Dienstagabend im ZDF: "Zypern. Ein Urlaubsparadies im Mittelmeer." Sonne, Strandidylle, Ferienatmosphäre. Das Bild fängt an zu wackeln. Blende auf die Hauptstadt Nikosia bei Nacht: "Doch die Insel hat ein schmutziges Geheimnis."
"Call the police, stop recording", ruft ein verpixelter Mann, der hastig seine Hand vor die filmende Kamera hält. Aus dem Off heißt es: "Hinter glitzernden Fassaden machen russische Milliardäre heimliche Geschäfte." Mit Wumms werden vier verdächtige Herren ins Bild gestempelt. Dramatisierende Musik: eine Journalistin arbeitet am Notebook. Nachts! "Wer in Zypern recherchiert, erhält Einblick in eine Schattenwelt: schwarze Kassen für dubiose Fußballgeschäfte. Geheime Absprachen um millionenschwere Kunst zu verstecken." Zoom, klick, zoom, klick, zoom, klickklickklick. Noch ein verpixelter Mann hält sein Handy vor die Kamera. Nikosia in blutrot. "In der Hauptstadt Zyperns werden geheime Verträge geschlossen, die nie ans Licht kommen sollten."
Hubert Seipel mit Putin in blutrot. "Eine heimliches Honorar für einen deutschen Journalisten?" Seipel läuft vor einem ZDF-Reporter weg. Jemand hält die Hand vor die Kamera – in BLUTROT!
Herzschlag. "Frontal"-Logo. Titeleinblendung: "OLIGARCHEN-PARADIES ZYPERN – DIE GEHEIMEN GESCHÄFTE RUSSISCHER MILLLIARDÄRE". Sorry, Glitch: "O£IGARCH€N-PARADI€$ ZYP€RN."
Journalismus mit Blockbuster-Teaser
Ist der neue "Mission: Impossible" schon draußen? Nein, das ZDF hat gerade anhand interner Dokumente von Finanzdienstleistern aufgedröselt, wie sanktionierte russische Oligarchen Zypern als Hintertür zur Europäischen Union nutzten – und damit zurecht für einigen Wirbel gesorgt. Glücklicherweise wegen der soliden Recherchearbeit und nicht, weil die ersten anderthalb Minuten der dazugehörigen Films so peinlich übergeigt waren (hier ansehen).
Womöglich steckt dahinter auch bloß ein Umkehrschluss: Wenn die Unterhaltung im Fernsehen zunehmend den Anspruch entwickelt, journalistischer zu werden – dann ist es doch bloß fair, klassisch journalistische Inhalte immer blockbusteriger anzuteasern. Oder?
Vor einiger Zeit ging es an dieser Stelle schon einmal um den Siegeszug der "Public Impact Comedy": Sendungen von Jan Böhmermann und Carolin Kebekus, die TV-Comedy als gesellschaftlichen Impulsgeber neu interpretieren, sozusagen die Antithese zur früheren "Spaßgesellschaft" (✝).
Anderthalb Jahre später ist das zur Norm geworden: Kaum eine neue Personality- bzw. Satire-Show kann oder will es sich noch leisten, ihr Publikum bloß zu unterhalten. Oder einfach ein paar Gags über die Ereignisse der zurückliegenden Woche zu machen, vermutlich: weil es gerade nun wirklich nichts mehr zu lachen gibt.
Abgeschminkt vor laufender Kamera
Also flüchten sich alle ins entertainig vorgetragene Monothematische, amüsierbereit verpackt, aber mit dem aufklärerischen Ziel, naheliegenden und abseitigen Themen unserer Zeit auf den Grund zu gehen.
In der inzwischen elften Episode des zu Jahresbeginn gestarteten NDR-Formats "Reschke Fernsehen" erklärte Gastgeberin Anja Reschke mit übermäßig Schminke und künstlich drangepappten Haaren gerade im Ersten: "Ich glaub, wir müssen sehr dringend mal über das Thema Schönheit reden." Um nachher die Stolperfallen unseres "Selbstoptimierungszeitalters" zu kommentieren, die Methoden von sich auf TikTok präsentierenden Schönheitschirurgen auseinander zu nehmen, einen Hyaluron-Pin zur Selbstanwendung im Internet zu bestellen ("Machen Sie das auf keinen Fall!") und dank der Redaktion zugespielter "geheimer Chats" aufzudecken, wie der deutsche Billigmarktführer für Beauty-OPs in einer internen Chatgruppe zum permanenten Upselling seiner oft sehr jungen Kundschaft aufruft, bis Reschke sich anschließend vor laufender Kamera abzuschminken begann – was für ein Statement!
Mitte Oktober war Sarah Bosetti auf 3sat bereist mit der Ansage in ihre neue Monatsshow "Bosetti Late Night" gestartet: "Reden wir heute über soziale Gerechtigkeit!" Um anschließend in einem fulminanten Einspielfilm erst in der Limousine und dann als Flaschensammlerin auf der Straße über die Neiddebatte zu monologisieren, daran zu erinnern, dass jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut lebt und die zehn reichsten deutschen Familien dem unter Zurverfügungstellung ihres Vermögens jederzeit ein Ende setzen könnten, sich zu wundern, warum auf Milliardäre "nie jemand wütend" ist und all das nachher nochmal mit Gästinnen zu diskutieren, denen das Publikum per Bullshit-Button Glaubwürdigkeit attestieren und wieder entziehen konnte.
Willst du was gelten, musst du schelten
Florian Schroeder knöpfte sich in seiner neuen von SWR und hr produzierten Show im Ersten direkt mal den eigenen Arbeitgeber vor: "Das wird heute eine etwas andere Ausgabe, eine journalistische Sendung, denn wir müssen über ein wichtiges Thema sprechen: über uns." Im Folgenden diagnostizierte Schroeder, die ARD sei "so sexy wie Mundgeruch" und die sich als chronisch pleite sehenden Anstalten seien "der Boris Becker unter den Fernsehsendern", er betrieb Intendantenschelte, rollte die Nikolaus-Brender-Causa noch mal auf, machte sich über paar gut abgehangene Peinlichkeits-Performances lustig und titulierte das ARD-Plus-Zusatzbao für 4,99 Euro im Monat als "Abzocke des Jahrzehnts", um sich am Ende in ein überdreht vom Tisch koksendes Paradebeispiel eines wutschnaubenden Systemkritikers hineinzusteigern, der eine mit "Zwangsgebühren" finanzierte "linksfaschistoide Böhmermannmeinungsdiktatur" heraufbeschwört; satirisch gemeint, versteht sich.
Oder, anders formuliert: Ich glaub, wir müssen sehr dringend mal darüber reden, warum im deutschen Fernsehen keiner mehr Spaß machen kann, ohne sich dabei eine Gag-angereicherte potenzielle "Spiegel"-Titelgeschichte um den Hals zu hängen.
Zu schade für kluge Popkulturnachäffung
"Schroeder darf alles", sagt der SWR, "konfrontiert mit den aktuellen Problemen der Welt" und widmet sich "Themen, die die Gesellschaft bewegen". "Bosetti Late Night", sagt 3sat, macht "Satire, die mehr ist, als nur Unterhaltung", nämlich "über gesellschaftlich relevante Themen". Und "Reschke Fernsehen", sagt der NDR, "geht jede Woche einem Thema auf den Grund, das die Gesellschaft bewegt" – kurz: "Journalismus trifft Unterhaltung".
Okay, aber: warum? Weil sich plötzlich alle zu schade sind für kluge Popkulturnachäffung oder simple Wochenreflektion?
Oder weil die Situation schon so verfahren ist, dass die Zuschauer:innen, wenn sie aus Selbstschutz schon die Nachrichten nicht mehr einschalten, wenigstens beim Unterhaltenwerden noch mit der Gegenwart kollidieren sollen? Freuen Sie sich jetzt schon auf die manipulativen Tricks der Life-Coaches – nächste Woche bei "Reschke Fernehen"!
So neu- und großartig die Lust vieler Redaktionen und Präsentator:innen auch ist, mehr bewirken zu wollen, als ihrem Publikum einen heiteren Abend, so anstrengend wird es gerade, dabei zuzusehen, wie alle das gleiche wollen. Und dabei zunehmend ähnliche Ideen haben. Nicht nur der Anspruch vieler Formate, auch Machart und Themen gleichen sich zunehmend ("Reschke Fernsehen" hat schon im Juni gezeigt, "Wie Milliardäre den Staat bekämpfen"; Jan Böhmermanns Rant gegen ARD und ZDF feierte erst kürzlich Einjähriges).
Standpauke aus der Zukunft
Bosetti hat's bei 3sat auf die Spitze getrieben, indem sie diesen Trend selbst karikierte und zum Start von "Bosetti Late Night" als ihr um 20 Jahre gealtertes Ich hinterm Pult saß, um aus dem Jahr 2043 zu bilanzieren: "Seit zwanzig Jahren moderiere ich jetzt diese Sendung. Und was hat sie bewirkt? Nichts! (…) Satire kann mehr als unterhalten? Blablabla. Gar nix kann Satire. Seit die Faschisten wieder an der Macht sind, lassen die uns doch eh nur noch senden, weil sich durch Satire kein Arsch mehr von keinem Sofa hebt."
Aber, hey, auch diese aus der Zukunft zurückgeholte Standpauke für die Aufmerksamkeitsökonomie kann nix dran ändern, dass Bosetti jetzt, zwei Jahrzehnte zuvor, halt doch nochmal das Gegenteil versucht: "Wir haben mit dieser Sendung viel vor." Sie wolle – nee, keine "woke Meinungsdiktatur errichten, in der nur sprechen darf, wer sogar das Wort Lastenrad korrekt gendert". Sondern "dahin schauen, wo es mit gesellschaftlichem Streit falsch läuft". Wichtig sei nicht, einer Meinung zu sein, sondern gut zu streiten. "Denn wenn wir schlecht streiten, leidet die Demokratie" – und auf die müssen wir "gerade ein bisschen aufpassen".
Um nichts Geringeres geht es derzeit in der deutschen Late-Night-Unter-Haltung. Maximale Fallhöhe.
Jede Woche ein neues heißes Eisen
Naja, und um die Überzeugung vieler Redaktionen, für ihre Zuschauer:innen jede Woche ein neues heißes Eisen anpacken zu müssen. Alle, denen diese satirisch überhöhte Woke-WM nicht passt, können sich für ein paar einfache Schenkelklopfer ja zu "TV total" verpissen.
Das ist: langsam ein bisschen zuviel des Gutgemeinten. Und natürlich schade, weil es zwischen diesen beiden Polen kaum noch Alternativen gibt. Bevor sich alle zu Tode recherchieren: Bestünde die eigentliche Kunst heute nicht darin, eine Show auf die Beine zu stellen, die Leichtigkeit ausstrahlt und trotzdem intelligent gemacht ist, ohne jedes Mal die Grundfesten unseres Zusammenlebens zu erschüttern?
Oder, um's positiver zu sehen: Die Zeiten, in denen man den Deutschen nachsagen konnte, sie gingen zum Selbstamüsement in den Keller, sind ein für allemal passé; inzwischen sitzen wir dafür in gut ausgeleuchteten Studios an schicken Tischen – nur halt unter der Bedingung, dass uns das Lachen spätestens zum Abspann im Halse stecken bleibt.
Und damit: zurück nach Köln.
Neue Ausgaben der genannten Shows laufen an diesem Sonntag um 21.45 Uhr in 3sat ("Bosetti Late Night") sowie donnerstags um 23.35 Uhr ("Reschke Fernsehen") und 0.15 Uhr ("Schroeder darf alles") im Ersten.