Was war das denn für eine attraktive mitteljunge Frau da am Montagabend gegen 20.14 Uhr im ZDF, die stilvoll gekleidet mit blond gelocktem Haar über der senffarbenen Weste, dezent aufgetragenem Lippenstift und ZDF-Geburtstagslogo-Moderationskärtchen in den gepflegten Händen mit den zur Blusenfarbe passenden Fingernägeln das Publikum zu einem gewohnt spannenden Krimiabend in ihrem Zweiten Deutschen Fernsehen begrüßte?
Gerade einmal 34 Sekunden hatte Birgit Dreggeberg Zeit, um ihren "lieben Zuschauer:innen" einen kurzen Ausblick auf den im Anschluss folgenden Film "Unbestechlich" zu geben – und sie nutzte jede Sekunde davon so hervorragend, dass man sich ein augenblickliches Einsehen in Mainz wünschen musste, die "historische Programmansage" doch nicht nur kurzzeitig zum 60-jährigen Senderbestehen zurückgeholt zu haben – sondern dauerhaft, regelmäßig, für immer und mit Birgit Dreggeberg. Mindestens aber, um Jan Böhmermann Gelegenheit zu geben, auf diese Weise weiter seine weiche weibliche Seite zu pflegen, anstatt immer nur den harten Freitagabendsatiriker im düsteren Anzug.
Acht Minuten für die Anmoderation
Am Sonntag hatte Riccardo Simonetti die "Inga Lidström" erwartenden "Herzkino"-Fans bereits mit der hübschen Formulierung angeduzt: "Jetzt präsentieren wir euch was fürs Herz – nein, dieses Mal keine Medikamente. Das kennt ihr ja schon."
Und eigentlich kann man dem Sender bloß gratulieren: außer natürlich zum Geburtstag auch zur Entscheidung, sich selbst die Gelegenheit zu schenken, mal wieder was anders zu machen als sonst – selbst wenn die vor fast 23 Jahren aus dem Zweiten verschwundene Programmansage, die das Medium ursprünglich zur "Überbrückung des Umschaltvorgangs" bereichert hatte, in der 2023er-Variante natürlich viel, viel, viel weniger Zeit zugemessen bekam als einst. (In webarchivegeretteten Internetartikeln verriet Ex-NDR-Ansager Dénes Törzs, der das Publikum zwischen 1977 und 2004 im Pullover willkommen hieß, er habe einmal acht Minuten Zeit gehabt, um die nachfolgenden Programme vorzubereiten – acht!)
Weil das so hübsch klappte, drängt sich der Wunsch auf, auch anderen Relikten der TV-Vergangenheit eine Wiederkehr zu ermöglichen. Eventuell erleichtert es den Programmdirektionen der Sender die Entscheidung, wenn ihnen schon mal jemand skizziert, was sich das alles sein könnte:
1. Sendeschluss
Einer der größten Makel des modernen Fernsehprogramms ist seine kühle Unendlichkeit, der jegliche Form von Pause fernliegt, in der sich neue Kräfte sammeln ließen, um danach mit gewohnter Inhaltsdichte durchzustarten. Nun sagen Sie zurecht: Wann sollen denn dann die vielen Spielfilm- und Serienwiederholungen laufen, etwa ausschließlich zur Primetime bei ZDFneo? Guter Einwand.
Gleichwohl hat es weiterhin unbestreitbar Charme, wie "Tagesschau"-Sprecher Wilhelm Wieben einst die unumstößliche Tatsache ankündigte: "Meine Damen und Herren, das Programm des Deutschen Fernsehens ist beendet. Es wird 0.39 Uhr, neun Minuten nach halb eins. Hinweise auf das Programm von Sonntag, den 16. September, geben wir Ihnen auf den nachfolgenden Schrifttafeln. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht." Und wer daraufhin wie einst Moses zur Genüge studiert hatte, welche Anweisungen das Medium allen Irdischen auf seinen Tafeln zu verkünden hatte, konnte wirklich beruhigt schlafen gehen, ohne das Gefühl, etwas zu verpassen.
Richtig rockig wurde es freilich erst mit der Einführung des Privatfernsehens: Sat.1 präsentierte seine Programmtafeln zum Sendeschuss in den Anfangsjahren mit Schatteneffekt-unterlegter Schrift und zur jeweiligen Tageszeit passenden Landschaftsbildern. Auch das ist längst passé.
Einzig der Kika knipst für seine Zielgruppe abends, wenn es Zeit wird, sich vom Fernsehen zu verabschieden, noch das Licht aus: Überm Senderlogowürfel wird es düster, die Schnecke in der Ecke schaut ganz schläfrig, zwei Vögelchen geben ein paar letzte Piepser von sich, bevor sie im Nest wegdämmern, und ein Blümchen schaltet sein schummriges Nachtlicht an. Reicht einfach für heute.
2. Hütchenspieler
Werbepause im deutschen Privatfernsehen heißt heute: haufenweise Spots für in unterschiedliche Aggregatzustände gepresste Kinderschokolade anzusehen (bis sie vielleicht verboten wird) und Palina beim Schwenken ihrer zuvor sehr gut einshamponierten Haare anzusehen, bevor die Promo für sendergruppeneigene Videoplattformen, Start-ups mit Sendergruppenbeteiligung und unzählige Programmtrailer die Fortsetzung der unterbrochenen Sendung so lange hinauszögern, bis man endgültig einzunicken gewillt ist.
Dabei gibt es doch erprobtermaßen effizientere Möglichkeiten, das Publikum bei der Strange zu halten: Einst schickte RTL – damals noch: plus – Franco Campana als mit starkem Akzent sprechenden Hütchenspiel-Italiener auf Sendung, damit der in "Pronto Salvatore" mit Marion aus Solingen, Ronny aus Bayreuth oder Kurt aus Düsseldorf telefonisch um ein paar Fuffis zocken konnten, bis alle doppeldeutigen Witze über die dabei zum Einsatz kommenden Nüsse gemacht waren und eine Polizeisirene im Hintergrund andeutete, dass jetzt das reguläre Programm weitergeht, "buona notte".
Campana, der 2017 verstarb, kam immer dann in Aktion, wenn für einen in der Vorschau angekündigten Werbeblock nicht ausreichend Spots gebucht wurden und deshalb Zeit überbrückt werden musste – teilweise drei- bis fünfmal am Tag, wie er in der Jubiläumssendung zum 20. Sendergeburtstag verriet. Und alles daran klingt auch mit 32 Jahren Abstand noch verlockender als zum hundertsten Mal denselben Trailer auf das vermeintliche Programm-Highlight der Woche zu erdulden, also: Pronto, Stephan Schmitter!
3. Nachtgedanken
Rund zweitausend Mal bereitete Hans-Joachim Kulenkampff das Publikum seines damaligen Haussenders zwischen 1985 und 1990 im Anschluss an die Spätnachrichten auf die Bettruhe vor, indem er ihnen von Heinrich Heine inspiriert "Nachtgedanken" mitgab, mit tiefsitzender Brille aus einer Kladde vorgelesen. Einfach, weil es ein sinnvoller Dienst an der TV-Gesellschaft schien, diese eher mit Goethe, Schiller, Kant von den Abscheulichkeiten des Tages abzulenken, bevor der Männerchor 1860 Neustadt-Mußbach unter Mitwirkung eines Bläserensembles vorm Hambacher Schloss die Nationalhymne schmetterte.
"Es gibt unendlich viele Wahrheiten – und daraus folgt weiter, dass es unendlich viele Wahrheiten gibt, die wir niemals wissen können. (…) Unser Weg führt fast immer durch den Irrtum", zitierte Kuli – Brille ab, "Gute Nacht" – einmal Karl Popper. Und wechselte wenig später, wie zum Beleg des Gesagten, zu RTL. Markus Lanz würde sicher nicht widersprechen, wenn man ihm zutraute, zu später Stunde mit salbungsvollem Ton in die Fußstapfen seines Vorgängers zu treten. (Diesmal ganz bestimmt mit Erfolg.)
4. Pausentierwürfel
Lange bevor der Cat Content sich als Grundpfeiler des Internets zu etablieren verstand, schickte der Hessische Rundfunk anno 1975 seine "Pausenkatzen" auf Sendung: einen Wurf ambitioniert agierender Jungtiere, die sich aus den mit HR-Logo ausgestanzten Würfeln einer dreidimensionalen Pyramide gegenseitig antatzten, mit spitzen Öhrchen hinauslugten, übereinander kletterten, einen Blick in den Nachbarwürfel riskierten oder sich elegant aus dem H oder dem R hinauszwängten.
Der 28-minütige Minifilm lief regelmäßig (in unterschiedlicher Länge) als Pausenfüller, wurde zum Kult, begründete den Erfolg der HR-Tiervermittlung "Herrchen gesucht" und schaffte es mit seiner Neuauflage für die "Randzeiten des Programms" schon einmal in eine DWDL-Sonntagskolumne. Die Inspiration weiterer Sender blieb der HR-Erfindung allerdings versagt – obwohl Sie doch sicher auch gerne dabei zusähen, wie sich ein Grüppchen Langschwanz-Chinchillas durch ein riesiges ProSieben-Plexiglas-Bügeleisen schmust oder eine Familie Seeotter durch eine RTL-Zwei-Raute rubbelt. Für mehr Fernsehen mit Fell!
5. Videotext für alle
Weil zu Beginn der 80er Jahre längst nicht alle Fernsehgeräte über die technische Möglichkeit verfügten, den zuvor gestarteten Videotext zu nutzen, zeigten die öffentlich-rechtlichen Sender ausgewählte Tafeln ab 1982 einfach direkt im Programm, erst nachmittags, dann nachts. Fortan informierte der "Videotext für Alle" – "ein Informationsdienst" der ARD-ZDF-Videotextredaktion in D-1000 Berlin 19 – nicht nur "über alle wichtigen Ereignisse in den Krisenregionen", aktuelle Einschaltquoten (0,86 Mio. für "Nachtgedanken" vom 22. Juni 1986), sondern auch die aktuelle Uhrzeit in Samoa, Dakar, Namibia und Bombay, sowie leicht nachzumachende Rezeptempfehlungen ("Ernährungstip") wie "Hühnerbrüstchen auf Spinatcreme" ("1 Pckg. TK-Spinat in 1 l Hühnerbrühe garen"), Kalorienangabe pro Portion inklusive!
Und mal ehrlich: sehr viel schlechter würde Sat.1 nachmittags zwischen 16 und 19 Uhr damit doch auch nicht fahren, bloß dass man sich den ganzen Aufwand für "Volles Haus!" sparen könnte. (Und die Erkenntisse des integrierten "Britt"-Talks ließen sich mühelos auf anderthalb Schrifttafeln zum Nachlesen zusammenfassen.)
6. Fernsteuertroll
Es gab eine Zeit, in der sich Trolle noch besseren Rufs erfreuten als das heute leider der Fall ist, und einer von ihnen entpuppte sich vorübergehend sogar als echter Publikumsliebling, obwohl seine Existenz lediglich virtueller Natur war: Hugo von Kabel Eins (bzw. wie der Sender zum Hugo-Start noch hieß: Kabelkanal).
Der kleine Kesse mit den frechen Sprüchen, der stets von innen an die Mattscheibe klopfte, ließ sich von Zuschauer:innen mit modernem Tastentelefon im Mehrfrequenzwahlverfahren von zuhause durch Hindernisparcours fernsteuern, idealerweise ohne irgendwo reinzustürzen: die 4, 6 und 0 beim Doppeldecker; die 2, 4, 6, 8 und 0 für die Ballonfahrt; die 4, 5 und 3 beim Bergwandern. Aber: "Vertipp dich nicht, sonst landen wir im Abgrund." (Oder wieder bei den wechselnden Moderatorinnen im Studio, die immerzu von einer völlig beschwipst agierenden Kameraführung ins Bild gesetzt wurden – Grüße an Sonja Zietlow!)
Es waren heitere Zeiten, in denen sich fremden Gleichgesinnten dabei zuhören ließ, wie diese ihre Telefone malträtierten, um in Echtzeit Säcke einzusammeln, über Abgründe zu hüpfen und – piep, piiep, piiiep! – anschließend mit dem Verschenkschenk einer bekannten Burgerkette belohnt zu werden. Und wer ein bisschen sucht, der findet auf YouTube Belege dafür, wie 11-jährige Hugo-Fans live auf Sendung die Kompliziertheit damaliger Verhältnisse erklären: "Wir haben das Telefon nicht am Fernseher, sondern im Flur und einer sagt immer die Zahlen an."
1997 trollte der Sender Hugo in die ewigen Jagdgründe, wo er bis heute ruht – obwohl sich jede "Bares für Rares"-Sendung mit demselben Fernsteuerprinzip soviel packender und ansprechender gestalten ließ als es bislang der Fall ist.
Deshalb, liebe TV-Sender: Bringt zurück, was euch groß gemacht hat! Das Publikum wird es euch mit der Verzögerung seines Umschaltvorgangs danken.
Und damit: zurück nach Köln.
Alle Programmansagen der vergangenen ZDF-Geburtstagswoche lassen sich in der Mediathek ansehen.