Eine kleine Ewigkeit ist es her, dass der SWR mal anders machen wollte als sonst und "jungen Menschen ein alternatives Angebot zur Meinungsbildung bieten": Exklusiv für die ARD Mediathek hatte der Sender im vorvergangenen Sommer zwei Pilotausgaben von "Der Raum mit Eva Schulz" produzieren lassen – eine Mischung aus Gesellschaftsdebatte und Escape-Room-Game, bei der Gäste mit gegensätzlichen Standpunkten zu kontroversen Themen diskutierten und gleichzeitig aufeinander zugehen sollten, indem sie gemeinsame Aufgaben zu erfüllen hatten.
Das war konzeptionell vielleicht noch nicht so durchdacht, wie es zu wünschen gewesen wäre – aber unterhaltsam (siehe Hauptstadtstudio vom September 2021). Und hatte das Potenzial, dem Genre etwas Neues hinzuzufügen.
Nach den ersten beiden Ausgaben wurde vom Sender folglich nie wieder ein Wort darüber verloren. Auf Nachfrage erklärte der SWR ein Jahr später, man arbeite gerade an einer "konzeptionellen Weiterentwicklung". Dann passierte wieder – nichts. Bis Mitte März (mit mehrwöchiger Verspätung) dann doch noch ein Nachfolgeformat in der Mediathek startete, benannt nach dem erfolgreichen Podcast der Moderatorin: "Deutschland3000 – Die Woche mit Eva Schulz".
Jedes Mal ein Stückchen schlauer
"Hier besprechen wir jeden Donnerstag die Themen der Woche mit zwei klugen und meinungsstarken Gästen. Unser Ziel ist, dass ihr nach jeder Sendung ein Stückchen schlauer seid und euch besser 'ne eigene Meinung bilden könnt", begrüßt Schulz jedes Mal ihre Gäste im Studio mit der Blitzbühne. Und leider, muss man hinzufügen, wird dieses Ziel bislang jedes Mal krachend verfehlt.
Denn statt einer Weiterentwicklung von "Der Raum" handelt es sich bei der exklusiv fürs Mediatheken-Publikum produzierten Sendung um einen Rückschritt ins Konventionelle: einen sehr normalen Talk am Tisch, der auch noch haufenweise handwerkliche Fehler macht. Das liegt nicht in erster Linie an Schulz, die gut vorbereitet jede Woche durch das Gespräch mit ihren zwei Gästen lotst. Die gehörten bislang erfreulicherweise nicht zu den üblichen Verdächtigen klassischer TV-Runden, sondern waren vorrangig junge Journalist:innen nicht-traditioneller Medien – bis vor ein Tagen dann Micky Beisenherz endlich mal ein Forum bekam, seine zuvor per Twitter kuratierte Meinung kundzutun, und ein Kollege von der sehr traditionellen "Zeit" unwidersprochen die kuriose These aufstellen konnte, Boulevardjournalismus sei notwendig für den Erhalt der Demokratie, was für ein Unfug.
All zu viele Freundlichkeiten lassen sich über die TV-Variante von "Deutschland3000" kaum sagen. Weil nämlich schon die Grundidee, jedes Mal gleich drei aktuelle Themen der Woche zu besprechen, von denen das letzte immer riesig Spaß machen muss, weil die anderen beiden so kompliziert waren, verlässlich schief geht – vor allem, wenn dafür nur eine mittelgute halbe Stunde Zeit bleibt.
Einigkeit statt Erkenntnisgewinn
Also hetzt Schulz ihre Gesprächspartner:innen durch eine Diskussion übers Waffengesetzt, die Lage in Iran und die Oscar-Verleihung, den Koalitionsstreit, die Reichsbürger-Debatte und den Trainer-Rauswurf beim FC Bayern oder ChatGPT, die Zukunft der Kirche und die Trump-Anklage, und muss immer dann, wenn sich alle einigermaßen warmdiskutiert haben, schon wieder abmoderieren, um zum Schluss noch ein Spontanfazit reinzugrätschen: "Ich halte fest: Dieses Thema wird uns weiter beschäftigen." (Ganz gegen ihre Gewohnheit aus dem hervorragenden "Deutschland3000"-Podcast übrigens, bei dem mehr Zeit ist für eine ausgeruhte Unterhaltung.)
Dass der Mediatheken-Talk nicht auf Konfrontation ausgelegt ist: prima! Dem versprochenen Erkenntnisgewinn hilft es aber so gar nicht, dass sich in den allermeisten Fällen alle in der Runde immer sehr einig sind.
Meist kennen sich die Gäst:innen gerade mal mit einem von drei Themen gut aus, haben zu den anderen aber keinerlei Bezug – oder wie's Michel Abdollahi zur "Im Westen nichts Neues"-Debatte in der Premierensendung ehrlich auf den Punkt brachte: "Film nicht gesehen, Oscars nicht gesehen, ist mir scheißegal."
Viel zu oft driftet die Diskussion deshalb in eine Aneinanderreihung von Privatmeinungen ab: was die Schwester schonmal bei ChatGPT ausprobiert hat, dass es gut ist, wenn sich Menschen im Streik miteinander solidarisieren, dass "Bild"-Redakteure auch "ganz ehrenwerte Leute" sein können, und dass man schon mal im Schießkeller gewesen sein kann, Schusswaffen als Hobby aber trotzdem ablehnen.
Es groovt noch nicht
Das wird leider gerade mit jeder neuen Ausgabe ärgerlicher und rummeinender, und das einzige, was der Redaktion bislang zur Auflockerung eingefallen ist, sind: Schätzspiele (Wieviele Menschen in Deutschland sind Mitglied einer Kirche? Wieviele in einer Gewerkschaft? Wieviele Reichsbürger zählt der Verfassungsschutz? Und wie lange dauert die Reise zum Mars?) bzw. Quizze, bei denen 31 Nato-Länder in 45 Sekunden aufgezählt werden sollen oder ein Ganzkörpersaurieranzug zu gewinnen ist.
Was für eine unoriginelle Zeitverschwendung.
Nichts an "Deutschland 3000 – Die Woche mit Eva Schulz" ist mehr Risiko: es gibt keinen überraschenden Ausbruch aus der konzeptionellen Routine, keinen (noch so naheliegenden) Bruch mit Genre-Konventionen, alles geht weitgehend auf Nummer sicher. Und in der Redaktion merkt nicht mal jemand, dass man den Countdown für die Spiele direkt unters permanent eingeblendete Sendungslogo legt.
In der ersten Folge hatte die Namensgeberin der Sendung angekündigt, sich "erst noch richtig eingrooven" zu wollen und "in den nächsten Wochen (…) einige tolle Experimente" zu bieten, die sich bislang im Einblenden der Insta- bzw. Twitter-Handles der Gäste, Handzeichenumfragen im Studiopublikum und dem Vorlesen aus Schmuckakten erschöpften. Worauf genau wartet die Redaktion jetzt?
Zwischen Kanzel und Buße
Der enttäuschende Schulz-Talk fügt sich in eine Reihe von Experimenten ein, mit denen der SWR dem im deutschen Fernsehen stark durchritualisierten Talk-Genre neue Seiten abgewinnen wollte, um damit ein jüngeres Publikum anzusprechen – und keinen Plan hat, wie das gehen soll. Was auch daran liegt, dass unkonventionelle Ideen, wenn sie nicht sofort zünden, schnell wieder beerdigt werden.
Im vergangenen Jahr liefen im Ersten sechs Ausgaben des als "Comedy-Show" verkleideten Formats "Limbus – Zur Hölle mit Tahnnee", die ihre Zuschauer:innen mit der Ansage begrüßte: "Herzlich willkommen im Limbus, der Vorhölle der deutschen Fernsehunterhaltung. Hier unten widme ich mich den wirklich interessanten Themen des Lebens: den Sünden." Anschließend diskutierte die Komikerin mit ihren Gästen tatsächlich über ebendiese und sang thematisch passende Intros zu Hochmut, Geiz und Neid – "Ich find dich Scheiße" von Tic Tac Toe, "Egoist" von Falco usw.
Um dem Ganzen eine unverwechselbare Optik zu geben, wurden in die Backstein-Rundbögen der Kölner Tanzlocation Bogen 2 animierte Kirchenfenster hineinprojiziert, die auf Orientteppich platzierte Liveband spielte neben einer zur Zwischenpredigt benötigten Kanzel und am Schluss wurden die Gäste zur Spontanbuße gezwungen. Leider driftete "Limbus" in der zweiten Hälfte regelmäßig in alberne Partyspielchen ab. Und Korrekturen waren keine mehr möglich: nach einer Staffel flog das Format aus dem Line-up. Und beim SWR wollte man sich bislang nicht zu einer anderweitigen Fortsetzung durchringen.
Halb zwölf im SWR-Senior:innenfokusprogramm
Dafür ist gerade "Gute Unterhaltung" mit Pierre M. Krause in die zweite Staffel gegangen, von dem im Vorjahr die ersten zehn Ausgaben gezeigt wurden. Jetzt kommen noch mal fünf neue (und im Herbst nochmal fünf) dazu – aber, kein Gag: auf dem neuen Sendeplatz freitags um 23.30 Uhr im SWR-Senior:innenfokusprogramm.
Auch Krause hat in seinem "Comedy-Talk" Gäste sitzen, die sich zu sehr allgemein gehaltenen Oberthemen austauschen: zuletzt u.a. Ulrich Wickert und Lutz van der Horst über "Furcht" bzw. Eko Fresh und Simon Gosejohann über "Feiern", bis am Ende eine buchschreibende Medizinerin oder eine Podcast-moderierende Psychologin dazu stößt, um dem in der Regel sehr heiteren Gespräch etwas Tiefgang zu verleihen. Zwischendrin zeigt Krause angenehm alberne Einspieler, die so auch für das von ihm moderierte Vorläuferformat entstanden wären. In diesem Jahr gibt's erstmals "Überraschungsgäste", von denen der Moderator vorher nichts weiß: Die durchaus originelle Runde mit Cathy Hummels und Torsten Sträter zum Thema "Guter Stil" bekam am Freitag noch ein Gratis-Handschriften-Coaching dazu.
Im Alten E-Werk in Baden Baden, wo die Gäste aus dem blau angeleuchteten Keller nach oben ins Kachelparadies an den hölzernen Talk-Tisch gerufen werden, ist "Gute Unterhaltung" hübsch inszeniert. "Innovativ", wie der SWR verspricht, ist an Krauses heiterem Geplauder aber nichts – es sei denn, man begreift den Ansatz, Gäste unter maximal allgemein gehaltenen Themen zu quasi allem befragen zu können, explizit als Neuerung.
Könnte man Pierre M. Krause nicht stattdessen einfach eine regelmäßige Late Night im Programm geben?
Nicht schlecht, aber auch noch gut genug
Im Schulz'schen Sinne zusammengefasst: Der SWR bemüht sich gleich mehrfach, dem klassischen TV-Talk neue Seiten abzugewinnen – und scheitert daran immer und immer und immer wieder. Weil alles, was explizit aus der Reihe tanzt, schnell wieder abgebügelt wird. "Deutschland 3000", "Gute Unterhaltung" und "Limbus" sind bzw. waren keine schlechten Sendungen; sie sind bzw. waren aber auch nicht gut genug, um dem Genre dauerhaft wirklich etwas Neues hinzuzufügen.
Das ist, vor allem angesichts des großartigen Personals, das dem SWR dafür zur Verfügung steht, wirklich sehr bedauerlich.
Und damit: zurück nach Köln.
Neue Ausgaben von "Deutschland3000 – Die Woche mit Eva Schulz" laufen donnerstags ab ca. 17 Uhr in der ARD Mediathek; der SWR zeigt "Gute Unterhaltung" freitags um 23.30 Uhr und in der ARD Mediathek.