Vielleicht wollen Sie die Sprachassistenz Ihres Vertrauens den 1. Mai 2041 in Ihrem virtuellen Kalender notieren lassen – als Tag, an dem Sat.1 die Mission Selbstabschaffung ein für alle Mal abgeschlossen haben wird. Grob überschlagen ist das, falls sich die Entwicklung aus den vergangenen zehn Jahren fortsetzte, das Datum, an dem endgültig 0,0 Prozent aller Zuschauer:innen aus der einstigen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen erreicht würden (bei einer angenommenen linearen Dezimierung des aktuellen Marktanteils von monatlich 0,0291666667 Prozentpunkten).

Aber: erstens wären 57 Jahre für so einen linearen Fernsehsender ja ein durchaus stattliches Alter; und zweitens kann's, wenn alles weiter läuft wie derzeit, natürlich auch viel, viel schneller gehen.

Denn an nichts arbeitet Deutschlands ältester Privatsender so ausdauernd wie an der eigenen Unsichtbarwerdung.

Viele hausgemachte Probleme

Dabei gab es (zumindest bei mir) kurzzeitig so etwas wie Hoffnung auf Besserung, als die Sendergruppe vor zwei Jahren bekannt gab, ProSieben-Chef Daniel Rosemann werde die programmliche Verantwortung für den Schwesterkanal mitübernehmen, um ihn zu "alter Stärke" zurückzuführen. Statt trashig und laut sollte Sat.1 wieder ausgeruht und positiv gestimmt daher kommen: für Menschen, "die schon einige Lebenserfahrungen gemacht haben und sich zugleich darauf freuen, was ihnen die Zukunft bringt". Oder wie Rosemann es vor fast genau vor einem Jahr im DWDL.de-Interview ankündigte: "In Sat.1 wird bald spürbar mehr los sein."

Die Strategie ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil. Zumindest sprechen die aktuellen Monatsmarktanteile eine deutliche Sprache: Mit 6,4 Prozent in der jungen Zielgruppe lag der Sender im April deutlich hinter dem langjährigen Zweitligisten Vox. "Mit dem Kampf um die Marktführerschaft hat Sat.1 somit längst nichts mehr zu tun", urteilte DWDL.de so knapp wie gnadenlos. Dazu kommt, dass auch die Zahl der Premieren massiv zurückgefahren wurde, die DWDL.de regelmäßig im "Frische-Index" ermittelt, in dem der Sender nun "weiter nach hinten durchgereicht" werde. (Zutreffender hätte man den Schlamassel auch in einer launigen Sonntagskolumne nicht zusammenfassen können.)

Viele der Probleme sind – wie schon immer bei dem von Mainz nach Berlin nach Unterföhring umgetopften Ex-RTL-Herausforderer – hausgemacht; dazu kommen eine ganze Reihe zweifelhafter strategischer Entscheidungen.

Ein kurioser Zick-zack-Kurs

Das von Trash-Produktionen wie "Promis unter Palmen" forcierte Krawall-Image mag man wieder losgeworden sein; aber schon der Versuch, Reality mit dem "Club der guten Laune" ins Positive zu drehen, scheiterte. Der Anfang des Jahres ausgerufene neue Krimiseriendonnerstag? Hat nicht funktioniert. Der neu konzipierte Nachmittag? Liegt mit "Volles Haus" in Schutt und Asche. Aktuell besteht der ganze Sender fast nur noch aus Baustellen, einzig das "Frühstücksfernsehen" ist eine sichere Bank.

Im Bemühen, zumindest Zuschauer:innen zurück zu gewinnen, die in der TV-Vergangenheit schwelgen wollen, hat Sat.1 einen kuriosen Zick-zack-Kurs eingeschlagen: Ehemals täglich gelaufene Vorabendshows wie "Geh aufs Ganze" wurden für ihre Wiederkehr zu Primetime-Formaten aufgeblasen; dafür wurden Primetime-Shows wie "Mein Mann kann" und "Die Perfekte Minute" für die tägliche Ausstrahlung umgestrickt. Reboots erfolgreicher Sat.1-Hits wie "Glücksrad" und "Genial daneben" laufen jetzt bei RTLzwei und "Richterin Barbara Salesch" möbelt den RTL-Nachmittag auf. Im Gegenzug holte Sat.1 Konkurrenzprogramme wie "Pyramide", "Jeopardy" und "Stars in der Manege" aus der Versenkung.

Aus Genres, die eigentlich prägend für einen Sender sein müssten, der als Vollprogramm wahrgenommen werden will, hat man sich fast vollständig verabschiedet.

Es hat sich ausgewandert

Bei einer Diskussion über den dualen Rundfunk, zu der die bayerischen Grünen Ende des vergangenen Jahres geladen hatten, musste sich Rosemann nach einem Bericht der "FAZ" von Produzentin Regina Ziegler vorwerfen lassen, seine Sendergruppe würde sich "in skandalöser Weise" aus der fiktionalen Produktion zurückziehen – und erwiderte (ebenfalls zitiert nach der "FAZ"), dass es "uns aktuell nicht möglich ist, Fiktion zu refinanzieren". Im durch Streaming-Anbieter aufgeheizten Markt könne man so nicht mehr "mitspielen": "Eine Folge von 45 Minuten einer guten deutschen Serie kostet heute eine Million. (…) Wie viel Werbung zu welchem Preis sollen wir in den 45 Minuten senden?"

Der Versuch, die dadurch entstehende Lücke mit europäischer Fiction zu füllen, ist spektakulär gescheitert: Mit der aus Frankreich eingekauften Crime-Serie "Biarritz", urteilte DWDL.de im Januar in seiner Quotenanalyse, "schrumpft[e] Sat.1 (…) auf Spartensenderniveau". Die Joyn-Produktion "Blackout" verlor bei ihrer linearen Ausstrahlung von Woche zu Woche Zuschauer:innen. Auch die Ersatzstrategie, auf Fiction-Klassiker aus der eigenen Vergangenheit zu setzen, geht nicht auf.

Die Zeiten, als die Sat.1-Geschäftsführung morgens gut gelaunt mit Schlagzeilen wie "Wahnsinn: 'Wanderhure' mit fast 10 Mio. Zuschauern" ins Büro geschickt wurde, sind lange vorbei.

Wer ist überhaupt noch da?

Gleichzeitig hat man sich (ohne größere Not) fast vollständig aus der Produktion eigener Comedy verabschiedet, die laut Rosemann zuletzt "keine Priorität" mehr hatte. Was ziemlich genau der Wahrnehmung zahlreicher ehemals mit dem Sender verbundenen Künstler:innen im Umgang mit ihnen und ihren Formaten durch Sat.1 entsprechen dürfte. Martina Hill macht ihre Sketch-Show jetzt halt für Prime Video, wo man auch die erste gemeinsame Serie mit Anke Engelke und Bastian Pastewka in Auftrag gegeben hat und riesige Erfolge mit "LOL" feiert.

Wobei es sich bei Sat.1 um ein Genre-übergreifendes Problem handeln dürfte, Talente dauerhaft an sich zum binden: Die Kooperation mit "Doc Caro" war nach nur wenigen Monaten wieder beendet, die Notfallmedizinerin und erfolgreiche YouTuberin geht künftig bei Vox auf Sendung. Und die aus dem TV-Vorruhestand zurückgeholte Birgit Schrowange versuchte sich innerhalb kürzester Zeit gleich an drei neuen Sendungen, die allesamt beim Publikum nicht zünden wollten. Daran könnte man arbeiten. Von neuen Plänen mit Schrowange ist bislang aber nichts bekannt.

Alle, die noch da sind, haben's auch nicht leicht: Ralf Schmitz macht jetzt Varianten seiner ehemaligen RTL-Dating-Shows, die wie "Rate my Date" ein kleines bisschen Sat.1-iger positioniert sind, weil "die Familie mitreden" darf und die Mama potenzielle Partner:innen für ihren Sohn zwischen "Genau sowas hab ich mir gewünscht" und "Nnnnnein!" einordnen kann, damit am Ende vielleicht irgendwer auf die Seychellen fährt.

Sender der verschenkten Chancen

Auf Jörg Pilawa werden einfach alle im Ausland erfolgreich ausprobierten Quiz-Formate geschmissen, für die man sich die Lizenz hat sichern können. Und, klar: Vor über 20 Jahren hat der Mann mal kurz "Herzblatt" moderiert, weswegen es nahe lag, ihm auch die einmalige Neuauflage unter dem völlig unbekannten Titel "Dating Game" anzuvertrauen. Aber müssten da in Unterföhring am Konferenztisch nicht gleich mehrere Programmverantwortliche aufspringen und merken, dass "Nur die Liebe zählt" die viel, viel stärkere, noch dazu eng mit Sat.1 assoziierte Marke wäre, mit der man den Moderator in die Primetime hätte schicken können?

Sat.1 ist damals wie heute vor allem: ein Sender der verschenkten Chancen. Dem man zweifellos zu Gute halten muss, dass er nie, nie aufgegeben hat, doch noch seinen eigenen Weg zu finden, obwohl Medienkritiker:innen ihn schon zigfach beerdigt haben (ich auch). Aber, wenn die eine Hälfte des Programms nicht mehr funktioniert und die andere nicht mehr refinanziert werden kann, wird die Luft so langsam echt dünne.

Anders formuliert: Ist die Selbstabschaffung überhaupt noch abzuwenden? Aber ja! Die Geschäftsführung muss aus der Positionierung der Wettbewerber bloß die richtigen Schlüsse ziehen.

Sofortmaßnahmen zur Sat.1-Stabilisierung

RTL zum Beispiel lässt sich bei seiner Strategie, verstärkt ältere Zuschauer:innen zu gewinnen, unübersehbar beim ZDF inspirieren, zeigt am "tödlichen Dienst-Tag" erfolgreich Dünen-Krimis und bald schon "Die große GEO-Show", die es Stammseher:innen der "Großen Terra-X-Show" auch dank des aus Mainz geholten Dirk Steffens denkbar einfach machen dürfte, mal bei der Konkurrenz hängen zu bleiben. Und lange kann's eigentlich nicht mehr dauern, bis RTL eine coole Trödelshow auf Schloss Bensberg nachschiebt (vielleicht mit de-Höhner-Frontmann Henning Krautmacher als Chef-Zwirbelbartträger?).

Wieso kopiert Sat.1 im Gegenzug nicht naheliegenderweise – Das Erste?

Mit der (von DWDL.de gemeldeten) kurz vor dem Drehstart befindlichen Daily Soap "Die Landärztin", als die Christine Neubauer vor Jahren schon mal im Ersten unterwegs war, ist man ja schon mal grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Deshalb schlage ich fünf Sofortmaßnahmen zur Stabilisierung des Sat.1-Marktanteils vor.

Erstens: Die Einführung einer neuen werktäglich ab 18.50 Uhr gezeigten Quizshow unter dem Titel "Wer soll das denn wissen?", bei der Jörg Pilawa zwei Teams mit jeweils einem prominenten Rategast und einem Teamkapitän (Wigald Boning und Rea Garvey) kuriose Wissensfragen stellt, bei denen das Studiopublikum helfen und Geld gewinnen kann.

"Will im Turm" und "Spaß beiseite?"

Zweitens: Die Vorbereitung eines neuen monatlich gesendeten Polittalks, der nicht aus irgendeinem Studiokomplex am Rande der Stadt, sondern mitten aus Berlin kommt – und zwar mit einer Moderatorin, die bereits angekündigt hat, dass sie bald "Zeit für Veränderung, andere Projekte, neue Perspektiven" haben wird. Bei Anne "Will im Turm" aus dem Berliner Hotel InterContinental am Zoo!

Drittens: Die Prüfung einer Übernahme der von der ARD-Programmdirektion allenfalls noch geduldeten Daily Soaps "Sturm der Liebe" bzw. "Rote Rosen" zur Modernisierung mit Alexandra Neldel. (Liefe direkt vor "Wer soll das denn wissen?")

Viertens: Die Konzeption einer großen Samstagabendshow namens "Spaß beiseite?", bei der eine verkleidete Ruth Moschner Promis mit versteckter Kamera in die unmöglichsten Situationen bringt und danach bei sich auf dem Studiosofa sitzen hat, um gemeinsam darüber zu lachen.

Fünftens: Vollzug der Boulevardzeitungs-Spekulation, die vom ZDF hauptsächlich als Saisonarbeitskraft eingesetzte Andrea Kiewel im Herbst und Winter mit einer Schlagershow zu verpflichten (z.B. gleich zu Wochenbeginn: "Immer wieder montags"), bei der Ben Zucker, Maite Kelly und Roland Kaiser ihre aktuellen Hits performen.

Tagsüber halt "Baywatch"

Die Refinanzierung besagter Maßnahmen wäre auch schon geklärt, indem tagsüber einfach nonstop Folgen der 1990 in deutscher TV-Premiere vom Ersten etablierten US-Erfolgsserie "Baywatch" laufen. Mit all diesen dem Publikum vertrauten Inhalten und Gesichtern kann eigentlich kaum noch was schiefgehen – und Sat.1 den vorbei gezogenen Wettbewerbern endlich wieder die Rücklichter zeigen, während man gleichzeitig dem aktuellen Sendermotto treu bliebe: "Es gibt noch viel zu sehen!" Hat ja niemand gesagt, dass man sich das nicht anderswo abgucken darf.

Und damit: zurück nach Köln.