Aus dem Programm, von dem man nicht nur schlauer, sondern auch gut unterhalten wird, wissen aufmerksame Zuschauer:innen: Kipppunkte sind so genannte High-Impact-Events, bei denen kleine Veränderungen eine Eigendynamik entwickeln, die sich so lange selbst verstärkt, bis ein neuer Zustand entsteht, der dann in der Regel irreversibel ist, also: unumkehrbar.

Im Bühnen- und Kulissenbau des deutschen Fernsehens scheint genau das gerade passiert zu sein.

Schon lange bevor beim diesjährigen Eurovision Song Contest in Malmö eine kreuzförmige Bühne mit beweglichen LED-Würfeln und -böden für ein 360-Grad-Seherlebnis sorgen soll, ist die Screen-Begeisterung vieler Fernsehschaffender auf ihrem vorläufigen Höhepunkt angekommen: Eine zunehmende Zahl von Unterhaltungsshows besteht fast nur noch aus Bildschirmflächen.

Mein Kumpel, der Floor

"Wenn 100 Menschen auf 100 Wissensfeldern um 100.000 Euro quizzen, dann sind sie bei 'The Floor'!", grüßte Matthias Opdenhövel gerade aus seiner neuen Sat.1-Quizshow heraus, bei der sich Teilnehmende in sechs "spektakulären Quiz-Wochen" gegenseitig die Felder wegnehmen müssen, auf denen sie zuvor auf einem riesigen LED-Boden positioniert wurden, während sich der Moderator mit selbigem unterhält: "Bitte, Floor, triff deine Entscheidung!", nämlich: welche Kandidat:innen als nächstes dran sind.

Die Auserwählten kriegen anschließend die Spezialgebiete der um sie herum positionierten Kontrahent:innen angezeigt, welche es in 45-Sekunden-Duellen zu besiegen gilt: Natalia ("Eventspezialistin, steht auf Graffiti") spielt gegen Claudia ("Sprecherin, springt aus Flugzeugen"), und dann: Game Designer gegen Bürokauffrau gegen Fachinformatiker, Schriftsteller gegen Schmerztherapeut, BWL-Student gegen Justizvollzugsbeamter und Journalistin gegen Hausfrau gegen Souschef gegen Einrichtungsleiterin (hier geht's zur DWDL.de-TV-Kritik).

Dass diese Duelle allesamt außerhalb des "Floors" ausgetragen werden, ist schon ein Hinweis darauf, wie aufgesetzt die prominente Hervorhebung der riesigen LED-Fläche eigentlich ist – noch dazu, weil sie für wenig anderes gebraucht wird, als in regelmäßigen Abständen die erspielten Feldgewinne zu visualisieren.

Dazu läuft ein völlig unterforderter Matthias Opdenhövel ständig von der Seite wieder ins Bild, um Verlierer:innen mit unsinnigem Trost zu verabschieden ("Du bist hier oben und die alle nicht!") sowie zum Schluss überschwänglich den läppischen Tagessieg von 5.000 Euro zu feiern.

Screengewordene Lavalampe auf Speed

Es ist schon der zweite Versuch der niederländischen Formatentwicklungsmühle Talpa, das Sat.1-Publikum mit animiertem Studiomobiliar zum Dranbleiben zu motivieren – der erste war "5 Gold Rings" und wurde von Steven Gätjen moderiert, bei dem es bis anno 2021 hieß: "Guten Abend in Sat.1 mit '5 Gold Rings' und dem schönsten und größten LED-Boden Deutschlands, der zur interaktiven Spielfläche wird."

Das war tatsächlich schon deutlich origineller, weil die Kandidat:innenpaare die richtigen Antworten auf gestellte Fragen mit einem goldenen Ring auf dem aus der Vogelperspektive gezeigten Boden legen mussten, um Punkte zu erhalten. Half aber auch nix: Nach zwei Staffeln landete der Quiz-Ring in den lodernden Flammen des Schicksalbergs deutscher TV-Formatflops.

Immerhin blieb Gätjen verschont und darf mitsamt dem Boden als integralem Showbestandteil beim Schwestersender weitermachen, wo beide seit einiger Zeit in "Joko & Klaas gegen ProSieben" eine deutlich bessere Figur abgeben.

Joko & Klaas gegen ProSieben © ProSieben/Nadine Rupp "Joko & Klaas gegen ProSieben": Schauen Sie nicht auf die beiden Herren, der Boden ist der Star!

Das liegt vor allem daran, dass die noch viel größere LED-Fläche dort immer wieder mit neuen Ideen bespielt wird. Schon im Intro rauschen Lichtgewitter, ProSieben-Raumschifflogo und pulsierende Farbanimationen über die screengewordene Lavalampe auf Speed. In den Spielen wird der Boden dann regelmäßig zur Feldermarkierung, als Metermaß oder riesiger Timer eingesetzt und leuchtet knallrot auf, wenn die Namensgeber der Show wieder irgendwas fallen lassen, das sie eigentlich hätten auffangen sollen: Mööp!

Wissenschafts-Entertainment mit Showtapete

Das ist oftmals ein Freude des animierten Detailreichtums; aber, wenn man's sehr viel nüchterner sehen will, halt auch: eine riesige Energieverschwendung.

Niemand kann das schöner erklären als die Kolleg:innen von "MaiThink X – Die Show". Denn seit ihrem Start vor zwei Jahren verfügt die Speerspitze des deutschen Wissenschafts-Entertainments bekanntermaßen selbst über eine (für ihre Studioverhältnisse) riesige LED-Showtapete in Riesenblasenpflasterform. Um z.B. – wie in der vergangenen Woche – komplexe Erklärungen von Klima-Kipppunkten zu illustrieren, lassen sich darauf der steigende Meeresspiegel, die Atlantische Umwälzströmung (AMOC), der Temperaturunterschied von Mainz und Winnipeg auf demselben Breitengrad, Grafiken aus dem "Global Tipping Point Report 2023" im Schnelldurchlauf und umkippender Fleischsalat visualisieren. So entsteht nicht nur die heißeste Powerpoint-Alternativpräsentation der deutschen Bewegtbild-Digitalsparte; sondern auch: ein echtes Problem.

MaiThink X - Die Show © ZDF / Ben Knabe Showtapete in Riesenblasenpflasterform: "MaiThink X - Die Show" bei ZDFneo.

Zumindest für die verpflichtende CO2-Bilanz, zu der sich die Produktion verpflichtet hat, um das "Green Motion" -Label für ihre Sendung zu erhalten. Mit dieser dürfen sich Formate und Produktionsfirmen schmücken, die sich bei ihrer Arbeit an vorgegebene ökologische Mindeststandards halten (z.B. keine Inlandsflüge, Ökostrom, Bio-Catering, Erstellung einer CO2-Bilanz).

Unser größter Stromfresser

Als sich "MaiThink X" im vergangenen Jahr dem "Greenwashing" von Unternehmen widmete, hinerfragte man erfreulicherweise auch die eigene Klima-Initiative kritisch – wenn auch nur per Umweg über den Instagram-Account. Dort räumte Wissenschaftsredakteur Dr. Jens Foel in seiner Rubrik "Jens kennt's – Analysis J" ein, dass man das der Produktion zur Verfügung stehende CO2-Budget zuletzt überschritten habe: "Unsere LED-Wall ist trotz der LED-Lämpchen unser größter Stromfresser. Darüber haben wir uns damals schlichtweg nicht ausreichend Gedanken gemacht. (…) Aber immerhin betreiben wir sie inzwischen fast ausschließlich mit unserem eigenen Solarstrom."

In der aktuellen "MaiThink X"-Staffel ist das "Green Motion" -Label trotzdem aus dem Abspann verschwunden. Stattdessen steht dort nun der allgemeinere Hinweis: "klimaschonend produziert". Auf die Frage, worin die Unterschied bestehen und weshalb "MaiThink X" das "Green Motion" -Label nicht mehr verwendet, konnte das ZDF auf DWDL-Anfrage bis zum Erscheinen dieses Texts nicht antworten – obwohl das natürlich nicht nur für Fans des kritischen Denkens höchst interessant wäre.

Sondern wahrscheinlich auch für die Verantwortlichen der "Großen GEO Show", in der RTL im vergangenen Jahr erstmals Prominente um die Welt schickte, um sie an den entlegensten Orten ungewöhnliche Herausforderungen bestehen zu lassen.

XXL-Bratwurstzähler für die Öko-Sensibilisierung

Die Show ist der erklärte Versuch, die Schutzbedürftigkeit unseres natürlichen Lebensraums auf spielerische Art und Weise ins Mainstream-Publikum zu tragen – Hauptmotivation des RTL-Neuzugangs Dirk Steffens, von Mainz nach Köln zu wechseln.

Und sie verfügt über eine LED-Wand, die derzeit zumindest senkrechtstehend in der hiesigen TV-Branche ihresgleichen sucht.

Die große GEO-Show © RTL/Stefan Gregorowius "Große GEO Show" bei RTL: Finden Sie in diesem Studio die prominenten Kandidat:innen?

Darauf erscheinen norwegische Fjorde in wogendem Wasser unter vorüberziehenden Wolken, die Skylines von Johannesburg und Sydney, Mangrovenparadiese und japanische Tempel im rauschenden Kirschbaumblütenmeer. Das ist ganz offensichtlich der nachvollziehbaren Ambition geschuldet, die Bildgewaltigkeit der Printmarke "GEO" mit gigantischen Postkartenmotiven ins Fernsehen zu übertragen – und durchaus gelungen. Es führt aber auch zu dem zweifelhaften Nebeneffekt, dass die prominenten Kandidat:innen nebst Steffens und Moderatorin Sonja Zietlow in der Studiototalen ob ihrer statischen Winzigkeit hinter den Minipulten fast komplett verschwinden.

Nicht gerade als Energiesparbemühung auslegbar

Beim Ableger, der "Großen GEO-Story", die 2023 erstmals bei RTL lief, ist es ähnlich: Dort begrüßte Steffens das Saalpublikum auf der Bühne vor einer riesigen Bildfläche, auf der eine XXL-Bratwurst in die folgende Doku-Expedition hineinlocken sollte, um der "Spur der Bratwurst in den Amazonas Regenwald" zu folgen und später noch einen XXL-Online-Bratwurstzähler einzublenden ("Herzlich willkommen zur 'Großen GEO Story' und jetzt geht's wirklich um die Wurst”).

Als Steffens für seine Zusatzerläuterungen nachher vor dem LED-gewordenen Panorama eines abgebrannten Regenwalds stand, über den Vögelschwärme zogen, während darunter noch an einzelnen Stellen das Rodungsfeuer brannte, war das unbestreitbar beeindruckend.

Aber mal abgesehen davon, dass der RTL-Öko-Sensibilisierungsversuch ausgerechnet in der Marketing-Erlebniswelt eines großen deutschen Autobauers aufgezeichnet wurde: Als Energiesparbemühung lässt sich dem Sender diese Inszenierung nicht gerade auslegen.

Mal ganz grob durch den Fleischwolf

Dabei stünde es insbesondere den "GEO"-Formaten und ihrem weltreisenden Promipaten eigentlich ganz gut, die Zuschauer:innen über eigene klimaschonende Produktionsbemühungen zu informieren und Glaubwürdigkeit zu beweisen. Den Abspännen von "GEO Show" und "GEO Story" bei RTL+ ist ein solcher Hinweis bislang nicht zu entnehmen.

"Die machen da den Regenwald platt, um Soja anzupflanzen, und mit dem Soja füttern wir dann unsere Schweine”, erklärte Steffens ein kompliziertes Problem anschaulich verkürzt (bzw. "mal ganz grob durch den Fleischwolf" formuliert) – während die von RTL da das Stromnetz leer saugen, damit es geil aussieht, wenn das Fernsehen an unser ökologisches Gewissen appelliert, ohne sich dabei an die eigene Nase zu fassen.

Aber vielleicht geht das auch nicht anders, wenn man nicht nur schlauer werden will, sondern dabei auch noch gut unterhalten.

Und damit: zurück nach Köln.

Sat.1 zeigt "The Floor" donnerstags ab 20.15 Uhr und bei Joyn; "MaiThink X – Die Show" läuft sonntags ab 22.15 Uhr bei ZDFneo und in der Mediathek.

Nachtrag, 11. März: Das ZDF erklärt, dass die Herstellung von "MaiThink X – Die Show" "weiterhin den bundesweiten ökologischen Standards" unterliege: "Da die Vergabe des Labels 'Green Motion' seit August 2023 mit zusätzlichen finanziellen Aufwendungen verbunden ist, verwendet das ZDF seitdem 'klimaschonend produziert'. Die dabei zugrunde gelegten Kriterien sind identisch."