Mit Mythen ist das so eine Sache: Je öfter man sie erzählt, desto eher setzen sie sich im kollektiven Bewusstsein fest; gleichzeitig besteht das Risiko, dass sich ein Mythos in Luft auflöst, wenn er bei zu detailreicher Ausschmückung als Konstruktion erkennbar wird.
Und in ganz seltenen Fällen passiert sogar beides gleichzeitig.
Der Musikjournalist Markus Kavka und frühere Fernsehmacher Elmar Giglinger haben ein Buch zur "elektrisierenden Geschichte des deutschen Musikfernsehens" herausgegeben und mitmoderiert: die aus heutiger Sicht verhältnismäßig kurze Phase in den Neunziger und Nuller Jahren, in denen MTV und Viva fürs junge Publikum das Maß aller linearen Dinge waren, bevor es vom Internet gefressen wurde.
Es ist ein sehr dickes Buch geworden, denn in "MTViva liebt dich!" erinnern sich Kolleg:innen, Musiker:innen und Weggefährt:innen im Stil einer "Oral History" an prägende Themen und Momente – und das ist Segen und Fluch zugleich.
Auf Augenhöhe mit dem Publikum
Der Segen besteht in der Direktheit der (mal mehr, mal weniger gelungen arrangierten) Gesprächspassagen, die einen als Leser:in in eine Zeit mit zurück nehmen, als es möglich war, Fernsehen so unbeschwert zu machen, dass das nicht nur die Zuschauer:innen prägte, sondern ganz wesentlich auch die Protagonist:innen, die dadurch zu "Stars ihrer Generation" wurden (und vieles davon an ihre heutigen Wirkungsstätten mitgenommen haben).
Es ist tatsächlich ein großes Vergnügen, sich erzählen zu lassen, wie die Idee zu einem deutschen Musikfernsehen entstand, das dem arrogant wirkenden Vorbild MTV die Stirn bieten sollte, dem deutsche Popstars oft nicht mainstreamig genug waren, um sie im eigenen paneuropäischen Programm vorkommen zu lassen.
Und wie schließlich die "Videoverwertungsanstalt" Viva – als Allianz aus der damaligen Produktionsfirma MME, der Videoclipschmiede DoRo und Dieter Gorny als Medienpolitikflüsterer – am 1. Dezember 1993 auf Sendung ging.
Vor allem aber gelingt es dem Buch in diesem Teil ganz hervorragend, sich der Erfolgsstrategie von Viva zu nähern, die Gorny etwas umständlich, aber korrekt als "unbedingte Entscheidung zu programmlich zuschauerbezogener Nähe" bezeichnet. Während MTV cool, aber gefühlt weit weg war, saßen die Viva-VJs in Köln und versprachen ein "Fernsehen auf Augenhöhe mit den Zuschauerinnen und Zuschauern".
Wie eine nie endende Klassenfahrt
Geschuldet war das ein Stück weit auch dem anfänglichen Dilettantismus, mit dem Viva in dieses Abenteuer hineinschildderte: gegründet nach einer durchzechten Popkomm-Nacht, mit großem Gewusel in einer Kölner Loftetage, Umzugskartons als Raumteilern, "running by programming" und einem sehr, sehr glücklichen Händchen bei der Auswahl von Moderator:innen wie Heike Makatsch, Mola Adebisi und Nilz Bokelberg, die eindrücklich die Besonderheit ihrer Prominentwerdung schildern, bevor Gorny noch mal "den schnellsten Break-even in der Privatfernsehladschaft" betonen darf.
Irgendwann im ersten Drittel beginnt jedoch die Redundanz zu nerven, mit der "MTViva liebt dich!" immer und immer wieder erklärt, wie wenig sich das damals für alle Beteiligten als echte Arbeit angefühlt hat, sondern eher, wie es Matthias Opdenhövel (als erster von vielen) formuliert: "wie eine Klassenfahrt, die nicht endete, weil jeden Tag etwas Neues passierte".
Und so wird die Form des Buchs bald zum Fluch: Viele Passagen lesen sich länglich oder nachträglich so montiert, dass sie halbwegs zueinander passen; die Übergänge sind holprig; alles wirkt ein bisschen so wie zur Viva-Pionierzeit – zusammengeschustert, aber ohne überzeugende Struktur.
Eher Schwärmerei als Reflektion
Dazu kommt, dass "MTViva liebt dich!" eher Schwärmerei als kritische Reflektion geworden ist. Das Buch benennt zwar die Mittel, mit denen Musikfernsehen zum prägenden Phänomen werden konnte, verzichtet aber fast ausnahmslos auf Einordnung und Analyse. Es gibt Passagen, die kritisch auf die Zeit und ihre Gepflogenheiten blicken (wie sie Collien Ulmen-Fernandes gerade auch im DWDL-Interview zur neuen Viva-Dokureihe in der ARD Mediathek erwähnt hat); in erster Linie ist das Buch aber ein gut gelauntes Schwelgen in Erinnerungen.
Das ist ok. Aber welche fast schon bedenkliche Marktmacht MTV und Viva als "Shortcuts in die Charts" damals hatten, kommt nur am Rande zur Sprache: "Keine Playlist, kein Hit. Punkt." Das war für alle schon irgendwie in Ordnung, schließlich gingen mit dieser Macht auch jede Menge Annehmlichkeiten einher.
Alles war, wie es an einer Stelle heißt, "häufig so ein freundliches Geben und Nehmen" zwischen Sendern und Plattenfirmen: hier mal ein Interview und ein Special zur neuen Platte für die "Haus- und Hofbands", da mal ein Gästelistenplatz und diverse Backstage-Biers, "so lief die Promotion damals halt". Und irgendwann nach einer durchzechten Nacht lag der Schlagzeuger von den Toten Hosen bei einem schnarchend im Bett, was ist da schon Besonderes dabei.
Drogenkurier, Weihnachtsorgie, Hausverbot
In regelmäßigen Abständen entgleitet den beiden Herausgebern ihre Erzählung außerdem in Verpartnerungstratsch (Wer war mal mit wem zusammen?) sowie ein Party- und Drogengeprotze, das ausführlich beschreibt, wie bei Viva Zwei täglich das "Drogentaxi" kam, der Glastisch im Hotel "als Unterlage für bestimmte Sachen" diente, wer wann mal die Zunge von "Placebo"-Sänger Brian Molko im Hals hatte, wie es zu MTV-Zeiten nach den legendären Weihnachtsorgien Hausverbote in Hotels hagelte, die Burgfete in einer riesigen Essensschlacht endete und der Programmchef mal mehreren Mitarbeitenden neue Handys kaufen musste, weil er die Mannschaft beim Feiern in den Pool geschmissen hatte – "aber das war's mir locker wert. Hey, wir waren Marktführer!"
Bald ist alles nur noch ein großes Gesabbel und Markus Kavka erzählt außer einem sehr umfangreichen Best-of an Anekdötchen mit internationalen Künstler:innen genauso ausführlich, an welche Gelage der damaligen Zeit er sich alle nicht mehr erinnern kann, weil die so gut waren ("also wirklich null, nada, niente") und an welche nur noch ein bisschen (Giglingers Viva-Abschiedsfeier in Kavkas Wohnung, den "Kessel von Stalingrad", "weil dort sehr viel Schnee lag und keiner lebend rauskam").
Und, mein Gott, irgendwann hat man's echt verstanden, wie gut damals alle drauf waren.
Die Mimik nach unten gefallen
Gleichzeitig witzig und befremdlich ist, wie sehr die lockere Unterhaltung zwischendurch immer wieder in eine Elmar-Giglinger-Show abgleitet, der erst als Redakteur und später als Programmchef von Viva Zwei, MTV Central und Viva zwar die Kohle bei sich behalten musste – aber trotzdem sehr viel richtig gemacht haben muss.
Beim Interview mit seinen Buddies von Selig ist er sturzbesoffen aus einer Reeperbahnkneipe geflogen und hat mit den Jungs auf dem Dach ihrer Wohnung nachts noch einen Clip gedreht, bevor er auf der ersten Tour seine eigene Koje im Nightliner bekam; aber den Peter Maffay hat er trotz Audienz bei ihm zuhause auflaufen lassen, den konnte man nicht spielen, "es war halt nicht MTV. Es war Peter Maffay" – und angesichts so klarer Ansagen der Markenpolizei ist dem dann "ordentlich die Mimik nach unten gefallen".
Vor allem war Giglinger, so porträtiert ihn sein Buch, aber ein Programmchef zum Anfassen, der mit den Volos regelmäßig zu seinem "Stamm-Japaner" (!) ging, um zu fragen, ob sie sich wohlfühlen; der sich an die Comet-Aftershows "nur sehr bruchstückhaft erinnern" kann ("Party ist Party"); und irgendwann im Viva-Zwei-Büro zum Schutze aller durchgreifen musste: Keine Drogen mehr vor 18 Uhr!
Als sich beim Viva-Börsengang viele die Taschen voller Geld scheffeln wollten, wechselte Giglinger im Streit mit Gorny kurzerhand ins Lager des bisherigen Erzfeinds, wo die ganze geile Aufbauarbeit nochmal von vorne losging, weil MTV mit den richtigen Leuten plötzlich nicht mehr kalt und unnahbar war, sondern für alle Hingeholten eine "Brand wie ein Donnerhall". (Und mit Geschäftsführerin Christiane zu Salm.)
Danke, Elmar!
Nora Tschirners Bemerkung, ihre MTV-Show mit Ulmen sei vom Sender damals in irgendein Randbüro ohne Internetanschluss gestopft worden, kann Giglinger so "nicht erinnern"; Sarah Kuttner attestiert er im Zusammenhang mit der von ihm selbst abgesetzten Show "eine gewisse Beratungsresistenz", denn die Sendung war "sauteuer und die Quote war eher so, na ja, mittelmäßig" (die Quote, die Giglinger kurz vorher noch ätzend fand); und Klaas Heufer-Umlaufs Schilderung, dass er nach der Viva-Übernahme in Köln "wie Darth Vader persönlich" erschienen sei, bleibt auch nicht unwidersprochen stehen: "Ich glaube nicht, dass ich so aufgetreten bin."
Noch absurder wird's nur, wenn Giglinger erzählt, wen er damals alles nicht wollte: Barbara Schöneberger ließ er sich zu MTV-Zeiten nicht "aufschwatzen"; Joko Winterscheidt hätte er ohne Kavkas Fürsprache "nicht eingestellt"; und Nazan Eckes wollte bei Viva Zwei "unbedingt moderieren", war aber "zu glatt": "Keine Ecken, keine Kanten und von Musik hatte sie auch nicht wirklich Ahnung." Ein Irrtum? Ach was! "Heute wird sie froh sein. Wer weiß, ob sie sonst bei RTL gelandet wäre. Gern geschehen, Nazan."
Ja, vielen Dank auch, Elmar.
Fehlt bloß noch eine Entschuldigung von Niels Ruf, der's bei Viva Zwei so verbockt hat und dann nicht zu MTV mitgekommen ist? Kein Problem!
Trotzdem wüsste man nach alldem irgendwie gern, wie viel krasser das Musikfernsehen damals noch hätte sein können, wenn nicht die Mehrheit der Entscheidungen von Elmar Giglinger getroffen worden wäre.
"Sündenfall" im Musikfernsehen
Ungelogen 491 Seiten dreht sich in "MTViva liebt dich!" das allermeiste darum, wie großartig alles gewesen ist; selbst die feindliche Viva-Übernahme durch MTV liest sich mit wenigen Ausnahmen ganz kuschelig, weil der Konkurrent von einst ja längst die wichtigsten Köpfe aus Köln zu sich geholt hatte.
Elf Seiten müssen am Ende reichen, um abzuhandeln, wie alles in die Binsen ging und von einem auf den anderen Tag Schluss mit Partys und Visionen war – auch wenn sich das schon eine Weile abgezeichnet hatte, nachdem aus London irgendwann der "Sündenfall im Musikfernsehen" (Tim Renner), die Ausweisung der Quoten durch die GfK, entschieden worden war; ein "Selbstmord!", der den Riesen plötzlich zum Zwerg schrumpfte, weil "Longforms" die Musikclips verdrängten und der wirtschaftliche Druck stetig wuchs.
Die später einrückenden Abwickler:innen und Controller:innen werden dann nur noch hastig beim Vornamen genannt, um sich von ihnen distanzieren zu können, aber keinen unnötigen Ärger einzuhandeln. Dann ist abrupt Schluss, Internet killed the TV Star – bitte zappen Sie weiter, hier gibt es nichts mehr zu lesen.
Zwiespältiger Blick auf ein Stück TV-Geschichte
Alles in allem ist "MTViva liebt dich!" zwar eine unterhaltsam zu lesende TV-Zeitreise geworden. Als systematische Beschreibung des Musikfernsehens und seiner sich selbst zugefügten Wunden eignet sich der Wälzer trotz des Umfangs aber nur bedingt. Ein bisschen wird das Buch mit seiner Fan-Tonalität damit wahrscheinlich der Art und Weise gerecht, wie Musikjournalismus bei Viva und MTV damals zumindest zu großen Teilen betrieben wurde.
Das ist nichts per se Schlechtes. Aber "elektrisierend" ist das vermutlich nur für jene, die unmittelbar dabei waren – und lebend wieder rausgekommen sind.
Allen anderen bleibt ein am Ende irgendwie desillusionierender Einblick in ein Stück Fernsehhistorie, das sich so nicht mehr wiederholen wird – und dem schon deshalb für seine Geschichtsschreibung ein bisschen mehr Distanz gut getan hätte.
Und damit: zurück nach Köln.
"MTViva liebt dich! Die elektrisierende Geschichte des deutschen Musikfernsehens" ist bei Ullstein erschienen (21,99 Euro). Die davon unabhängig produzierte Viva-Doku läuft in der ARD Mediathek.