Wer die Führungskräfte von Deutschlands meistdiskutiertem Senderverbund derzeit fragt, wie sehr die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Landesrundfunkanstalten in Deutschland reformtechnisch on fire ist, der sieht die Angesprochenen unmittelbar ins Schwärmen verfallen: über so genannte "Kompetenzcenter", an denen die Anstalten fleißig werkeln, und Baukästen, aus denen sich bald jedes Dritte rausnehmen kann, was es möchte, um damit ein solides Rahmen-Regionalprogramm zu zaubern.
Los geht's mit den Themen "Klima", "Verbraucher" und "Gesundheit", für die künftig ein bis drei Sender federführend Inhalte produzieren, die von allen Sendern genutzt werden – und verhindern sollen, dass innerhalb der ARD zuviel vom Gleichen produziert wird. Oder wie's der ARD-Vorsitzende, SWR-Intendant Kai Gniffke, anno 2023 in Bezug auf Gesundheitsmagazine im Fernsehen sagenhaft einprägsam formuliert hat: "Ist Arthrose in Bautzen nicht genauso unangenehm wie in Bitburg?"
50 Millionen Euro sollen in den kommenden Jahren durch diese "Pool-Lösungen" gespart, Pardon: umgeschichtet werden, damit Gelder für Mediatheken-Inhalte frei werden.
Die "RBB Praxis" hat geschlossen
Wie das alles konkret aussehen und funktionieren wird, ist öffentlich noch nicht kommuniziert; der für Gesundheit zuständige NDR hat aber schon mal seinen YouTube-Kanal in "ARD Gesund" umbenannt.
Und praktischerweise lässt sich eine mögliche Exekution des Baukasten-Prinzips auch schon im laufenden Programm begutachten: beim RBB, dem unter notorischer Gebührenklammheit leidenden TV-Versuchskaninchen, das sich angesichts üppiger Fehlbeträge im Budget schon deutlich früher als manch andere ARD-Anstalt dazu gezwungen sah, kreativ zu werden, um das eigene Programm aufrecht zu erhalten.
Aus Spargründen werden Sendungen nicht nur ans Radio übertragen, um sie ohne den bisherigen Aufwand noch mal fürs lineare Fernsehen abzufilmen; der RBB probiert auch, wie sich Formate nahezu vollständig aus bereits existierenden ARD-Inhalten zusammenbauen lassen.
Dafür wurde im Dezember nach 13 Jahren das Gesundheitsmagazin "RBB Praxis" eingestellt. Moderator Raiko Thal bedankte sich bei seinen Zuschauer:innen "für Ihre Aufmerksamkeit und die jahrelange Treue", verabschiedete die Physiotherapeutin, die ihm über viele Ausgaben als Studioansprechparternin zur Seite saß, und sagte ein letztes mal seinen Signature-Satz: "Es gibt viele Krankheiten. Aber nur eine Gesundheit. In diesem Sinne: Machen Sie's gut."
Noch ein Viertelstündchen Zeit
Im Januar startete auf dem neuen Sendeplatz am Montagabend der Nachfolger "RBB Gesund+", für den es nun kein eigenes Studio mehr gibt: Statt Einzelbeiträgen laufen meist halbstündige Reportagen, denen das Sendungslogo vorgeklappt wird, ohne dass sie sonst nochmal angefasst werden müssten. Der RBB steuert zwar auch eigene Inhalte bei – aber die scheinen, so wie die klassische (und sehenswerte) Doku "Ein Herz für Franziska", die eine Berlinerin begleitet, die ein neues Herz erhalten hat, eher die Ausnahme zu sein.
Weil nachher meist noch ein Viertelstündchen Zeit bis zu den Regionalnachrichten ist, meldet sich Raiko Thal aus einem Berliner Krankenhaus oder einer Greenscreen-Kulisse, um noch ein Bonus-Interview zu führen oder zum Schwerpunktthema passende Inhalte aus der ARD Mediathek anzukündigen.
Das ist in der Realität noch ein bisschen trauriger als es sich anhört.
Anfang März entführte "RBB Gesund+" sein Publikum in die hessische Reha-Klinik Wetterau, wo der HR-Reporter Danijel Stanic per Entwöhnungskurs ausprobierte, wie leicht (oder schwer) es ist, nach 21 Jahren mit dem Rauchen aufzuhören. Die 30-Minuten-Reportage aus der Reihe "7 Tage" war Mitte Januar zuerst im HR Fernsehen (und als "Hessenschau"-Bericht) gelaufen, und in der RBB-Variante meldete sich Raiko Thal nachher, um dem Kollegen "wirklich von ganzem Herzen" zu wünschen, "dass er's schafft" und auf den neben ihm eingeblendeten QR-Code ("Sozusagen mein Co-Moderator") zu deuten, dessen Link nochmal zu der Reportage führte, die gerade schon gelaufen war.
Unbedingt mal reinschauen!
"Wo durfte nicht überall geraucht werden?", leitete Thal anschließend über. "Und es gab Wettbewerbe im Viel- und Schönrauchen. Einen davon hab ich im Archiv der 'Abendschau' gefunden" – woraufhin ein Ausschnitt aus einem über 70 Jahre alten Beitrag zum Großen Preis im Ringelrauchen lief, bei dem ein Teilnehmer "dank der trainierten Lunge die Kontrahenten zu Boden geraucht" hatte, was für ein Spaß!
"Wenn Sie noch tiefer in die Vergangenheit unserer Region eintauchen wollen, dann empfehle ich Ihnen 'RBB Retro' in der Mediathek – da können Sie sich halsbrecherische Stürze am Berliner Teufelsberg ansehen. (…) Unbedingt mal reinschauen", bilanzierte der Max Headroom des RBB-Baukastenfernsehens – und nahm einen Zug aus einer Erdbeer-E-Zigarette, weil das so gut zum anschließend gezeigten "NDR Markt"-Beitrag "Vapes: Bedenklicher Hype" passte, der sich seinerseits bereits aus einer längeren Reportage des ARD-Gesund-Youtube-Kanals aus der Reihe "Dürfen die das?" gespeist hatte.
Es folgte noch ein Ausschnitt aus dem dem Selbstversuch eines BR-Puls-Reporters zum Thema "Was machen Einweg-Vapes mit mir und der Umwelt?" – dann war Thal endlich erlöst und durfte an sich selbst im "RBB24 - Der Tag"-Studio überleiten.
Ein Schuss Funk, eine Prise "Doc Fischer"
Zwei Wochen zuvor hatte "RBB Gesund+" sein Publikum zum Thema "Guter Schlaf – Schlechter Schlaf" noch in lockerer Duz-Atmosphöre und mit der Stimme von Nora Tschirner empfangen: "Stellt euch vor, ihr geht am Abend erst sehr spät ins Bett und seid dann am frühen Morgen trotzdem total ausgeschlafen." Die 2021 erstmals gesendete Ausgabe des Arte-Wissensformats "42 – die Antwort auf fast alles" klärte auf unterhaltsame Weise die Leitfrage "Können wir länger wach bleiben?"; und dafür war's natürlich auch egal, dass sich im RBB nicht mal mehr jemand die Mühe gemacht hatte, den zweisprachigen Original-Arte-Vorspann – "La Réponse à presque tout" – rauszuschneiden.
Nach dem ebenfalls in Gänze gezeigten Arte-Abspann tauchte wieder Thal auf, um einer Berliner Schlafmedizinerin auch noch ein paar Fragen zum Thema Schlaf zu stellen – unterbrochen von weiteren Hinweisen auf passende Beiträge aus der ARD Mediathek wie den des BR-Puls-Reporters, der Anti-Schnarchmittel aus dem Internet testet ("Du schnarchst wie Sau"): "Den ganzen Film finden Sie im YouTube-Kanal 'Puls Reportage' von Funk."
Nachher zappte Thal noch eilig in die kritische SWR-"Doc Fischer"-Ausgabe zum Thema "Akupressur-Matten: wirksame Hilfe bei…" rein – deren vollständiger Titel leider nicht ins Greenscreen-Vorschau-Fenster zwischen Thal und seinen QR-Co(de)-Moderator passte.
Bonus-Interview auf dem Krankenhausflur
Zum Schluss: noch eine Prise WDR-"Haushaltscheck mit Yvonne Willicks", die Matratzentopper testet, was bei "RBB Gesund+" einfach mittendrin im Beitrag mit dem Satz losgeht: "Der dritte Topper im Test ist mit 380 Euro deutlich teurer." Thals Fazit seiner Film-Empfehlung: "Da erfahren Sie wirklich alles, was Sie wissen müssen, um den richtigen Topper für sich zu finden – sofern Sie überhaupt einen brauchen."
Das war natürlich eine willkommene Leichtigkeit, nachdem "RBB Gesund+" eine Woche zuvor mit einem kritischen Recherchestück zu den Tücken des türkischen Medizintourismus überrascht hatte, der auch eine zunehmende Zahl von Deutschen zu OPs ins Ausland lockt – ursprünglich in Auftrag gegeben für die BR-Reihe "Mehr/wert", deren Logo noch in den eingeblendeten Grafiken stand, und bei "RBB Gesund+" abschlusskomentiert mit dem Satz: "Ja, ist schon heftig, was alles passieren kann, wenn plastische Chirurgen ihr Handwerk nicht beherrschen."
Und damit: Herzlich willkommen im Martin-Luther-Krankenhaus in Berlin-Schmargendorf, wo Thal noch ein eigenes Interview mit einem seriösen Chirurgen führen durfte! Auf dem Krankenhausflur vor der Treppenhaustür.
Moderationskärtchen aus dem OP-Kittel
Und lediglich unterbrochen von Ausschnitten bzw. Hinweisen auf das HR-Format "Engel fragt" zum Thema "Selbstoptimierung – Bin ich gut so wie ich bin?" von 2022, einen vom RBB für ARD Gesund auf YouTube selbstproduzierten Beitrag zum Thema Geschlechtsangleichung und den von Funk in der Reihe "Reporter" produzierten Film "Detransitition – für sie war die Geschlechtsangleichung der falsche Weg", für den Thal noch schnell ein großes Moderationskärtchen aus dem OP-Kittel ziehen musste. "Das war's von hier für heute."
Und ich weiß ja nicht so genau, wie's Ihnen beim Zusehen damit geht, aber: Auf mich wirkt diese Attrappe eines Gesundheitsmagazins, die sieben Tage nach ihrer linearen Ausstrahlung wieder aus der Mediathek depubliziert wird, sehr viel mehr nach Baustelle als nach Baukasten – zusammengeschustert aus Einzelteilen in Frankensteins Kompetenzcenter.
Natürlich veranschaulicht "RBB Gesund+" mit seinem Prinzip zuallererst einmal den enormen Output, der innerhalb der ARD zu bestimmten Themen produziert wird und sich bündeln lässt.
Es ist auch durchaus begrüßenswert, dass gute, teilweise ja verhältnismäßig zeitlose Inhalte – wie z.B. die genannte Arte-Produktion – durch zusätzliche Sendeplätze eine breitere Aufmerksamkeit im Linearen erhalten.
Sehr uneinheitliche Ansprache
Gleichzeitig dürfte der RBB aber durch die sehr uneinheitliche Ansprache und die verschiedenen Tonalitäten, die "RBB Gesund+" seinem Publikum zumutet, nur wenige der früheren Stammzuseher:innen von "RBB Praxis" für sich begeistern können. Denn dem Format fehlt etwas, das im Linearen vielerorts immer noch ein entscheidender Einschaltimpuls ist: Erwartbarkeit.
Und die ist halt hinüber, wenn man ein Gefäß hat, in das Inhalte hineingefüllt werden, die zwar alle ein ähnliches Oberthema haben – aber ursprünglich für ganz unterschiedliche Zielgruppen produziert wurden.
Oder, anders gesagt: An Gesundheitsthemen interessierte RBB-Zuseher:innen, die im vergangenen Jahr bei "RBB Praxis" noch mit Beiträgen zu Fructose-Intoleranz, der "idealen Morgenroutine" und der Wirksamkeit von Misteln entlassen wurden, werden sich vermutlich erstmal länger daran gewöhnen müssen, im Nachfolgeformat damit überrascht zu werden, dass die für Funk arbeitende "Y Kollektiv"-Redaktion per Gorillamaske anonymisierte Protagonist:innen berichten lässt, ob "Drogen gegen Depressionen" helfen ("RBB Gesund+" am 15. April), oder unvermittelt mit dem Teaser starten: "Jung sein und keinen hochkriegen. Für Männer in ihren besten Jahren der absolute Horror" ("RBB Gesund+" am 22. Januar).
Die Kluft zwischen Baden-Baden und Bad Liebenwerda
Die Sendung ist der – aus RBB-Sicht – nachvollziehbare Versuch, ob sich ein regelmäßiges Format fürs lineare Programm stemmen lässt, das selbst kein Budget mehr haben darf.
Und sie ist gleichzeitig Beleg dafür, wie schnell die ARD-Vision vom Baukastensystem an ihre Grenzen stößt, wenn dabei Klötzchen zusammengeschmissen werden, die nicht so recht zusammen passen, und Moderatoren zu Clip-Ansagern degradiert werden anstatt ihrem linearen Publikum verlässlicher Ansprechpartner sein zu dürfen.
Natürlich hat der ARD-Vorsitzende Recht, wenn er vermutet, dass Arthrose überall in Deutschland gleich unangenehm ist – aber was glaubt Gniffke wohl, wie groß die Toleranz des Brandenburgischen Regionalsenderpublikums sein wird, sich sowas künftig von hessisch babbelnden Leidensgenoss:innen illustrieren zu lassen? Ganz abgesehen davon, dass sich gerade beim Thema ortsnahe Gesundheitsversorgung die Probleme (und deren Wahrnehmung) zwischen Baden-Baden und Bad Liebenwerda doch ganz erheblich unterscheiden könnten.
Ich nehme mal an, dass die ARD solche Feinheiten bei der Konstruktion ihrer Kompetenzcenter sehr genau bedenkt und berücksichtigt – weil die Dritten mit ihrer Pool-Lösung sonst nämlich ziemlich schnell baden gehen.
Und damit: zurück nach Köln.
"RBB Gesund+" läuft montags ab 21 Uhr im RBB Fernsehen und ist anschließend für sieben Tage in der ARD Mediathek abrufbar.