Es ist irre: Minderjährige schießen einen Ball durch eine berstende Glasscheibe und machen sich anschließend aus dem Staub; sie fahren sicherheitsunbegurtet Kettenkarussell, schlecken vor Zusatzstoffen leuchtendes Softeis, schubsen sich gegenseitig im Freibad und klettern über Bauzäune an Orte der Unbefugnis.
Man muss sich bloß mal kurz vorstellen, was los wäre, wenn morgen eine Kindersendung mit einem solchen Vorspann im öffentlich-rechtlichen Fernsehen starten würde! Die einen ließen Twitter augenblicklich überlaufen mit Entsetzensbekundungen angesichts dieser Propagierung von Sachbeschädigung und unsozialem Verhalten; die anderen würden automatisch in die Planung einer "Welt"-Sonderausgabe zur Wokeness-Abwehr einsteigen und gleichzeitig die Forderung nach sofortiger Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks untermauern, weil der falsche Bilder einer typisch deutschen Kindheit propagiere.
Glücklicherweise muss derzeit nichts davon befürchtet werden, zumal ein solcher Zwist die Feierlichkeiten zum 50. Geburtstag einer der langlebigsten Sendungen des (nicht nur) deutschen Fernsehens vermutlich empfindlich stören würden: der "Sesamstraße".
Sie wissen schon: Hätt' ich dich heut' erwartet, hätt' ich Kuchen da, der Quietsche-Entchen – nur mit dir, Mahna mahna / Ba dee bedebe, Dort ist nicht Hier, und: He, du! Willst du ein O kaufen?
Genauso zottelig wie die US-Kumpel
Am 8. Januar 1973 – gut drei Jahre nach dem Start in den USA – lief die erste Folge der eigens für Kinder im Vorschulalter produzierten TV-Wundertüte aus Erklärfilmen, Puppen-Sketchen und Animations-Unterhaltung erstmals im deutschen Fernsehen, also: für alle Zuschauer:innen außer die im Sendegebiet des Bayerischen Rundfunks, der in der braun-grau-grünen Kulisse einer New Yorker Seitenstraße "die soziale Situation in Deutschland in der Sendung nicht korrekt dargestellt sah" (Wikipedia).
Und, wer weiß, vielleicht störte man sich in München auch an den unrealistischen Körperformen von Ernie und Bert, Grobi, Bibo, Kermit und dem Krümelmonster. Wobei, als fünf Jahre später erstmals eine explizit deutsche Version mit eigenen Figuren und Vorspännen (wie oben beschrieben) auf Sendung ging, die ja auch nicht viel BR-adäquater aussahen. Sondern glücklicherweise: genauso schön zottelig wie ihre US-Kumpel.
Feinheiten des Alltags mit Witz und Gesang
Bereits damals zeichnete sich eine Qualität ab, um die das gesamte deutsche Fernsehen die inzwischen ein halbes Jahrhundert alte "Sesamstraße" ganz unbedingt beneiden muss: Keine andere Fernsehsendung hat so gut demonstriert, wie sehr es darauf ankommt, im Hier und Jetzt verankert zu sein, um zu funktionieren. Weil sich ja nur so den regelmäßig neu hinzu kommenden (und später wieder verschwindenden) jungen Zuschauer:innen die Welt altersgemäß erklären bzw. besingen lässt, in der sie gerade leben. Und sie bestärkt: Du kannst was, du bist stark, probier was Neues aus.
Von Anfang an (und mehr noch im amerikanischen Original) hatte die "Sesamstraße" die Mission, die Feinheiten des Alltags mit Witz und Gesang auseinander zu dröseln: von der Besonderheit einzelner Zahlen und Buchstaben bis zur Erklärung einfacher physikalischer Phänomene und gesellschaftlicher Gepflogenheiten. Und das ist ihr oft so gut gelungen, dass sich die allermeisten Erwachsenen später überwiegend positiv an diese Seherfahrung erinnern.
Von Tiffy & Horst zu Elmo & Julia
Je nachdem, welche Generation man fragt, unterscheidet sich diese Erinnerung in vielen Dingen jedoch fundamental – weil sich die "Sesamstraße" von Jahrzehnt zu Jahrzehnt immer wieder selbst erneuert hat. Für die einen besteht die Sendung aus Lilo, Horst, Tiffy, Samson, Herrn Bödefeld & Co. in ihrer offenen Küche; für andere die mit Dirk und Annette; und für die jüngeren die mit Elmo und Julia, Wolle und Pferd. In der Bastian Pastewka und Martina Hill vorbeikommen, um Worte wie "peinlich" und "tolpatschig" zu erklären, Lena Meyer-Landrut "Der, die, das – wer, wie was" singt und Steffen Henssler beim Spaghetti-Kochen den Unterschied zwischen Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch erläutert, bevor er sich von Grobi belehren lassen muss, was ein Koch den ganzen Tag so macht. (Malbücher kaufen.)
Und während früher selbstverständlich Softeis im Vorspann geschleckt wurde, steht in der Geburtstagsfolge, wenn Ernie den lieben Bert zur Vorbereitung seiner eigenen Überraschungsparty einspannt, ganz selbstverständlich Bio-Mehl auf dem Küchentisch.
Die allermeisten Prominenten, die heute als Gäste beim "Straßenfest für Kleine und Große" (Elmo) vorbeischauen, verknüpfen eigene Erinnerungen mit dem Format. Und die kleine Zeitreise durch die Jahrzehnte, die der NDR der "Sesamstraße" netterweise zum 50. Geburtstag schenkt, demonstriert auch dank der dazu geladeneren Promi-Paare ganz anschaulich, wie unterschiedlich die ausfallen. Ähnlich nämlich wie die Alltagssituationen der Zielgruppe, die in der Sendung immer wieder gezeigt werden.
Eingerahmt von Krümelfellbalken
Dass das Format zu einem großen Teil von ebenso liebenswerten wie zeitlosen Charakteren – Ernie und Bert, Grobi, Kermit und anderen – getragen wird, widerspricht all dem überhaupt nicht. Im Gegenteil: Völlig egal, welches Jahr wir gerade schreiben, es ist immer witzig, wenn Ernie, damit Bert beim Einschlafen den tropfenden Wasserhahn nicht hören muss, das Radio anmacht, und um das Radio nicht mehr zu hören, den Staubsauger, bevor Bert entnervt selbst alles abstellt – und dann neben dem selig schnarchenden Kumpel trotzdem keine Ruhe findet. Kein Wunder, dass Sketch-Klassiker aus vergangenen Jahrzehnten in der Sendung auch heute noch ganz hervorragend funktionieren, für Eltern als kleine Reminiszenz ans 4:3-Zeitalter links und rechts von kuscheligen Krümelfellbalken eingerahmt.
Genau diese Mischung aus Zeitlosigkeit und Gegenwartsbewusstsein macht den Reiz der Sendung aus und dürfte überhaupt erst dazu geführt haben, dass sie sich bis heute so unverrückbar in unser Bewegtbildgedächtnis eingebrannt hat.
Per Sondersendung mit angebissenem Keks im Logo berichten an diesem Wochenende auch die "Tagesthemen" über die Vorbereitung des Geburtstags, die beinahe auszufallen scheint, weil sich die Null aus der 50 aus dem Staub gemacht hat – und Carmen Miosga ihre liebe Mühe hat, zwischen der Schalte zu ihrem Außenreporter Wolle und dem die "Meinung"-Rubrik füllenden Krümelmonster den Überblick zu behalten, während sie ständig mit "Judith Rakers", "Sandra Maischberger" und "Frau Zamperoni" verwechselt wird. Was der eigentlichen Zielgruppe herzlich egal sein dürfte, und als kleines Geschenk an die mitguckenden Eltern arg bemüht wirkt. Aber, ach, was soll's.
Immer ein Produkt der jeweiligen Zeit
Die große Kunst der "Sesamstraße" ist es, sich und ihren Grundwerten auch nach 2.931 Folgen treu geblieben zu sein – und trotzdem stets mit der Zeit zu gehen.
Was wiederum wie eine Ermahnung an das Medium und dessen aktuellen Zustand gesehen werden muss, bei dem alles darauf abzielt, sich in rosigere, aber längst vergangene Fernsehzeiten zurückzusehnen und manches wiederaufzuführen, was leider nicht ganz so zeitlos ist, wie es die Sender gerne hätten. Der stetige Wandel der "Sesamstraße" ist ein ganz hervorragender Beleg dafür, dass Fernsehen immer auch Produkt seiner jeweiligen Zeit sein muss – und eben keine Nostalgie-Maschine, mit der es sich in die Vergangenheit zurückflüchten lässt.
Wie das genau funktioniert, muss leider immer wieder aufs Neue herausgefunden werden. Aber Sie wissen ja: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Happy Birthday, "Sesamstraße"!
Und damit: zurück nach Köln.
Das Erste zeigt die Zeitreise "Tausend tolle Sachen!" mit den besten Momenten aus 50 Jahren "Sesamstraße" an diesem Sonntag von 7.30 Uhr bis 10 Uhr, vorher außerdem die "Tagesthemen"-Sondersendung. Die eigentliche Jubiläumsfolge sendet der KiKA um 17.25 Uhr. Alle Sendungen sind in der ARD Mediathek abrufbar.