Jede Zeit hat ihre Schauermärchen, und der immer noch frische ProSiebenSat.1-Chef Bert Habets hat in der zurückliegenden Woche endlich mal wieder eines der beliebtesten erzählt. Beim Mediensymposium der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten (DLM) – also quasi: nicht-öffentlich – setzte Habets zur Verbalumarmung seiner öffentlich-rechtlichen Wettbewerber an, um diesen eine "branchenverbindende Plattform" für Bewegtbildinhalte made in Germany vorzuschlagen, und zwar am besten auf Basis der vor sich hin mäandernden ProSieben-Sat.1-Erfindung Joyn, die sich schon wegen ihres Namens hervorragend für das Verbindende eigne (DWDL.de berichtete).
Der amtierende ARD-Vorsitzende, SWR-Intendant Kai Gniffke, war prompt ganz angetan davon und fand, die Idee hätte "fast" von ihm sein können.
Was natürlich Quatsch ist, weil die Idee schon seit Jahren durch die TV-Branche spukt und immer dann, wenn keiner mehr damit rechnet, plötzlich wieder eine neue Runde durch die argumentative Geisterbahn dreht. Bereits 2018 hatte der damalige ARD-Chef Ulrich Wilhelm dafür geworben, einen Dienst zu schaffen, in dem Inhalte öffentlich-rechtlicher und privater Sender gleichberechtigt nebeneinander stehen könnten. Im vergangenen Jahr brachte erst der WDR-Programmdirektor Jörg Schönenborn, später auch Intendant (und ARD-Interims-Chef) Tom Buhrow eine Zusammenlegung der Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen wieder ins Spiel ("Ich glaube, dass es im Jahr 2030 eine einzige große, öffentlich-rechtliche Mediathek für non-lineare Inhalte geben wird".)
Und Pardon, falls das jetzt irgendwie kleinlich wirkt, aber: Was genau sollen nochmal die Vorteile solcher Zusammenlegungen sein?
Das Publikum ist gewohnt, zu filtern
Auf Seiten derer, die regelmäßig über eine solche Monster-Mediathek fantasieren, gibt es vor allem zwei wiederkehrende Grundannahmen. Erstens: Das von der Dominanz globaler Streaming-Anbieter erschlagene Publikum benötigt eine heimische Alternative zumindest ähnlichen Ausmaßes. Und zweitens: Deutsche Bewegtbildabsender können mit international agierenden Wettbewerbern wie Netflix, YouTube und Facebook nur dann erfolgreich konkurrieren, wenn sie sich zusammenschließen. (Ergänzt durch Habets' gerade vorgebrachtes Bonusargument, so einen "Gegenpol" zur "Flut der Desinformation" im Netz zu bilden.)
Beides lässt sich als wahnsinnig naiv bezeichnen.
Der Streaming-Markt im Jahr 2023 ist längst genauso zersplittert, wie es die Zuschauer:innen vorher schon vom linearen TV-Angebot gewohnt waren. Außer ARD, ZDF, der RTL-Gruppe und ProSiebenSat.1 konkurrieren Amazon Prime Video, Netflix, Disney+, Magenta TV, Wow, Apple+, Discovery+ und seit kurzem auch Paramount+ um Aufmerksamkeit – und Medienbudget – der Nutzer:innen. (Peacock hat sich hierzulande schon wieder verabschiedet.) Das Publikum hat gelernt, sich Angebote herauszufiltern, die seinem Medienkonsum entgegenkommen – so wie sich die Älteren mit der Fernbedienung Sender heraussuchen, von denen sie sich linear unterhalten oder informieren lassen wollen.
Kein konkreter Plan, keine echte Vision
Und mal ganz abgesehen davon, dass es ohnehin nie dazu kommen wird, weil sich das ZDF auch in Zukunft dagegen wehren wird, in einem großen Gesamtangebot die eigene Unsichtbarwerdung zu riskieren bzw. RTL seine Ambitionen mit RTL+ kaum aufgeben dürfte: Glaubt irgendein Sender- oder Konzernchef in Baden-Baden oder München ernsthaft, Menschen würden in Verzückung ausbrechen, augenblicklich ihr Prime-Video-Abo kündigen oder weniger YouTube konsumieren, bloß weil in irgendeinem neuen Gesamtangebot neben "Wer stiehlt mir die Show?" und "Galileo" auch "Verstehen Sie Spaß" und "Traumschiff" zum Abruf bereit stünden?
Gibt es dazu Umfragen, Studien, Beispiele? Oder ist es nicht vielmehr bezeichnend, dass in der ARD, aus der der Vorschlag einer gemeinsamen Mediathek mit den Privaten ja ursprünglich kam, offensichtlich auch nie nur die Grundlage eines konkreter ausformulierten Plans oder auch nur eine Vision desselben erarbeitet wurde, die eine solche Unternehmung leichter imaginieren ließe (und mögliche Stolpersteine vorab identifizieren könnte)?
Im Ausland litten bzw. leiden Streaming-Joint-Ventures immer darunter, dass die beteiligten Konzerne ab einem gewissen Punkt stets Interessen Vorrang einräumten, die die eigene Medienmarke plattformübergreifend stärken sollten. Warum auch nicht? Bei Hulu in den USA will sich der einzige verbliebene Partner Comcast bis 2024 zurückziehen, danach hat Gründungsmitglied Disney endgültig die alleinige Kontrolle. Und der BBC-ITV-Channel-4-Zusammenschluss Britbox funktioniert in erster Linie zur Auslandsvermarktung britischer Bewegtbildinhalte.
Das Problem der Auffindbarkeit
Meinen Habets oder Gniffke wirklich, dass sie das besser hinkriegen würden? Und selbst wenn: Wäre es nicht sinnvoll, diejenigen, die das nutzen sollen, erstmal zu fragen, ob sie das überhaupt haben wollen? Aus Nutzer:innensicht spräche nämlich so einiges dagegen.
Schon heute ist eines der größten Probleme etablierter Streaming-Anbieter, dass sich das zur Auswahl stehende Gesamtangebot kaum sinnvoll sichtbar machen lässt – egal, ob Nutzer:innen dafür zahlen oder zwischendrin Werbung ansehen. Selbst Netflix mit seinen vermeintlich ausgeklügelten Algorithmen zeigt genervten Abonnent:innen immer wieder denselben Quatsch an, den sie schon tausendmal ignoriert oder übersprungen haben, ohne es hinzukriegen, das eine Programmjuwel auszugraben, das wirklich von Interesse könnte.
Das Problem der Auffindbarkeit von Inhalten ist eines, das auch deutsche Sender mit ihren Plattformen haben – und bislang hab ich bei keinem Anbieter eine Lösung gesehen, die geeignet wäre, das zu lösen. Ja, mit einer umfangreichen Kuratierung wäre es möglich, mehr Struktur in die Angebote und auch potenziell relevante Nischeninhalte auf die Startseite zu bringen.
Aber dafür braucht es ein bisschen mehr als per Klick auszuwählen, dass man auf der Startseite der ARD Mediathek gerne die Inhalte seiner Region angezeigt bekommen möchte, um dort dann "Gartenkunst auf der Pfaueninsel", "Der Müggelsee" und "Baustelle Alexanderplatz" eingeblendet zu kriegen.
"GNTM" neben Kritik an "GNTM"?
In einer gemeinsamen Mediathek von ARD, ZDF, ProSiebenSat.1 und RTL würde sich die Unübersichtlichkeit, unter der Streaming-Angbote heute schon leiden, noch einmal potenzieren, weil jedes Programmgenre ein Vielfaches an zur Auswahl stehenden Inhalten abbilden müsste – jedenfalls, wenn man von einer gemeinsamen Startseite nicht einfach in die entsprechenden Sender-Channels verweisen wollte. (Dann könnte man sich den Aufwand nämlich auch gleich sparen.)
Erschwerend dazu kommt die Frage, wie genau die – ohnehin knappen – Plätze, auf denen einzelne Sendungen per Hervorhebung empfohlen werden, zwischen den Partnern aufgeteilt würden; stünde die neue Folge von "Germany's Next Topmodel" dort dann gleichberechtigt neben der aktuellen "Germany's Next Topmodel"-Kritik von "extra3", Funk oder "Walulis Daily"? Und "Temptation Island" direkt neben der "Tagesschau"? Schwer vorstellbar.
Den allergrößten Horror allerdings empfinde ich bei dem Gedanken, dass sich vier große Sendergruppen, von denen sich die meisten schon jetzt schwer damit tun, ein in sich stimmiges Streaming-Gesamtangebot zu bewerkstelligen, plötzlich regelmäßig einig sein müssten, wie ein gemeinsames Angebot auszusehen und zu funktionieren hat.
Ein ganz und gar desolates Bild
Zur Erinnerung: Die ARD Mediathek ist immer noch eine Ansammlung an Bildkachelgewittern, bei denen Talkshowschnipsel neben Küchentipps unter Sport-Dokus vor aktuellen Fernsehfilmen stehen und alle paar Scrolls ein neues Unter- oder Zwischenmenü ins Angebotsnirwana führt, dem sich nach Jahren gerade die letzte abtrünnige Landesrundfunkanstalt fügen will.
Auch anderthalb Jahre nach seiner Umbenennung macht es sich das RTL-Streaming-Angebot RTL+ im Netz immer noch unter der Ursprungsadresse tvnow.de gemütlich.
Und Joyn, bei dem sich ProSiebenSat.1 erst im vergangenen Jahr in die Alleineigentümerschaft flüchtete, nachdem Gründungspartner Discovery sich dazu entschloss, doch wieder eigene Wege zu gehen, gibt auch vier Jahre nach dem Start in mehrfacher Hinsicht ein desolates Bild ab. "Originals", die Nutzer:innen auf die Plattform locken könnten, wollte man sich bislang nur in sehr überschaubarer Form leisten. (Das gerade gestartete "Intimate" gehört zu den wenigen Ausnahmen.) Von der ursprünglichen Losung – jeden Monat "ein Highlight auf der Plattform" – ist nichts geblieben. Nach dem Abschied von Katja Hofem vor zwei Jahren hat sich die neue Geschäftsführung offensichtlich ein Schweigegelübde auferlegt, das es ihr verbietet, die eigene Strategie zu kommunizieren. Die "Joyn Community" ist randvoll mit Beschwerden über technologische Mängel. Und in Unterföhring mag man ja sogar recht mit der Annahme haben, dass deutsche Haushalte nicht unendlich viele Streaminganbieter bezahlen wollen, weswegen werbefinanzierte Modelle in Zukunft eine große Rolle spielen – was dem ProSiebenSat.1-Vermarkter Seven.One für die Vision vom Ad-Supported Video on Demand (AVoD) in die Hände spielt.
Zahlende Kund:in? Nicht mehr lange
Aber ich kenne sonst keinen Bewegtbilddienst, der jeden Tag so hartnäckig daran arbeitet, seine trotzdem zahlbereitschafte Kundschaft loszuwerden, wie Joyn (okay, gelogen: Wow! ist dem mindestens ebenbürtig).
Abonnent:innen nicht monatlich, sondern gleich ein ganzes Jahr an sich zu binden, scheint Joyn unvorstellbar – Jahresabo geht nicht, gibt's nicht. (Anders als bei RTL+.) Regelmäßig muss jemand aus dem Service-Team aufgebrachten Nutzer:innen erklären, wann und warum sie trotz Bezahl-Abo "Joyn Plus+" – das wirklich so dumm heißt: Plus+! – manchmal Werbung sehen, nämlich: bei "Premium"-Serien und -Filmen nicht, bei Inhalten aus dem Joyn-Free-Angebot "aufgrund unserer Lizenzen" aber schon, auch bei Plus-Plus, "allerdings deutlich weniger" – und "ganz einfach" erkennbar am Plus+-Logo in der Vorschaukachel, aber Obacht!: "Es kann auch vorkommen, dass nur einzelne Folgen oder Staffeln innerhalb einer Serie als PLUS+ Inhalte gekennzeichnet sind."
Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie viel toller das alles bei Joyn noch würde, wenn demnächst die erfahrenen Techniker:innen der ARD-Mediathek ein Wörtchen mitzureden hätten.
Die Fachabteilung kümmert sich schon
Und das muss ich ja auch gar nicht: Als ich neulich den Joyn-Kund:innenservice (steht nicht auf der Website, ist aber per E-Mail erreichbar: info@joyn.de) aus Freundlichkeit darauf hinwies, dass sie den in Rechnung gestellten Betrag für mein Abo bitte auch von meiner korrekt hinterlegten Kreditkarte einziehen müssten, meldete sich Daniel von "Dein Joyn Team" umgehend mit der Nachricht, er habe die zuständige Fachabteilung informiert, "damit wir dein Anliegen sachgerecht bearbeiten können". Nur wenige Stunden darauf erkannte Melanie dort das Problem ("Account nicht ordnungsgemäß aktiviert" wegen einer "technischen Herausforderung") – und fand auch prompt eine Lösung: die sofortige automatisierte Kündigung. Tschüssi, Kunde. "PS: Warst du zufrieden? Über dein Feedback freuen wir uns."
Mein Feedback an deutsche Senderchefs und -chefinnen lautet deshalb: Erspart uns künftig eure Horrorszenarien einer gemeinsamen Monster-Mediathek, die keines der Probleme lösen würde, das eure Nutzer:innen heute schon mit euren Individualangeboten haben, sondern bloß neue schaffen. Verbessert eure Plattformen so, dass man Lust darauf hat, sie zu nutzen. Vor allem aber: Spart euch die Schauermärchen, von denen haben wir inzwischen genug gehört.
Und damit: zurück nach Köln.