Es gibt einen Ort im deutschen Fernsehen, an den nur ganz selten Licht fällt. Die Straßen dort sind leer, es nieselt und über allem hängt mit einer trägen Schwerfälligkeit der Himmel in unterschiedlichen Grauabstufungen. Oder wie man im Ersten sagt: Herzlich willkommen beim "FilmMittwoch", diesem letzten Mysterium deutschen Fernsehschaffens!
Schon seit längerem gilt laut ARD-Fernsehfilmkoordination eigentlich die Losung, den Stammsendeplatz für "besondere Filme mit zeit- und kulturgeschichtlicher Bedeutung" vor allem mit Inhalten zu bespielen, die auch bei mittelalten Nutzer:innen der Mediathek gut ankommen. Linear wurde der Platz zuletzt aber so regelmäßig mit gut abgehangenen, zum Teil über zehn Jahre alten Wiederholungen bestritten, dass man dem Ersten förmlich bei der Budgetumschichtung ins Digitale zusehen konnte.
Dabei ist die Grundidee ja schlüssig: dem Publikum fiktional im Wechsel nicht bloß Krimi und Komödie zuzumuten, sondern auch – öffentlich-rechtlicher Tusch, bitte! – gesellschaftliche Relevanz.
Tiefer Blick in menschliche Abgründe
Irritierend ist jedoch, wie sehr der "FilmMittwoch" inzwischen zum Problemfilmmittwoch geworden ist, der so tief in menschliche Abgründe blickt, dass die sich demnächst vermutlich erkundigen werden, ob alles in Ordnung ist. Kleiner Selbstversuch: Probieren Sie mal, die Film-Erstausstrahlungen der vergangenen Wochen hintereinander wegzuschauen, ohne dabei in die Novemberdepression abzugleiten.
In "Sörensen fängt Feuer" spielt Bjarne Mädel zum zweiten Mal den sympathischen Einzelgänger, den das Auseinanderbrechen seiner Familie nach Katenbüll an der Ostseeküste verschlägt, wo er nicht nur mit seiner Angststörung umgehen muss, sondern auch der Mordlustigkeit seiner Mitmenschen.
In "Der neue Freund" streitet und schimpft Corinna Harfouch bei Rotebeetesalat im eiskalten Bodenseeblick-Betonhaus mit ihrer erwachsenen Tochter (gespielt von Karin Hanczewski), ob ihr im Internet aufgegabelter 25 Jahre jüngerer Lebensgefährte sie bloß des Geldes wegen ehelichen will, wie es die Recherchen des engagierten Privatdetektivs nahelegen.
Und im gerade gelaufenen "Eher fliegen hier UFOs" trägt das Schaufelrad des riesigen Kohlebaggers schon zu Beginn auch das letzte bisschen Resthoffnung aus der rundherum schon völlig zerfressenen Landschaft ab, während die Einwohner:innen des nahegelegenen Örtchens Niersdorf sich nach und nach verabschieden, weil ihre Heimat der Kohleförderung weichen soll.
Einsamkeit und Zukunftsskepsis
Jeder Film ist, für sich genommen, durchaus sehenswert und wurde von der Kritik teilweise überschwänglich gelobt.
Zusammengenommen aber sind diese Gegenwartsporträts ein Rätsel: Krankheit und Identitätsverlust, Einsamkeit und Zukunftsskepsis geistern durch die meist farbentsättigte Provinz, und jeder Film zelebriert geradezu lustvoll eine Trostlosigkeit, wie es sie in diesem Umfang sonst nirgends im deutschen Fernsehen zu sehen gibt. Alle, wirklich alle auftauchenden Charktere sind depressiv und bettlägerig, manipulativ, in sich gekehrt, einsam, dämonenbesessen oder religiös verirrt, zukunftsskeptisch, alleingelassen, hilflos oder traumatisiert. Dagegen wirkt der "Tatort" bisweilen wie Gute-Laune-Fernsehen.
In aller Ausgiebigkeit und bei angenehm gedimmten Licht erzählt etwa "Der neue Freund" das gestörte Mutter-Tochter-Verhältnis ("Deine Skepsis ist Missgunst!" – "Ich kann dich nicht mehr ertragen!"), während sich die Kamera hinterm Treppengeländer versteckt, bis sie mit nach draußen zu tiefgründigen Herbstseegesprächen muss, das Familiengeheimnis gelüftet ist (Vati hat das Vermögen verzockt!) und am Ende alle traurig auf dem Sofa sitzen, das gleich noch angezündet wird.
Und als nächstes: noch 'ne Leiche
So "zart" bzw. "behutsam" die Dialoge bei "Sörensen" (Mädels Verfilmung der gleichnamigen Romanreihe von Sven Stricker), auch sein mögen: Die eigentliche Handlung besteht daraus, dass alle paar Minuten eine neue Leiche aus der diesigen Nachbarschaft gezogen wird. Im ersten Film: vier Herren, die vorher noch freundlich durch die Hecke gelugt haben, sich nach ihrem Ableben aber als Missbrauchstäter entpuppen, deren minderjährige Opfer sich aus Verzweiflung online dazu verabreden, ihrer Pein ein Ende zu setzen. Im zweiten flieht ein blindes Mädchen aus dem Keller, in dem sie jahrelang eingesperrt war, weil eine Gruppe extrem bibeltreuer Christ:innen, die nach und nach dezimiert wird, ihre Behinderung als missfälliges Zeichen Gottes deutete.
Aber so ist das wohl in Orten, wo hinterm Deich nichtmal Wasser ist, sondern bloß Acker ohne Schafe, und man sich im tranfunzeligen Dorfgasthof zur Resteverpartnerung trifft, während auf dem Büroschreibtisch die Topfpflanzen verenden und die Hauptfigur wegen Tablettenentzugs Schweißausbrüche hat.
Die Kneipe im bald weggebaggerten Niersdorf hat schon dicht. "Der Metzger ist weg, die Sparkasse auch, als wäre alles eingefroren worden" – und als nächstes folgt die Bäckerei, die Marita nach dem Tod ihres Mannes mit dem Schwager führt, aber nicht mehr lange: zu wenig Kundschaft, zuviel Papierkram. "Ich weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht." Marita will trotzdem bleiben. "Du lebst einfach zu sehr in der Vergangenheit", muss sie sich vorwerfen lassen, und entgegnet, bevor sie wieder mit ihrem toten Mann spricht: "Nee, ich leb nur gern da, wo mich die Erinnerungen finden können."
Gesichter, die in die Ferne starren
Doch die Häuserreihen lichten sich, im Ort nebenan haben sie sogar den Dom abgerissen, und nichtmal die eintreffenden Umweltaktivist:innen, die mit ihrer radikalen Form des Protests keine Rücksicht nehmen wollen, eignen sich als Verbündete: "Sorry, wir müssen da unser Ding durchziehen."
Im Neubaugebiet, das die Umsiedler:innen aufgenommen hat, greift derweil die Verbitterung um sich. Marita fühlt sich, "als wär ich in das falsche Raumschiff gestiegen", und fährt jetzt Asia-Essen aus; Oma Luise stürzt und stirbt, wegen Corona kann nicht mal mehr Karneval gefeiert werden, die Familie ist zerstritten. Als sich Marita doch noch zur längst überfälligen Grabumbettung entschließt, kriegt sie gesagt, dass der Kohleausstieg jetzt vielleicht doch schon früher kommt – und der umgesiedelte Ort, aus dem alle vertrieben wurden, doch stehenbleibt. Am Ende ziehen ukrainische Flüchtlinge in die leerstehenden Häuser, dann Abspann und "schönen Guten Abend bei 'Plusminus', Ihrem Wirtschaftsmagazin im Ersten".
Puh, erstmal durchschnaufen.
So unterschiedlich die Filme auf den ersten Blick auch wirken: Sie bedienen sich oft erstaunlich ähnlicher Mittel, spielen mit Traumsequenzen oder Zeitebenen, lassen Protagonist:innen mit ausdrucksleeren Gesichtern in die Ferne starren und legen über alles eine nebelige Schwerfälligkeit.
Vor allem aber lassen sie nicht nur ihre Protagonistinnen, sondern auch das Publikum am Ende ratlos zurück.
Was wollen uns diese Filme zeigen? Wie machtlos der Einzelne gegenüber tiefgreifenden Veränderungen ist, die "der Strukturwandel in Zeiten von Corona und Energiekrise" parat hält? Wie sehr alle um die Wette leiden, weil auf dem Dorf lauter von der Vergangenheit gezeichnete Gestalten wohnen und die Neuankömmlinge aus der Großstadt nicht nur ihre Kaputtheit, sondern auch noch den elendigen Vegetarismus mitbringen, der sie die Bratkartoffeln mit Speck im Dorfgasthof oder die mit Schweineschmalz eingeschmierten Teilchen in der Traditionsbäckerei verschmähen lässt?
Vielgelobt – und arg artifiziell
Und selbst wenn: Muss der Hauptprotagonist mit der Angststörung dann unbedingt Kommissar sein, weil sich sogar Filme mit "zeit- und kulturgeschichtlicher Bedeutung" nur noch dann erfolgreich erzählen lassen, wenn sie im Kern ein Friesenkrimi sind?
Mit seinem demonstrativ vor sich hergetragenen Anspruch ist der "FilmMittwoch" im Ersten zu einer Art Gruselkabinett fürs Mittelschichtspublikum geworden, das sich zu Unterhaltungszwecken von einem Best-of seiner größten Ängste bespuken lassen darf.
Mag sein, dass dabei eine Form von Fernsehfilmkunst entsteht, die Redakteur:innen, Filmschaffenden und vielen Medienkritiker:innen gefällt, vor allem, wenn sie als "halbdokumentarische Familienchronik" daherkommt, "die sich nicht der üblichen Fernsehdramaturgie unterordnet"; oder "sogar Bühnen-Ästhetik" nutzt, die einzelne Szenen geradezu theaterhaft (aber halt auch: maximal artifiziell) wirken lässt. Viele Zuschauer:innen scheinen damit allerdings so ihre Probleme zu haben.
Die ARD muss sich fragen lassen, was sie mit diesem merkwürdigen Trend eigentlich bezwecken will. In erster Linie offensichtlich einen Blick auf die Gesellschaft, der verlässlich schlechte Laune macht.
Und damit: zurück nach Köln.
Die genannten Filme sind in der ARD Mediathek abrufbar; diese Woche zeigt das Erste auf dem "FilmMittwoch"-Sendeplatz die ersten beiden Episoden der MDR-Miniserie "Wer wir sind" – mit tief hängendem Himmel über Halle an der Saale und Kommissarin, natürlich.