Sie kennen das: Völlig verschiedene Haushalte testen beim Vox-Hit "Hot oder Schrott?" Woche für Woche außergewöhnliche Produkte aus der ganzen Welt, vom Actioncam-Wurfgerät über elektrische Massagehandschuhe bis zur Teppanyaki-Eisbereiterplatte. Zwischendurch rastet Berufs-Choleriker Detlef Steves wegen Lappalien aus ("Wollt ihr mich verarschen, oder wat?", "Mach' den Scheiß jetzt alleine weiter"), jemand liest die schönsten Stilblüten aus einer kuriosen Bedienungsanleitung vor, und – zack: schon wieder ist eine Stunde Abendprogramm geschafft (Episoden bei RTL+ ansehen).

Trotz sanften Anstupsens im Vorjahr ist bei Vox aber immer noch niemand auf die Idee gekommen, dasselbe auch mal mit den TV-Trends des Jahres zu veranstalten. Macht nix: Dann erledigen wir das einfach nochmal selbst.

Bleiben Sie dran für die zweite Ausgabe von "Hot oder Schrott? Der große TV-Formatumtausch": Halten neue Shows und Genres ihre Versprechen? Oder kommt das Ganze, wie die Mehrheit der Geschenke, mit denen Sie heute morgen aufgewacht sind, direkt in den Umtausch?

Elternzeit für alle: Vertritt mich mal!

Nachdem sie einem gewissen Joachim Winterscheidt dessen Show abgeluchst haben, wurden gerade erst Matthias Schweighöfer und dann Hazel Brugger zu ProSieben-Primetime-Moderator:innen blitzausgebildet. Und ich will die von der zuständigen Produktionsfirma Florida Entertainment investierte Entwicklungsarbeit und langjährige Schnapsideenpflege gar nicht kleinreden, aber: den gewünschten Effekt könnten TV-Sender auch günstiger haben. Per Elternzeitvertretung!

Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim, die im Sommer zum zweiten Mal Mutter geworden ist, hat’s vorgemacht und die Moderation der neuen Staffel ihres ZDFneo-Erklärformats "MaiThinkX" kurzerhand an befreundete Kolleg:innen übrtragen. Weswegen u.a. Oliver Welke statt aktueller Ampel-Schlamassel plötzlich anhand klimapositiver Babygläschen und vermeintlich umweltfreundlicher Kreuzfahrten erklärte, wie Unternehmen Greenwashing betreiben, sein Publikum dabei duzte und hinter die Kulissen fragte: "Warum muss ich hier die ganze Zeit stehen? Im ZDF-Hauptprogramm haben wir so genannte Stühle und Tische." Hazel Brugger brachte dank ihrer TV-Tauscherfahrung gleich unser ganzes "Justizsystem vor Gericht", um (mit den für das Format leider üblichen Hoeneß-Trump-Söder-Gags) die Sinnhaftigkeit von Strafvollzug zu hinterfragen.

Das war eine so schöne Abwechslung, dass sich unweigerlich die Frage stellt: Warum nicht öfter? In Deutschland haben Eltern Anspruch auf 36 Monate Erziehungsurlaub, von denen zwei Drittel auch dann noch genommen werden können, wenn der Nachwuchs gerade schon von der Kita zur Erstmoderation in den Kika wechselt. Und keiner nutzt das?

Dabei könnten die Sender durch eine Förderung nicht nur der Chancengleichheit auf die Sprünge helfen: wenn sich nämlich auch männliche Moderatoren vertreten ließen, um zu demonstrieren, dass darauf nicht unweigerlich der von vielen befürchtete Karriereknick folgt. Die Maßnahme ließe sich auch als Neugierde-Boost für Formate mit tendenziell sinkenden Quoten nutzen. Anschließend kehrt der vom Kündigungsschutz abgesicherte Haupt-Host mit wehenden Fahnen zurück an seine alte Wirkungsstätte. Also: Männer vor! Auch wenn der nächste Einsatzort vermutlich erstmal "Die Carolin Kebekus Show" ist. In jedem Fall:

Danke für das schöne Geschenk!

Fernsteuer-Moderation: Konkurrenz für die KI

Für die meisten Leute war 2023 das Jahr, in de sie erstmals begründet Angst haben mussten, an ihrem Arbeitsplatz bald durch Künstliche Intelligenz (KI) ersetzt zu werden – was bei RTLzwei einer doppelten Revolution gleichkäme, nachdem dort bis heute vergeblich an der Zuführung von unkünstlicher Intelligenz gearbeitet wird. Im Spätsommer sorgten die Grünwalder Kings und Queens of Reality kurzzeitig für Gesprächsstoff mit der neuen "Love Island"-Staffel – diesmal allerdings nicht, weil die Fans nach anderthalb Jahren Pause so zahlreich wie früher eingeschaltet hätten. (Im Gegenteil.) Sondern weil die Produktion demonstrierte, wie heikel Livesendungen sein können, wenn man im Programmbetrieb sonst bloß auf "Play" drücken muss.

Als sich Moderatorin Sylvie Meis an Tag 13 live aus der griechischen Turtelvilla meldete, um in einem länglichen Monolog zu verraten, welches Paar von den Zuschauer:innen gerade rausgewählt worden war, blieben zwischen den einzelnen Sätzen. Erstaunlich. Lange. Kunstpausen. In denen dann auch noch zu hören war, warum: Weil die Regie Meis über den Knopf im Ohr jeden einzelnen Satz vorsagte, Wort für Wort.

Daraufhin bekam RTLzwei zum ersten Mal selbst die "Power of the Zuschauer" zu spüren, welche sich mit reichlich Spott in den sozialen Medien entlud – und den Sender zur kecken Replik veranlasste: "Freunde, immer mir der Ruhe. Niemand sagt Sylvie Meis jeden Satz einzeln vor. Sie denkt nur sehr laut." Ganz so witzig fand man die Panne am Ende aber wohl doch nicht: In der auf RTL+ abrufbaren Episode ist die Bonusansage getilgt, und Meis wirkt einfach, als würde sie gerade während der laufenden Moderation durch einen Bot ersetzt. Was ja fürs nächste Mal auch gar nicht so unrealistisch wäre, um die Produktionskosten nochmal massiv zu senken.

Umtauschen, bitte!

Langer Atem: Die Vermessung des Durchhaltevermögens

Unzählige Rätsel des Universums hat der Mensch bereits gelöst, nur an einer Frage ist die Wissenschaft bislang gescheitert: Wie lange muss eigentlich ein Langer Atem sein, bevor die Luft raus ist? Fürs Fernsehen wäre die Klärung von entscheidender Bedeutung, weil sich Programmverantwortliche dann viel, viel Arbeit ersparen könnten.

Vor wenigen Tagen beendete ProSieben nach anderthalb Jahren und 79 Ausgaben sein Magazin-Experiment "Zervakis & Opdenhövel Live", für das man sich anfangs in die Hand versprochen hatte, "einen langen Atem zu haben". Besser wäre vermutlich eine Idee gewesen, wie genau "ZOL" ins Programmumfeld passen und was es für sein Publikum konkret leisten soll. Wenige Wochen zuvor hatte Sat.1 bereits seinen vorabendlichen Themenflohmarkt "Volles Haus" abgeschafft, nachdem die Chefreaktion zum Start im Februar noch beteuerte: "Wir haben einen superlangen Atem."

Und eines muss man beiden Sendern lassen: In einer Branche, die dafür bekannt ist, selbst lange ausgeklügelte Programmneuerungen sofort wieder einzukassieren, wenn sich nicht augenblicklich der erwünschte Erfolg einstellt, haben ProSieben und Sat.1 tatsächlich Ausdauer bewiesen. Zugleich sind sowohl "Volles Haus" als auch "ZOL" aber Beweise dafür, dass Durchhaltevermögen alleine wenig hilft, wenn man anfängt, schusselig an Konzepten rumzudoktern, sobald die ursprüngliche Version beim Publikum nicht verfängt – anstatt auf einen vorher entwickelten Plan B zurückgreifen zu können. Das ist im Fall "ZOL" besonders bedauerlich, aber ich hab bis zum Schluss nicht verstanden, was das Format eigentlich von mir wollte. Da half auch der Lange Atem nix.

Zurück an den Schenker!

ARD Mediathek: Grüße aus der Streaming-Steinzeit

Anfang Oktober mühte sich Sophie Burkhardt, Channel Managerin der ARD Mediathek, im DWDL-Interview zu erklären, warum der Das-könnte-Sie-auch-interessieren-Algorithmus der von ihr verantworteten Inhalteplattform so spektakulär unbrauchbar ist, nämlich weil "Empfehlungslogiken (…) sehr stark mit Metadaten zusammen[hängen]" und die "Pflege von solchen Daten (…) in unserer dezentralen Struktur nicht ganz einfach" ist. Ja, okay. Ach: und außerdem ist die ARD Mediathek technologisch gesehen halt in der Streaming-Steinzeit stecken geblieben.

Nirgendwo zeigt sie das anschaulicher als bei einem einer ihrer Vorzeigeprogramme: der französisch-deutschen Koproduktion "Parlament", die gleichzeitig die renommiertesten Preise der Branche gewinnen und linear 0,0 Millionen Zuschauer:innen erreichen kann – Letzteres natürlich, weil alle, die ihre Genialität zu schätzen wissen, neue Folgen immer direkt online streamen.

Zu den Besonderheiten von "Parlament" gehört nicht nur die Dichte der Gags und Anspielungen auf den politischen Tagesbetrieb in Brüssel und Straßburg, sondern auch, dass sich die Protagonist:innen munter in drei Sprachen durcheinander unterhalten: Englisch, Französisch und Deutsch. Schon davon gibt sich die ARD Mediathek völlig überfordert: Anstatt – wie überall sonst – innerhalb einer Episode von der synchronisierten Fassung aufs Original umzuschalten, müssen "Parlament"-Fans eine gesondert mit "OV" gekennzeichnete Variante auswählen – und bekommen am Ende nicht etwa die nächste OV-Episode in den Autostart geschubst, sondern die gerade schon gesehene nochmal in Komplettdeutsch. Sozusagen: aktive Bingewatch-Verhinderung. Und daran ist auch die dezentrale Struktur der ARD Schuld?

"Wir brauchen Bindung", diagnostizierte Burkhardt der ARD Mediathek für die Zukunft. Nee, ihr braucht erstmal eine Benutzer:innenoberfläche, bei der man nicht jedes Mal geneigt ist, schreiend wegzuschalten.

Kaputt. Techniker ist informiert.

90-Minüter: Vorstufe zur Serien-Endlagerung?

Serien sind die Schleich-Figuren unter den Bewegtbildinhalten: Die meisten sind ja ganz hübsch anzuschauen, aber ständig muss man neuen Platz für sie schaffen. Und der ist im linearen Fernsehen nunmal rar, weil so ein Jahr nur 8760 Stunden hat, und sehr viele weniger, in denen nicht "Wer wird Millionär?" oder "Markus Lanz" laufen.

Außerhalb der langjährigen Programmplatzkonditionierung des Publikums – dienstags was Harmloses mit Ärzt:innen im Ersten, freitags was mit Leichen im Zweiten – sind die Verantwortlichen deshalb zur Strategie übergegangen, klassisch seriell erzählte Formate in weniger sendeplatzverschlingender Frequenz fortzusetzen: als 90-Minüter, der eierlegenden Wollmilchsau des deutschen Fernsehens. RTL ist mit "Alarm für Cobra 11" so verfahren, und im September versuchte das ZDF auf diese Weise, seiner schon beendet geglaubten Comedy "Merz gegen Merz" neues Leben einzuhauchen, ohne sie regelmäßig irgendwo dazwischen stopfen zu müssen. Richtig erfolgreich war das linear jedoch nicht – und langsam scheint sich in der Branche die Erkenntnis durchzusetzen, dass der Zaubertrick wohl doch kein guter ist. Den zweiten Film der "Balko"-Fortsetzung versteckte RTL gerade tief im Nachprogramm, wo ihn erwartbar niemand fand. Und die Umwandlung von Serien zu flexibler einsetzbaren Episoden in Spielfilmlänge entpuppt sich als Vorstufe zur unvermeidbaren Endlagerung.

Schade, aber: Umtauschen, bitte!

Placement-Parade: Willkommen zur RTL Penny Access-Prime!

Der Werbemarkt liegt darnieder, beide großen deutschen Privatsendergruppen mussten im zurückliegenden Jahr mehrfach ihre Prognosen nach unten korrigieren, und währen die Branche auf Erholung wartet, grätschen Netflix, Prime Video und Disney+ mit der Werbevermarktung ihrer eigenen Plattformen dazwischen. Doch es gibt Rettung für die Branche: den deutschen Lebensmitteleinzelhandel mit seinen irren Werbebudgets!

Schon jetzt sind die Handelsketten stark in der Bewegtbildpräsenz engagiert: In der RTL-Daily "Unter Uns" nehmen Alltagsdramen seit kurzem vor der Kulisse der neuen "Penny Schillerallee"-Filiale ihren Lauf; bei "Promi Big Brother" schmuggelte Sat.1 den Discounter als Container-Einkaufsstätte für die Bewohner:innen zum wiederholten Mal auf unzählige Pressebilder; und das "Perfekte Dinner" auf Vox überraschte Ende September mit der Ansage: "Das Besondere an dieser Woche ist, dass wir alles mit Aldi-Produkten kochen." Woraufhin man als Zuschauer:in nicht nur ins Zuhause der ausgewählten Hobbyköch:innen linsen konnte, sondern auch in die schönsten Aldi-Nord-Filialen von Leverkusen, Gelsenkirchen, Essen und Mettmann. Die Schwester Aldi Süd inszenierte sich derweil als offizieller Partner der diesjährigen "TV total Wok-WM" in Winterberg.

Eigentlich müssten die TV-Vermarkter das bloß konsequent weiterdenken und in Anlehnung an die Gepflogenheiten im Spitzen- und Woksport als nächstes umfassende Namensrechte an Handelspartner vergeben – nur halt nicht für Ligen oder Stadien, sondern für Zeitschienen und ganze Sender. Dann hieße es schon bald: Herzlich willkommen in der RTL Penny Access-Prime – oder: Sat.1 – nicht mehr powered by emotions, sondern by Aldi! Idealweise, bevor die Streamer auf denselben Trichter kommen und Netto-Netflix das Rot in seinem Logo mit einem knalligen Gelb ergänzt.

Wenn's hilft, behalten wir's!

Der Rest

Was sonst im zu Ende gehenden Jahr alles so los war im deutschen Fernsehen, lesen Sie wie jedes Jahr hier auf DWDL.de in den Tops und Flops der vergangenen zwölf Monate – und zwar schon gleich ab morgen.

Und damit: zurück nach Köln. Kommen Sie gut ins neue Jahr!