte Pragmatismus der europäischen Eigenständigkeit im Weg, weil Frankreich sauer ist.)
Eine Verpflichtung für die Zukunft
"Unser Land steht im Blickpunkt: nicht mehr wegen der deutschen Stärke, sondern wegen der aktuellen deutschen Schwäche", schreibt er – und fordert: Aufbruch, neue Ideen, weniger Zögern.
Was sich davon umsetzen lässt, kann er bei seiner neuen Aufgabe im Berliner Regierungsviertel, das ihm im Vergleich zur "eher bescheidenen Machtfassade" Brüssels überdimensioniert vorkommt, künftig aus allererster Hand berichten und einordnen. Mal sehen, ob ihm die zuletzt exponiert geäußerte Meinung dabei als hilfreiches Hintergrundwissen ausgelegt wird – oder eher als mangelnde Neutralität.
Eigentlich aber müsste sich spätestens aus Preiß' Gesprächen für seine WDR-Europa-Dokumentation auch im Nachgang des bisherigen Jobs eine weitere Verpflichtung ableiten; die nämlich, Europa für zahlreiche Bürger:innen noch sehr viel greifbarer zu machen als es dem Journalismus bisher offensichtlich gelungen ist, und die Bedeutung Brüssels noch lebensnaher zu erklären.
Das reicht so nicht
Mit einem sonntags zur Mittagessenszeit gesendeten "Europamagazin" (dessen Titel schon als Ausschaltempfehlung dient) scheint es bislang ja offensichtlich nicht ausreichend gelungen zu sein, innereuropäische Diskussionen so zu spiegeln, dass eine über den "Presseclub" hinaus interessierte Zuseher:innenschaft davon in ihrem Alltag Notiz nehmen würde.
Oder, anders gefragt: Wenn Europa von so zentraler Bedeutung ist, warum sieht man das dem Programm des Ersten nicht auch außerhalb von Wahlzeiten viel stärker an? Zum Beispiel mit einer ans breite Publikum gerichteten regelmäßigen Sendung "Europa und wir" zur Hauptsendezeit?
Und warum gibt es darüber hinaus nicht (wenigstens in der Mediathek) längst ein Magazin "Die Korrespondent:innen", in dem eben jene den Raum und die Zeit hätten, die Hintergründe ihrer Arbeit zu erklären – so wie Preiß das in seinem Buch macht, wenn er Bedeutung und Regeln von Hintergrundgesprächen ("deep backgrounds") schildert, den schwierigen Vertrauensaufbau zu Informant:innen und Quellen, um "einen tieferen Einblick" in Themen zu erhalten, und über Annalena Baerbocks gefaltete Zettel, auf die sie in Interviews schielt und dann unsicher wirkt, "weil sie besonders sicher wirken will", während sie sonst "frei, engagiert, oft witzig, selbstironisch" spreche.
Im Alltag des Polit- und Medienbetriebs
Es sind auch diese Einblicke in den Alltag des Polit- und Medienbetriebs, die helfen, Brüssel und die EU anschaulicher werden zu lassen.
Ebenso wie die (fast zu selten eingestreuten) besonderen Momente: wie Preiß beim Pastakochen vom möglichen Einfrieren russischer Gelder unter Einbeziehung der Zentralbanken erfährt – und beim anschließenden Live-Bericht "die Halsschlagader unter meinem Hemdkragen pochen" spürte; wie das Kamerateam nach monatelanger Vorbereitung zum Dreh hinter die Kulissen – "Leaders only" – gelassen wurde; oder wie zu Beginn der Corona-Krise plötzlich selbst strengstens eingehaltene "Tagesschau"-Zeitvorgaben weggewischt waren.
Preiß' Buch-Fazit ist klar: Um die Reform der EU gelingen zu lassen, müsse Deutschland nach seiner notwendigen "Generalüberholung" mehr "Kampfgeist" für Europa entwickeln, sich stärker in die Gestaltung der Gemeinschaft einbringen – und signalisieren, dafür notfalls auch Zugeständnisse zu machen.
(Vieles davon ließe sich auch nahtlos auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk übertragen, der sich derzeit in einer vergleichbar dramatischen Umbruchphase befindet.)
Vorsicht, Ablenkung!
"Jetzt ist die Einsatzbereitschaft all jener gefragt, die an Europas Bedeutung glauben, aber müde geworden sind, für seine Weiterentwicklung zu streiten", schreibt Preiß. Man kann nur hoffen, dass sich das auch von der Berliner Wilhelmstraße aus noch umsetzen lässt, sobald der nächste Koalitionskrach, die nächste Minister:innenrochade und die nächsten Landtagswahlergebnisse nachhaltig davon abzulenken drohen.
Und damit: zurück nach Köln. Genießen Sie den Sommer.
"Angezählt – Warum ein schwaches Deutschland Europa schadet" ist als Taschenbuch bei dtv erschienen; "Europa, die Wahl und wir" lässt sich in der ARD Mediathek abrufen; das Erste berichtet am heutigen Sonntag ab 17.30 Uhr über die Ergebnisse der Europawahl.